Athen auf dem Weg zu Weimarer Verhältnissen

Albrecht Ritschl im Gespräch mit Katrin Heise · 14.06.2011
Die Situation in Griechenland sei ähnlich wie die in Deutschland 1931 kurz vor der großen Bankenkrise, sagt der Wirtschaftshistoriker Albrecht Ritschl. Er empfiehlt, nicht stur auf der Bedienung der Kredite zu bestehen, wenn damit schwache staatliche Strukturen weiter destabilisiert würden.
Katrin Heise: Griechenland kann die Krise nicht allein bewältigen – eine Hiobsbotschaft jagt die nächste. Die EU-Finanzminister suchen heute nach Lösungen, und das auch nicht zum ersten Mal. Sicher ist: Bekommt Griechenland Ende Juni kein neues Geld, kann der Staat seine Bediensteten schon im Juli nicht mehr bezahlen. Ein Staatsbankrott scheint realistisch. Mit dieser Drohung hat die Regierung in Griechenland ja bereits drastische Sparmaßnahmen beschlossen. Es werden ganz sicherlich weitere folgen, und deshalb gehen Tausende auf die Straße, für morgen ist ein Generalstreik angekündigt. Ob sich gesellschaftliche Umbrüche, Radikalisierungen wie in Deutschland zu Weimarer Zeiten anbahnen, das ist ein Szenario, welches so mancher für möglich hält. Wirtschaftlich ist es längst wie zu Weimarer Zeiten, meint Albrecht Ritschl, er ist Professor für Wirtschaftsgeschichte an der London School of Economics and Political Science. Schönen guten Tag, Herr Ritschl!

Albrecht Ritschl: Schönen guten Morgen aus London!

Heise: Lassen Sie uns doch mal die Situation der Deutschen nach dem Schwarzen Freitag 1929 und die Situation der Griechen 2011 betrachten: Was ähnelt sich denn da tatsächlich?

Ritschl: Ja, wir sind in einer Situation jetzt, die ganz ähnlich ausschaut wie in Deutschland im Jahr 1931, kurz vor der großen Bankenkrise. Es ist nicht allgemein bekannt, dass Deutschland in der Weltwirtschaftskrise ebenfalls eine auswärtige Schuldenkrise durchlaufen hat, gar nicht unähnlich wie diejenige Griechenlands, bloß viel schlimmer. Deswegen viel schlimmer, weil Griechenland ja im Vergleich zur Weltwirtschaft eine kleine Volkswirtschaft ist, und Deutschland war damals die Viertgrößte. Und Deutschland ist mehr oder weniger vollständig in Schuldenausfall gegangen mit dramatischen finanziellen und eben auch politischen und sozialen Folgen.

Heise: Die Deutschen hatten sich verschuldet nach dem Ersten Weltkrieg angesichts der zu leistenden Reparationszahlungen auch, und sie hatten sich mit amerikanischen Krediten über Wasser gehalten. Diese Kredite wurden aber nach dem Crash '29 eben, ja ich glaube, sofort fällig, oder? Was bedeutete das, was hatte das für Konsequenzen?

Ritschl: Nein, fällig wurde es nicht, aber es war im Grunde genommen strukturell ähnlich wie jetzt. Die New Yorker Banken, die hinter diesen Krediten standen, wussten ganz genau, dass es Schwierigkeiten mit der Zahlungsfähigkeit geben könnte. Und man hat erstmal stillgehalten und versucht, sich von einer Umschuldung zur nächsten zu schleppen. Also gar nicht so unähnlich wie die jetzige Situation. Und als die Wirtschaftskrise sich allgemein und auch in Deutschland verschlimmert hat, ist man dann in Deutschland eben zu ganz drastischen Einschnitten und Sparmaßnahmen übergegangen. "Brünings Notverordnungen" sind manchen noch ein Begriff. Das ist eine ganz ähnliche Politik wie das, was jetzt Papandreou in Griechenland zu tun hat, und ist äußerst kontrovers gewesen in der späteren Forschung, ob das nicht einfach kontraproduktiv gewesen ist oder ob es was geholfen hat. Alle diese Fragen stellen sich jetzt auch wieder.

Heise: Versuchen wir mal von außen auf Deutschland damals zu gucken, was hat denn das Ausland gemacht? Also, ich hatte die amerikanischen Kredite angesprochen ...

