Asexualität als Lebensform

"Was habt ihr nur mit dem Sex?"

Rund ein Prozent der Menschen interessiert sich kaum für Sex.
Rund ein Prozent der Menschen interessiert sich kaum für Sex. © picture alliance / dpa / Rolf Kremming
Von Tim Wiese · 12.01.2017
Sex? Nein Danke! Rund ein Prozent der Menschen empfinden kein Verlangen danach und sind damit sehr zufrieden. Asexualität nennt sich das Phänomen. Autor Tim Wiese beleuchtet wissenschaftliche Ansätze dazu und die Arbeit von Aktivisten. Sie kämpfen gegen das Vorurteil, Asexualität sei eine Störung.
"Ich gehöre endlich wozu. Also ich kann endlich definieren, was ich fühle. Vorher war das so ... Keine Ahnung ... Also es gibt Menschen, die ich sehr schön finde, aber wenn die jetzt nackt neben mir liegen würden ... Ich würde denen eine Jogginghose und einen Tee anbieten und nicht unbedingt über sie herfallen."
Michelle, 24 Jahre alt. Ihre Pubertät und ihre Jugend erlebte sie als sehr verwirrend. Mehr noch als andere. Plötzlich verstand sie ihre Freunde nicht mehr.
Michelle: "Ich habe es halt nicht nachvollziehen können, warum jetzt alle Sex haben wollten. Und ich war nur so: 'Ja okay' ... Vielleicht kommt das ja noch. Ich kannte damals den Begriff Asexualität noch nicht und es war ziemlich befreiend, als ich es dann erkannt hatte."
Asexualität. Seit der Jahrtausendwende taucht der Begriff zunehmend auf. Wissenschaftler beginnen, sich dafür zu interessieren. 2001 gründet ein junger Mann in den USA eine Internetplattform. AVEN nennt David Jay seine Seite: Asexual Visibility and Education Network. Hier sollen sich Menschen austauschen und auf sich aufmerksam machen, die ähnlich empfinden wie er.
Erich: "Also sexuelle Beziehungen habe ich nie gesucht. Das habe ich auch nie verstanden. Ich sehe nicht, wenn man mit mir flirtet. Ich sehe nicht, wenn man mich anmacht. Ich fühle das nicht. Ich denke, die Leute sind nett zu mir und rede dann mit denen."
Kati: "Vor allen Dingen, wenn sie durch die Blume vermitteln, dass sie Sex haben wollen mit einem. Also ich sehe die ganze Zeit nur die Blumen. Also ich sehe die ganze Zeit nur irgendwelche wundervollen Geschichten, die sie erzählen, aber nicht den Punkt, den sie ausdrücken wollen, denn der kommt bei mir nicht so richtig an."
Erich: "Mir war das immer völlig fremd. Natürlich, in der Pubertät geht immer alles um Sex, um küssen und 'Guck mal die hat dies und das'. Ich hatte diesen Trieb nicht."
Michelle: "Auch wenn mir andere von ihrem Sex erzählen. Okay, da wird jetzt ein bisschen rumgerieben und dann hast du einen Orgasmus. Ich kapiere einfach nicht, warum der menschliche Körper so funktioniert. Ich finde Sex wirklich etwas wahnsinnig Faszinierendes, aber er erschließt sich mir einfach nicht."

Asexualität als Gegenreaktion?

