"Asylproblematik in Europa muss neu diskutiert werden"

Ulrich Herbert im Gespräch mit Frank Meyer · 10.09.2013
Die EU-Länder müssten sich darauf einigen, eine europäische Politik gegenüber den Syrien-Flüchtlingen zu entwickeln, fordert Zeithistoriker Ulrich Herbert. Der derzeitige Zustand sei unhaltbar, doch diese Frage habe "ein politisches, innenpolitisches Sprengpotenzial".
Frank Meyer: Zwei Millionen Menschen sind schon aus Syrien geflohen, mehr als 700.000 alleine ins Nachbarland Libanon. Deutschland wird 5000 Flüchtlinge aus dem Bürgerkriegsland aufnehmen, das ist relativ viel im Vergleich zu den meisten anderen EU-Ländern, mit einer Ausnahme, Schweden nimmt sehr viel mehr Flüchtlinge aus Syrien auf und gibt ihnen ein unbegrenztes Bleiberecht.

Der Historiker Ulrich Herbert von der Universität Freiburg hat sich mit der Geschichte der deutschen Einwanderungspolitik auseinandergesetzt.

Er ist jetzt in Freiburg für uns im Studio, seien Sie willkommen, Herr Herbert!

Ulrich Herbert: Guten Tag!

Meyer: Wie sehen Sie, dass Deutschland 5000 Flüchtlinge aus Syrien aufnimmt, ist das angemessen, sollten wir mehr tun?

"Eine lächerlich kleine Zahl"
Herbert: Erst mal ist es richtig, dass die Bundesregierung hier im europäischen Konzert zusammen mit den Schweden vorangeht, andere Länder haben sich dazu nicht bereiterklärt, da ist ein sinnvoller Schritt. Angesichts der Zahlen der Flüchtlinge aus Syrien ist es natürlich eine lächerlich kleine Zahl, das muss man wirklich sagen. Und ich hoffe darauf, dass die europäischen Länder im EU-Verbund sich darauf einigen können, eine europäische Politik gegenüber den Syrien-Flüchtlingen zu entwickeln, denn alleine mit den eher symbolischen 5000 in die Bundesrepublik ist ja nicht viel geholfen.

Meyer: Jetzt ist ja auch das Problem, Deutschland fliegt diese Flüchtlinge ja praktisch aus. Aber es gibt ja eben Hunderttausende, die an den Grenzen stehen und nicht weiterkommen. Was würden Sie da vorschlagen, sollte man da so etwas wie Korridore schaffen für diese Flüchtlinge?

Herbert: Nein, das Problem besteht ja darin, wir haben jetzt zwei Millionen Flüchtlinge aus Syrien, überwiegend in Libanon, in anderen anliegenden Ländern. Viele andere versuchen aber schon seit mehreren Jahren, in andere Länder, in die USA oder in die europäischen Länder zu kommen, und in die Bundesrepublik und in andere europäische Länder geht das über den Asylweg. Und hier ist auch bei Syrern die Zahl derer, die anerkannt werden als politische Flüchtlinge, so gering wie bei anderen Gruppen auch, nämlich bei unter zwei Prozent.

Das Problem, das wir jetzt bekommen, ist, dass wir diese 5000 Flüchtlinge sehr prominent und privilegiert gewissermaßen mit dem Flugzeug hierherbringen, während Menschen aus der gleichen Stadt, vielleicht aus der gleichen Straße über den Asylweg gehen und hier in Asylbewerberheime kommen und wie jetzt gerade in Berlin dort dem Volkszorn ausgesetzt sind. Es sind aber die gleichen Menschen. Der Begriff Flüchtling oder Asylbewerber wird in der internationalen Gemeinschaft identisch gebraucht, sodass wir häufig in der Öffentlichkeit den Eindruck haben, es handele sich bei diesen 5000 Syrern um eine ganz besondere Gruppe, aber das ist sie eben nicht.

Meyer: Man hat ja damals beim Asylkompromiss 1993 versucht, dieses Problem auch zu lösen und zu sagen, es gibt den Asylbewerberweg und wir machen einen eigenen Status für Kriegsflüchtlinge. Hat das jetzt in der Praxis nicht funktioniert, würden Sie das so sagen?

Herbert: Nein, es ist ja eine sinnvolle Entscheidung gewesen, dass man sagt, für besonders akute Probleme, die nur vorübergehend sind, da wählen wir diesen Weg der Kriegsflüchtlinge, die lassen wir eine kurze Zeit hier und dann gehen sie wieder zurück.