Ritschl: Ja, es ist eben so, dass man auch hier eine weitere Parallele sehen kann. Es gab verschiedene Gruppen von Auslandsgläubigern – das waren also die amerikanischen Banken, es waren auch die Reparationsgläubiger, die in sich wieder gespalten waren –, und diese verschiedenen Gruppen hatte unterschiedliche Interessen. Und die unterschiedlichen Interessen dieser Gruppen auszubügeln, hat im Grunde bis zum Schluss nicht richtig funktioniert. Und auch das ist wieder so eine Parallele zum griechischen Fall, wo man sieht, dass es schwierig ist, die Gläubigerinteressen unter einen Hut zu bringen, und das zu weiteren Verzögerungen bei dem Anlaufen einer Rettungs- oder Umschuldungsaktion führt.

Heise: Momentan wird ja darüber diskutiert, können die Griechen überhaupt ihre Schulden zurückzahlen. Das war damals sicherlich genau so ein Thema, wie ist man da verfahren?

Ritschl: Das ist natürlich das große Thema damals gewesen und ist ein – würde ich fast sagen – im Moment weniger kontroverses Thema, weil die Zahlen im Falle Griechenlands mittlerweile so eindeutig sind, dass man sich hier nun keine Illusionen mehr zu machen braucht. Wer heute noch auf die Straße geht oder vor die Presse tritt und sagt, die Griechen könnten ihre Schulden im Prinzip zurückzahlen, der betreibt Illusionspolitik, anders kann man das nicht sagen.

Heise: Schildern Sie uns mal die Situation damals, was bedeutete es tatsächlich, dass so feste Rückzahlungsraten vereinbart waren, die die Deutschen ja überhaupt gar nicht einhalten konnten?

Ritschl: Na ja, das ist ja, wie es oft so ist bei diesen Schuldenverträgen. Solange man diese Verträge bei schönem Wetter abschließt, sehen die alle gar nicht unrealistisch aus. Und so ist es wohl damals auch gewesen. Im Jahr 1929, bevor die Weltwirtschaftskrise losbrach, konnte man durchaus argumentieren, dass Deutschland diese Zahlungen leisten konnte. Im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung waren die deutschen Schuldenzahlen nicht so dramatisch wie diejenigen Griechenlands. Wenn es also mit der Konjunktur weiter gut gelaufen wäre, dann hätte das durchaus bezahlt werden können. Nur gab es dann eben die Schwierigkeit, als die Zahlungsfähigkeit immer weiter im Zweifel stand, genau die Frage: Schießt man neues Geld nach, lässt man es zu, dass Deutschland zahlungsunfähig wird, geht das in eine unkontrollierte Zahlungseinstellung, oder findet man in letzter Sekunde doch noch irgendeine Modalität, um das einigermaßen abzubremsen? Man hat es dann gefunden, das war das Hoover-Moratorium vom Juni 1931, das jährt sich jetzt dann gerade wieder. Aber wie gesagt: Im Grunde genommen war es dann im besonderen Angesicht der innenpolitischen Probleme, die das in Deutschland aufgeworfen hat, schon zu spät.

Heise: Im "Radiofeuilleton" suchen wir nach Parallelen zwischen der Weimarer Zeit und der griechischen Situation heute. Auskunft gibt der Wirtschaftshistoriker Albrecht Ritschl. Was, Herr Ritschl, beinhaltete denn das Hoover Moratorium?

Ritschl: Es ging um die Frage, wie man relativ zueinander Reparationen und kommerzielle Auslandsschulden stillt. Im Wesentlichen wurde erst mal eine Zahlungseinstellung, befristet für ein Jahr, vereinbart, und dann das, was jetzt auch wieder in Rede steht, was ganz typisch ist bei solchen Schuldenkrisen insgesamt, die Umschuldung kurzfristiger Schulden im Sinne einer Fristerstreckung auf ein Jahr. Man hat eigentlich ganz ähnlich wie heute versucht, erst mal auf Zeit zu spielen, in der Hoffnung, vielleicht läuft es ja in einem Jahr wieder besser und die Geldquellen sprudeln wieder, sodass wir uns um eine Abschlusslösung noch ein bisschen herumdrücken können.

Heise: Jetzt, sagen Sie, sind natürlich, diese gesellschaftliche Situation ist damals aus dem Ruder gelaufen. Es ist dann dazu nicht mehr gekommen, dass eine Erholung tatsächlich hat stattfinden können. Hätte es denn klappen können?