Ich möchte mich der Asexualität annähern, weil sie für mich schwer nachvollziehbar ist. Für mich gehört Sex zum Leben dazu. Wie ist es, wenn er keine große oder überhaupt keine Rolle spielt? Ist Asexualität vielleicht eine Gegenreaktion auf eine sexualisierte Gesellschaft oder bezeichnet sie nur eine sexuelle Orientierung, für die es vorher noch keinen Namen gab?
Was wird damit genau beschrieben? Kann ich das als sexueller Mensch überhaupt nachempfinden?
Ich bin mit Kati Radloff verabredet. Sie unterrichtet Englisch und Informatik an einer Berliner Schule.
Die 38-Jährige ist für Schülerinnen und Schüler sowie ihr Kollegium offizielle Ansprechpartnerin in Fragen sexueller Vielfalt. Regelmäßig veranstaltet die Lehrerin zum Beispiel eine Coming-Out-Sprechstunde. Als Asexuelle hat sie selber erlebt, wie wichtig Beistand bei der Selbstfindung sein kann.
Radloff: "Ich wusste einfach nicht, was ich machen soll. Die ganze Zeit, während alle meine Freunde Beziehungen aufbauen, Kinder kriegen, heiraten, ihr ganzes Leben mit ihrer Sexualität gestalten, während für mich das offensichtlich alles wegfällt, denn alles davon hängt am Sex. Soll ich mein ganzes Leben lang warten und dann einsam sterben, bloß weil ich niemanden finde, der genauso ist wie ich?"
Als Kati Radloff auf die amerikanische AVEN-Seite stößt, ist das wie eine Offenbarung für sie.
Radloff: "Da waren offensichtlich ganz viele Leute, die sich als asexuell bezeichnet haben und die darüber geredet haben, was das für sie bedeutet, wie sie ihr Leben gestaltet haben, wie sie sich sozusagen im Verhältnis zu ihrer Sexualität sehen. Und das fand ich ziemlich faszinierend und deshalb habe ich das Onlineforum auf deutscher Seite aufgemacht. Wir sind auch immer beim Christopher Street Day regelmäßig und wir haben 15.000 Mitglieder im deutschsprachigen Forum und das ist ein lebhaftes Diskutieren dann da."

Verzicht auf Sex - ganz ohne Leidensdruck

Asexualität bezeichnet das Fehlen eines Verlangens nach sexueller Interaktion beziehungsweise einen Mangel an sexueller Anziehung, ohne dass ein Leidensdruck durch diesen Umstand besteht. So lautet die Definition auf der deutschen AVEN-Seite, der die meisten Forumnutzer zustimmen.
Jückstock: "Einige finden sich da wieder und sagen: 'So ist das. So fühlen wir uns wohl und wir wollen uns deswegen nicht rechtfertigen müssen oder wir möchten deswegen nicht krank gemacht werden, nur weil wir eine andere Ausprägung an sexuellem Verlangen haben als andere Menschen'."
Vivian Jückstock, Diplom-Psychologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf.
Jückstock: "Also wenn jemand sagt, ich habe kein Interesse an Sexualität und mir geht es prima damit, dann denke ich, gibt es da auch keinen Beratungsbedarf. Es gibt Störungen mit Krankheitswert, die sich auch auf den Verlust oder den Mangel von sexuellem Verlangen beziehen. Die sind aber sehr eindeutig definiert und nicht zu verwechseln mit dem Begriff der Asexualität, so wie die Menschen, die sich so bezeichnen, den selber auch verstehen und verwenden."
Im diagnostischen Leitfaden psychischer Störungen wird aber erst seit 2014 zwischen Asexualität und Luststörungen differenziert. Viele Asexuelle mussten schon die Erfahrung machen, dass Ihnen eine Therapie nahegelegt wird.
Michelle: "Es wird halt behauptet, Asexualität ist eine Krankheit und ich habe mich tatsächlich vor Jahren, ich glaube ich war 18, von einer Frauenärztin untersuchen lassen, weil ich dachte, da muss jetzt irgendetwas kommen und es kam halt nichts. Und da hat sich halt herausgestellt, alle meine Hormonwerte, Blutwerte sind normal. Wenn man bedenkt, dass die Definition einer Krankheit ist, dass es eine körperliche Veränderung gibt und der Betroffene darunter leidet, trifft diese Definition nicht auf mich zu. Folglich ist meine Asexualität keine Krankheit."
Wiese: "Kennen Sie eigentlich so etwas wie sexuelles Verlangen?"
Michelle: "Also ich habe schon so etwas wie eine Libido, aber Hinziehung zu einem gewissen Geschlecht fehlt dabei bei mir. Aber die Libido ist schon da. Aber es gibt auch Asexuelle ohne Libido. Also es ist ein Spektrum."
Jückstock: "Eigentlich wie überall in der Sexualität, dass es eher als ein Kontinuum zu begreifen ist, was sich über die Lebensspanne auch verändern kann. Nicht bei jedem fängt es so an und bleibt dann für den Rest seines Lebens auf einem bestimmten Level. Also da sind durchaus Veränderungen möglich. Da gibt es tatsächlich ein relativ breites Kontinuum an Ausprägungen."
Ein Pärchen hält sich an den Händen, von hinten fotografiert.
Für viele Asexuelle gilt: Bindung ja, Sex nein. © picture alliance / dpa