So war das etwa bei den Flüchtlingen aus Bosnien-Herzegowina Anfang der 90er-Jahre, da ist eine ganze Zahl von ihnen, mehrere Zehntausend, nach Deutschland gekommen und als die Konflikte zu Ende waren, sind sie auch wieder zurückgegangen. Aber nicht alle. Und von denen, die damals über den Kriegsflüchtlingsweg gekommen sind, haben nicht wenige auch einen Asylantrag gestellt, auch deswegen, weil sie mehrere Jahre hier waren und sich hier relativ schnell integriert haben.

Das heißt, der Weg, eine Gruppe zu privilegieren dadurch, dass man sagt, da ist jetzt Krieg, die dürfen hier für eine gewisse Zeit rein, müssen dann wieder zurück, scheint mir richtig zu sein, aber er trennt natürlich die Menschen nicht deutlich von jenen, wo schon lange Bürgerkrieg ist, wie zum Beispiel aus Afghanistan.

In Afghanistan, das ist nach wie vor neben Syrien das Land mit den meisten Flüchtlingen, ich glaube, 2012 waren es mehr als zweieinhalb Millionen, die gehen in die europäischen Länder auf dem normalen Asylweg, das heißt, sie kommen gar nicht hier rein, die werden dann an den europäischen Außengrenzen abgefangen, in Griechenland oder eben in Lampedusa, wie wir das häufig im Fernsehen sehen. Die Problematik besteht eben darin, dass wir relativ willkürlich entscheiden, was ist nun ein Krieg, ein Bürgerkrieg, und was ist es nicht.

Meyer: Und was würden Sie da vorschlagen, wie sollte man dieses Problem auflösen?

"46 Millionen Flüchtlingen weltweit"
Herbert: Wie gesagt, ich habe genauso wenig einen Vorschlag wie unsere Politiker, weil das Problem ist nicht dadurch lösbar, dass man einen starken Willen hat. Richtig ist, glaube ich, zu sagen, dass es eine europäische Vereinbarung geben muss, dass die Kriegsflüchtlinge aus Syrien für eine gewisse Zeit in allen europäischen Ländern aufgenommen werden müssen.

Aber die Grundproblematik, dass es in der Welt Millionen von Flüchtlingen gibt - ich glaube, der Flüchtlingskommissar spricht derzeit von 46 Millionen Flüchtlingen weltweit -, wird dadurch nicht gelöst. Das ist für die 5000, die das Glück haben, hier aufgenommen zu werden, nicht so wichtig, aber für das Flüchtlingsproblem insgesamt schon.

Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir reden mit dem Zeithistoriker Ulrich Herbert über die deutsche Einwanderungspolitik. Sie haben ja gerade darüber gesprochen, über diesen Status von Kriegsflüchtlingen, wo man davon ausgeht, man holt sie her, um ihnen erst mal Sicherheit zu bieten, geht aber davon aus, dass die meisten von ihnen relativ bald zurückgehen.

Schweden macht das jetzt anders, was die Flüchtlinge aus Syrien angeht. Sie sagen, wer zu uns kommt, bekommt eine permanente Aufenthaltsgenehmigung. Was halten Sie da jetzt von diesem schwedischen Sonderweg?

Herbert: Zunächst mal ist das eine richtige Entscheidung, dass Asylbewerber auch eine Perspektive bekommen, insbesondere dann, wenn die Verhältnisse in ihrem Land auf lange Zeit irreparabel schlecht sind. Davon muss man wohl in Syrien ausgehen, dass das noch sehr lange dauert, ähnlich wie in Afghanistan, bis dort wieder normale Verhältnisse bestehen. Schweden ist sonst nicht ein Land, das sich durch besonders hohe Aufnahmequoten ausgezeichnet hat. Hier wird aufgrund der aktuellen Problematik ein Sonderweg gegangen.

"Denken Sie nur an Kongo ..."
Das ist auf der einen Seite richtig, auf der anderen Seite muss man sehen, dass auch ein Problem darin besteht, dass diejenige Flüchtlingsgruppe, die gerade in der Presse eine besonders große Rolle spielt - wie in diesen Tagen natürlich täglich, stündlich Syrien -, dass die für eine kurze Zeit durch diese Aufmerksamkeit eine privilegierte Sondersituation bekommen, während andere Bürgerkriege, die nicht weniger schrecklich sind, denken Sie nur an Kongo ... Die Hunderttausenden von Flüchtlingen aus Kongo leben sicherlich in noch viel schwierigeren oder mindestens genauso schwierigen Verhältnissen, haben aber derzeit nicht diese Aufmerksamkeit.