Ritschl: Na ja, das ist ja eine ganz schwierige Frage, denn die Erholung hat eingesetzt. Die wirtschaftlichen Indikatoren sind ab Sommer 1932 wieder aufwärts gerichtet gewesen und die bittere Ironie der ganzen Geschichte ist, dass der Wiederaufschwung 1932 eingesetzt hat und nicht 1933. Ich selber gehöre zu den Leuten, die durch die Gegend laufen und sagen, dass der Wiederaufschwung der 30er-Jahre viel weniger mit den Nazis zu tun hat und ihrer angeblich so guten Beschäftigung, als vielmehr genau mit der Abwicklung des Schuldenproblems in den Jahren 31 und 32. Ob man das Gleiche für Griechenland auch wieder erwarten könnte, dass eine saubere oder irgendwie geordnete Abwicklung der Schulden zu einem schnellen Wiederaufschwung führt, das hinge dann von der Ausgestaltung im Einzelnen ab. Aber ausgeschlossen ist es nicht.

Heise: Befürchten Sie bei den Griechen eine Radikalisierung der Bevölkerung?

Ritschl: Griechenland ist ein Land mit schwachen Institutionen. Wenn man sich die tragische Geschichte dieses Landes anschaut ... Wir wissen gar nicht, wo wir anfangen sollen. Vielleicht am sinnvollsten mit der deutschen Besetzung im Zweiten Weltkrieg, weil das ein Thema ist, was in der griechischen Öffentlichkeit – haben wir ja gesehen, mit den Hakenkreuzen auf den Europafahnen und der Kanzlerin in SS-Uniform und so schönen Dingen –, das spielt in der griechischen Diskussion noch eine große Rolle. Nach dem Rauswurf der Deutschen und dem Ende des Weltkriegs gab es erst mal einen Bürgerkrieg, danach eine brutale Militärdiktatur. Also, es ist ein Land, das eine ganz starke Zerrissenheit zwischen Rechtsextrem und Linksextrem kennengelernt hat, eine relativ schwach entwickelte Bürgergesellschaft hat dann entsprechend auch schwache staatliche Institutionen. Darum zum Beispiel funktioniert die Steuereintreibung nicht richtig. Diese Instabilität ist selber wieder ein Grund dafür, dass man der Versuchung erlegen ist, Stabilität zu erzeugen durch Kapitalimporte. Genau das Gleiche, was die schwache Weimarer Republik ebenfalls getan hat, und woran sie nachher gescheitert ist.

Heise: Das heißt, welche Lehren sollten aus dem historischen Beispiel gezogen werden?

Ritschl: Wir müssen zuerst mal realistisch sein, wir sollten uns nicht verhalten wie - ich hätte jetzt beinahe gesagt - Frankreich 1931. Nämlich stur auf der Bedienung unserer Kredite bestehen, wenn das dazu führt, dass ohnehin schwache staatliche Strukturen weiter destabilisiert werden. Es wird eine griechische Umschuldung geben müssen. Das Beste, was man machen kann, ist, dass man sich freitags in irgendein Tagungszentrum zurückzieht mit allen Beteiligten, die Presse aussperrt und montagmorgens um sieben vor die Presse tritt und sagt: Das ist unser Paket. Und das muss ganz schnell gemacht werden. Es ist viel zu viel Zeit verloren gegangen. Man muss jetzt schon daran denken, wie man die griechischen Institutionen und das griechische Staatsschiffchen nach einer solchen Umschuldung stabilisieren kann, da hilft es auch nichts, dass man dauernd über den Austritt aus dem Euro spricht. Das ist im Grunde eine nachgelagerte Fragestellung.

Heise: Also diese sanfte Umschuldung von Herrn Schäuble reicht dann nicht aus?

Ritschl: Sanft sollte sie sein in der Methode, sie wird nicht sanft sein können im Sinne der Ausfallquote. Nach den gegenwärtigen Renditen zu rechnen, ist hier also mit hohen zweistelligen Ausfallquoten zu rechnen. Es wird also wahrscheinlich Zeit werden, dass man der Bevölkerung darüber die Wahrheit sagt.

Heise: Der deutschen Bevölkerung oder der europäischen?

Ritschl: Der deutschen Bevölkerung und den anderen. Ich glaube, in Frankreich ist der Lernprozess ebenso quälend.

Heise: Ein lähmender, ein quälender Lernprozess steht uns bevor, uns allen, nicht nur den Griechen. Vielen Dank, Albrecht Ritschl, Wirtschaftshistoriker an der London School of Economics and Political Science. Vielen Dank, Herr Ritschl, für dieses Gespräch!

Ritschl: Bitte schön, schönen Tag noch!

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