Bindungen ohne sexuelle Begierde

Bei meiner Recherche lerne ich zum Beispiel, dass Asexualität nicht unweigerlich bedeutet, Partnerschaften auszuschließen. Manche Asexuelle fühlen sich zum anderen Geschlecht hingezogen, andere zum selben. Es gibt ARomantiker ohne Bindungswunsch und Romantiker mit Beziehungen. Kati Radloff zum Beispiel.
Radloff: "Also man kann sich natürlich verlieben. Emotionale Anziehung, romantische. Ich finde auch Leute sehr attraktiv. Ich mag auch, wie sie Dinge manchmal anpacken. Also wie ihre Persönlichkeit ist, manchmal auch einfach wie ihre Augen funkeln. Oder was sie begeistert oder so etwas eben in die Richtung. Und wenn man sich überlegt, ist es ja letztlich nicht nur der Sex, der einen an dem anderen Menschen fasziniert, sondern man kann auch fasziniert sein, ohne dass man jemals Sex mit jemanden haben wird und genau diese Faszination habe ich auch."
Mit ihrem Freund ist die Lehrerin seit sechs Jahren zusammen. Dabei ist es für das Paar kein Problem, dass er sexuelle Bedürfnisse hat.
Radloff: "Wir haben einfach Wege gefunden, die sehr gut funktionieren zwischen uns beiden, die sehr erotisch sind, die aber auf der anderen Seite nicht von mir verlangen, dass ich sozusagen klassisch konventionellen Sex haben muss. Und das funktioniert extrem gut für uns beide."
Wiese: "Gibt es einen Kinderwunsch eigentlich auch?"
Radloff: "Also ich habe einen starken Kinderwunsch, allerdings mein Freund nicht. Wobei ich auch noch gar nicht genau wüsste, wie der Weg genau wäre. Also im Moment stelle ich mir die Bechermethode ganz toll vor, aber ich könnte mir auch Sex allein für die Kinderzeugung ganz gut vorstellen. Ich meine, es würde meine Identität nicht widersprechen."
Jückstock: "Also sie sehen an diesem kleinen Ausschnitt alleine die ganze Vielfalt. Deswegen ist es so wichtig, mit den Menschen zu sprechen, wie ist es denn genau? Wie sieht die Sexualität aus, welche Formen von Sexualität gibt es und sind die zufriedenstellend. Sei es, dass Sexualität in konkreten Handlungen keine Rolle spielt, aber in Gedanken oder wie auch immer."