Und deswegen ist es nicht falsch, mehr Flüchtlinge aus Syrien aufzunehmen, nur es besteht dadurch die Problematik, dass die anderen aus den nicht weniger schwierigen Ländern in den Hintergrund gedrängt werden. Und diese Problematik ist in gewisser Weise nicht auflösbar.

Meyer: Aber was dann tun? Wie könnte man sich im Blick denn, weil Sie das gerade ansprechen, diese anderen Konflikte, die vergessenen Konflikte, wie könnte man sich da, müsste man sich da politisch verantwortlich verhalten?

Herbert: Es gibt ja seit Langem von verschiedenen Seiten innerhalb der Bundesrepublik, auch in Europa die Forderung, dass die bisherige Asylpolitik verändert werden muss, dass die de facto Null-Aufnahme, die derzeit durch das Schengener Abkommen besteht, dazu führt, dass das politische Recht, das Grundrecht auf Asyl in Deutschland und in anderen europäischen Ländern praktisch aufgehoben worden ist durch diesen Asylkompromiss.

Bei Zulassungsquoten von 1,8 oder 1,9 Prozent muss man das, glaube ich, so sagen. Das ist auf die Dauer ein unhaltbarer Zustand. Richtig ist natürlich auch, dass die Problematik der Flüchtlinge nicht oder nicht in erster Linie durch erhöhte Zugangsquoten gelöst werden kann, sondern nur vor Ort. Aber das dauert natürlich sehr lange. Aber der Glaube, sozusagen etwa ein aktuelles Problem symbolisch zu lösen, indem man 5000 Leute hierherholt, dass sich dadurch etwas ändert, das ist falsch.

Aber die Asylproblematik in Europa muss neu diskutiert werden. Ich glaube, dass der derzeitige Zustand unhaltbar ist, obwohl natürlich jeder weiß, was für ein politisches, innenpolitisches Sprengpotenzial in dieser Frage steht.

Meyer: Das wollte ich auch gerade ansprechen, denn wir sehen ja gerade in den letzten Wochen, dass es immer wieder Proteste gibt gegen neu eingerichtete Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland. Da sieht man doch, dass Probleme mit Deutschland als Einwanderungsland nicht nur die Politiker haben, sondern auch Teile der Bevölkerung!

"Die Politik hat eine erhebliche Verantwortung"
Herbert: Das ist zweifellos so, das ist auch gar nicht wegzudiskutieren. Insbesondere, wenn man auf die kommunale Ebene geht und nicht nur das von Berlin aus betrachtet, sieht man, dass eben auch die Kommunen Probleme damit haben, weil sie entsprechende Häuser zur Verfügung stellen müssen und dann Nachbarn sich darüber beschweren, dass sie das nicht haben wollen.

Man muss aber auch sehen, das sehen wir in den 90er-Jahren, als es diese schrecklichen Übergriffe in den frühen 90er-Jahren, diese schrecklichen Übergriffe auf Asylbewerberheime und Wohnungen von Türken und anderen Ausländern gegeben hat, dass das nicht nur eine Bewegung von unten war, sondern dass es auch, um den eben erwähnten Asylkompromiss herbeizuführen, eine starke Kampagne gegen das Asylrecht vonseiten der Politik gegeben hat. Und hier wurde gewissermaßen vorgedacht und auch vorgesagt, dass die Zustände unhaltbar seien und unbedingt geändert werden müssten.

Hier hat also auch die Politik und die Öffentlichkeit eine erhebliche Verantwortung, wie sie darauf reagieren. Und wenn man natürlich sofort sagt, sozusagen, diese und jene Asylbewerber seien gar keine Bewerber, sondern sie seien aus wirtschaftlichen Gründen da, hingegen meine ganz besonders privilegierte Gruppe, die ich jetzt nenne, diesmal die Syrer, in den 90er-Jahren die Menschen aus Bosnien-Herzegowina, die seien etwas ganz anderes, das ist einfach falsch!

Meyer: Morgen wird die erste größere Gruppe von syrischen Flüchtlingen nach Deutschland kommen, die ersten von 5000, die hierher einreisen dürfen. Über die deutsche Asylpolitik haben wir gesprochen mit dem Zeithistoriker Ulrich Herbert, ich danke Ihnen für das Gespräch!

Herbert: Ich danke auch!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema