Atelierbesuch bei einem großen Romancier

Rezensiert von Jörg Plath · 29.11.2005
"Der Vorhang" von Milan Kundera ist nach "Kunst des Romans" und "Verratene Vermächtnisse" die dritte Selbstauskunft des Autors über theoretische Fragen des Romans. Es ist eine Sammlung von Beobachtungen, Gedanken und Anekdoten, eine Art Atelierbesuch bei einem großen Romankünstler.
Milan Kundera weiß natürlich, wie prekär sein Vorgehen ist. Ein Romanschriftsteller, der über die Kunst des Romans spricht, scheint ein Defizit wettmachen zu wollen. Sagen seine Bücher nicht alles? Muss er zur Krücke des Kommentars greifen? Sollte er nicht lieber bessere Romane schreiben, statt zu theoretisieren? Nein, sagt Milan Kundera in seinem neuen Buch "Der Vorhang" über die Kunst des Romans.

Ein Romancier, der über die Kunst der Romans spreche, sei ja kein Professor. Man müsse sich ihn wie einen Maler vorstellen, "der Sie in sein Atelier einlädt (...). Er wird von sich selbst sprechen, doch mehr noch von den anderen, von ihren Romanen, die er liebt und die in seinem eigenen Werk unterschwellig präsent sind. Er wird die ganze Vergangenheit der Geschichte des Romans vor ihnen neu gestalten und Ihnen eine Ahnung von seiner eigenen Poetik des Romans vermitteln, die nur ihm gehört und daher natürlich in Gegensatz zur Poetik anderer Schriftsteller steht."

In Kunderas Atelier stehen alte Meister wie Cervantes’ "Don Quijote", Fieldings "Tom Jones", Rabelais’ "Gargantua und Pantagruel" und Sternes "Tristram Shandy" herum. Auch Werke von Dostojewski, Kafka, Gabriel Garcia Marquez, Carlos Fuentes und Alejo Carpentier sind vertreten, und Musils "Mann ohne Eigenschaften" und Brochs "Schlafwandler"-Trilogie werden dafür gelobt, dass sie den ironischen und "denkenden Roman" etabliert haben – jene Gattung also, aus der der nach dem blutigen Ende des Prager Frühlings aus der Tschechoslowakei nach Frankreich ausgereiste Verfasser von "Der Vorhang" selbst einige schöne Beispiele vorgelegt hat.

Ein Werkstattbesuch also? Nein, Kundera präsentiert keine halbfertigen Bücher, er spricht von den Vorgängern und was sie auszeichnet. Dass die Suche nach dem Niegesagten die Kunst des Romans zur Geschichte der Kunst des Romans werden lässt. Dass jeder neue Roman die vorhandenen Interpretationen hinter sich lassen, "den Vorhang der Vorinterpretation" zerreißen und eine "neue Kunst" präsentieren muss. Dass die zerstörerische Geste Kennzeichen des Romans sei. Dass dieser seit dem "Don Quijote" das einzige Medium sei, das in einer spezialisierten Gesellschaft das menschliche Leben als Ganzes überblicken könne.

All das ist nicht unbedingt neu. Aber "Der Vorhang" ist ja auch keine Theorie des Romans, sondern nach "Kunst des Romans" (1987) und "Verratene Vermächtnisse" (1994) die inzwischen dritte Selbstauskunft eines Romanciers: eine Sammlung von Beobachtungen, Gedanken und Apercus zur Weltliteratur.

In den nicht weniger als 74 kurzen Abschnitten mit Titeln wie "In die Seele der Dinge gehen" oder "Lang ist die Lektüre, kurz ist das Leben" finden sich viele, präzise Beobachtungen, oft mit amüsanten und entlegenen Zitaten belegt, und ziemlich donnernde Sätze:

""Der Mann ohne Eigenschaften" ist eine unvergleichliche Enzyklopädie der Existenz seines ganzen Jahrhunderts."

Oder auch wunderbare Anekdoten wie die von dem tschechischen Dichter Josef Kainar, der sich gegen politische Bevormundung mit einer Geschichte wehrt: Ein Junge führt seine blinde Großmutter in der Stadt spazieren und lässt sie von Zeit zu Zeit über eine nicht vorhandene Wurzel hüpfen. Den Tadel von Vorübergehenden wehrt er ab:

"Das ist meine Großmutter! Ich behandle sie, wie ich will!"

Lesen wir doch noch mal nach, wie Kundera seine Großmutter bisher behandelt hat.


Milan Kundera: Der Vorhang
Aus dem Französischen von Uli Aumüller
Carl Hanser Verlag. München 2005.
224 S., 19,90 Euro.