Asexualität - lange als Störung betrachtet

Warum Asexualität lange als Störung gesehen wurde, lag auch am Blick der Wissenschaft auf das Thema. Die Kulturwissenschaftlerin Talke Flörcken beschäftigt sich in ihrer Promotionsarbeit an der Humboldt Universität Berlin mit der Forschung zur Asexualität. Dabei hat sie festgestellt, dass von Sexualität lange als Norm ausgegangen wurde.
Flörcken: "Also ein gesunder Mensch ist sexuell oder Sexualität wurde hier auch als natürlicher Instinkt verstanden. Und wenig und keine sexuelle Lust konnte dann lange Zeit in der Medizin oder in der Sexualwissenschaft und auch in der Psychiatrie nur als Defekt verstanden werden. Asexualität, so wie sie heute verstanden wird, war da gar nicht denkbar."
Talke Flörcken untersucht, wie sich Asexualität in ihrer Vielfalt wissenschaftlich beschreiben lässt. Dabei zeigt sich, dass sich auch einige Forscher damit schwer tun, das Phänomen zu fassen.
Flörcken: "Was ich halt gerade sehe, sind verschiedene oder auch konträre oder widersprüchliche wissenschaftliche Ansätze und die Frage, die sich mir dann stellt, warum das wie bewertet wird, wenn etwas schwer zu fassen ist. Also dass man zum Beispiel glaubt, dass es am besten eine klare eindeutige und richtige Antwort geben muss, also Asexualität ist xyz Punkt. Oder ob man ein Wissenschaftsverständnis hat, wo es auch möglich ist, dass Asexualität komplex, uneindeutig und plural sein kann."
Aktuell zeichnen sich zwei Ansätze in der Forschung ab. Zum einem wird Asexualität als Gegenteil von Sexualität gesehen, zum anderen wird sie als vierte sexuelle Orientierung beschrieben. Neben Heterosexualität, Homosexualität und Bisexualität. Dabei wird davon ausgegangen, dass eine asexuelle Person kein Verlangen nach sexueller Interaktion mit anderen hat.
Der 55-jährige Erich wohnt zusammen mit seiner besten Freundin und ihren beiden Kindern in einer Doppelhaushälfte.
Erich: "Das ist meine chosen Family. Wenn man sich nicht selber fortpflanzen will, muss man sich jemanden suchen, der Kinder hat."
Vor zehn Jahren ist Erich bei der Familie eingezogen. Damals war die Beziehung seiner besten Freundin in die Brüche gegangen. Seitdem unterstützt er sie und kümmert sich mit um die Kinder. Mein Blick fällt auf ein altes Foto, das an einer Pinnwand hängt.
Erich: "Das ist genau 20 Jahre her."
Das Bild zeigt Erich bei einem Auftritt auf einer Kleinkunstbühne mit Tutu und Krönchen. Die Aufnahme ist einen Tag vor Silvester 1995 entstanden. Für Erich ein besonderes Datum.
Erich: "Und dann wurde ich das letzte Mal berührt an diesem Silvester. Und dann habe ich gesagt, ich habe keinen Bock mehr darauf, lasst mich in Ruhe. So."
Erich trennt sich von seinem Freund nach sechs Jahren Beziehung. Sein Freund konnte nur schwer verstehen, warum Sexualität in ihrer Partnerschaft so gut wie gar nicht vorkam.
Erich: "Natürlich spielte das für ihn schon eine Rolle und es tat mir auch immer leid. Mich hat das halt nicht so interessiert. Ich habe auch immer gesagt, wenn du Sex haben willst mit anderen, tu das und wenn du dich verliebt, dann sagst du mir das, dann kann ich mich schützen. Aber die Sexualität, da wäre ich nicht eifersüchtig gewesen. Das hat er aber nicht getan und das hat sich dann so ein bisschen angestaut bei ihm und irgendwann brach sich das dann doch Bahn und dann mussten wir uns doch trennen."
Seitdem hat Erich weder eine Beziehung noch Sex gehabt.
Erich: "Die Wichtigkeit von Sexualität hat sich mir nie erschlossen. Mittlerweile fragt mich gar keiner mehr, weil das können die gar nicht aushalten. Die Aussage: 'Ich hatte seit 20 Jahren keinen Sex', dann kriegen die gleich einen Pflaumensturz und müssen irgendwo hinrennen und Sex haben, weil die sich für mich schon nicht vorstellen können, dass das ohne Sex geht. Aber das Näherkommen sowohl körperlich, als auch mental, seelisch, das interessiert mich nur auf beruflicher Ebene."
Wiese: "Das ist ja auch das Interessante. Man könnte ja auch das Vorurteil haben, Sie haben mit Berührungen ein Problem. Aber Sie sind Physiotherapeut, da hat man keine Angst vor Berührung."
Erich: "Ja, das wäre schlecht. Ich sage auch oft, diese sinnlich, beseelte Berührung in meiner Behandlung ist für mich viel wichtiger als Sex. Ich erkläre das auch nicht mehr, wenn man nicht fragt: 'Willst du denn nicht mal oder fehlt dir nichts?' Ich bin total d'accord damit, habe auch nicht den Gedanken, ich bin verrückt oder gestört oder was weiß ich. Ich bin auch nicht hässlich, das heißt, ich könnte welche kriegen, will aber nicht."
Wie entsteht überhaupt Sexualität und Lust? In der Sexualwissenschaft geht man von einem bio-psychosozialen Entwicklungsmodell aus.
Jückstock: "Wenn wir im biologischen Bereich sind, natürlich hat Sexualität viel mit Hormonen zu tun. Im psychologischen Bereich spielen frühe Beziehungserfahrungen eine relativ wichtige Rolle für die spätere Sexualität und im sozialen Rahmen natürlich alles, was gesellschaftlich geprägt ist oder auch die spezielle Gesellschaft, in der ich mich dann bewege zum Beispiel."
Schulkinder spielen in Berlin auf dem Schulhof der Paul-Klee-Grundschule.
Wo liegen die Ursachen für Asexualität? Wissenschaftler glauben, die Kindheit könnte eine wichtige Rolle spielen.© picture alliance / dpa / Robert Schlesinger

Lustvolles entdecken, Spannungen abbauen

Den Ursprung von Asexualität verortet Vivian Jückstock ähnlich, wobei sie dem psychologischen Faktor eine besondere Bedeutung beimisst. Mögliche Wurzeln könnten in frühster Kindheit liegen, wo wir lernen, Spannung zu regulieren. Es sei nämlich entscheidend, wie viel Raum schon Babys eingeräumt wird, Lustvolles zu entdecken. Ein Prozess, der mit der Erkundung der Umwelt beginnt.
Jückstock: "Da spielt es sich sozusagen ein mit der Pflegeperson. Wie hoch kommen Spannungszustände aus dem Kind selber heraus und wie geht die Pflegeperson damit um. Also reguliert sie die sehr schnell runter und sagt, Spannung ist gar nicht gut, ich möchte eigentlich ein in Anführungsstrichen 'braves, ruhiges' Kind haben, das möglichst wenig rumtollt, juchzt und schreit und seine ganze Lebensfreude entdeckt. Dann wird dieses Kind eine andere Erfahrung haben, als ein Kind, was von sich aus relativ ruhig ist und häufig gelockt wird, wo die Mutter sagt: 'Guck mal, dies gibt es noch und das gibt es noch' und es in die Luft wirft und wieder auffängt und solche Geschichten."
Später in der Sexualität geht es dann auch genau um dieses Wechselspiel. Zwischen Entspannung, Spannung und Erregung. Damit Lust entsteht, muss sich Spannung aufbauen können. Ein Flirt funktioniert zum Beispiel nur dann, wenn er aufregend ist. Viviane Jückstock geht daher davon aus, dass sich in der Spannungsregulation ein Schlüssel zum Verständnis von Asexualität finden lassen könnte.
In der Wissenschaft werden verschiedene Gründe diskutiert. Dabei werden auch mögliche Traumata in Betracht gezogen. Kati Radloff ermüdet die Ursachenforschung.
Radloff: "Wurde ich vielleicht missbraucht, haben meine Eltern mich vielleicht zu rigide oder zu freizügig erzogen, bin ich vielleicht verkappt lesbisch, habe ich vielleicht irgendwelche negativen Erfahrungen mit Beziehungen gemacht, habe ich vielleicht ein Hormonproblem? Alles, alles an Möglichkeiten, die einem ja auch sonst als Asexueller von der Außenwelt immer wieder beigebracht werden, habe ich mich schon drei-, vier-, fünfmal gefragt und mich immer wieder im Kreis gedreht und niemals gefunden, dass es das ist. Irgendwann dachte ich, das ist keins von dem allem, es muss so etwas wie Asexualität geben, es gibt sonst keine Erklärung dafür."
Etwa ein Prozent der Menschen sind wahrscheinlich asexuell. Zu diesem Ergebnis kommt der amerikanische Sexualwissenschaftler Anthony Bogaert, der eine große englische Studie aus den 90er-Jahren neu ausgewertet hat. Damals waren 18.000 Menschen zu ihren Sexualgewohnheiten befragt worden. Einige von ihnen gaben an, dass sie sich noch nie von jemandem sexuell angezogen gefühlt haben.
Damit wäre aber noch nicht berücksichtigt, dass man auch nur eine Zeit lang asexuell empfinden kann. Sexualität unterliegt individuellen Schwankungen. Grundsätzlich eröffnen sich für Anthony Bogaert durch die wissenschaftliche Beschäftigung mit Asexualität interessante Perspektiven, wie er in einem Interview mit dem Portal "The Academic Minute" erklärt hat:
"Durch Asexuelle wird infrage gestellt, was es bedeutet, ein sexuelles Problem zu haben. Gerade wenn sie völlig zufrieden mit sich sind. Wenn man einen asexuellen Blick einnimmt, zeigt sich, wie stark unsere Weltsicht und unsere Kultur durch Sex geprägt sind. Von der Allgegenwart von Nacktheit in der Kunst bis hin zum neusten Sexskandal in der Politik. Die asexuelle Perspektive offenbart auch die eigenartige Komplexität von Sex mit seinen sonderbaren Praktiken, der damit verbundenen Eifersucht. Sex kann außerdem unsere Wirklichkeit verzerren."
Erich: "Also ich spiele Ihnen jetzt mal ein Lied vor, das habe ich aufgenommen, das war mein erstes Soloprogramm."
"Heute Abend gehe ich aus zum Ficken.
Gerede ist mir völlig schnurz.
Jeden, der es will, werde ich beglücken,
keiner kommt bei mir zu kurz.
Alleine, nein das bleibt ja lange keiner.
Große Liebe? Ach, keine Spur!"
Wiese: "Hört sich an wie der Ausdruck Ihres Unverständnisses. Dass Sie über das Sexualverhalten der anderen, den Stellenwert von Sex in der Gesellschaft irritiert sind."
Erich: "Ganz genau, ich fand das damals schon völlig hysterisch. Alles geht auf Sex und Schönheit, wir müssen möglichst viril sein und viele Sexualpartner haben etc. pp. Dieser Druck, der da entsteht. Ich muss jetzt Sex haben, ich hatte solange keinen Sex. Bin ich denn noch normal? Ich bin doch krank, wenn ich so lange keinen Sex hatte! Finde ich völlig idiotisch."
Ein Liebespaar beim Sex
Aktivisten kämpfen gegen das Vorurteil, Asexualität sei eine Störung.© picture alliance / Klaus Rose

Keine Lust auf eine durchsexualisierte Gesellschaft?

In der Asexualität sieht der Sexualforscher Volkmar Sigusch auch eine Art Gegenbewegung. Im Interview in der österreichischen Tageszeitung "Der Standard" spricht er von einer "gesunden Reaktion auf die totale Durchdringung der Gesellschaft mit Sex". Kulturwissenschaftlerin Talke Flörcken betrachtet diese These allerdings mit Zurückhaltung.
Flörcken: "Es gibt auch ganz viele Interviews mit Asexuellen, die darauf hinweisen, dass für viele Menschen Asexualität eine Lebensrealität ist, die nicht politisch, rebellisch oder widerständig interpretiert wird. Was aber in der Forschung zur Asexualität immer wieder Thema ist, ist dass die sogenannte westliche Gesellschaft als stark sexualisiert wahrgenommen wird und Sexualität als Norm kritisiert wird."
Bei meiner Beschäftigung mit dem Thema fällt mir auf, dass deutlich mehr Frauen als Männer ihre Asexualität öffentlich machen und diskutieren. Auch statistisch ist der Anteil weiblicher Asexueller höher als männlicher. Grund hierfür könnte das Bild von Männlichkeit sein, das immer noch in unserer Gesellschaft besteht.
Flörcken: "Gesellschaftliche Vorstellungen von Männlichkeit sind verknüpft mit starker Sexualität, sexueller Potenz und mehr Lust als zum Beispiel Weiblichkeitsnormen. Und vielleicht ist es daher auch ein größerer Tabubruch für viele Männer, überhaupt über Asexualität nachzudenken, sich als asexuell zu outen und asexuelle Männer deswegen auch Diskriminierung erfahren, also dass sie ausgegrenzt werden, dass sie isoliert werden, dass sie gemobbt werden und so weiter und so fort."
In der asexuellen Community gibt es denn scherzhaften Spruch: Kuchen ist besser als Sex. Der Aussage stimmen die meisten meiner Interviewpartner mit einem Augenzwinkern zu.
Yannic: "Da ich keinen Sex habe .. Ja. .. Also auf jeden Fall."
Yannic und ich treffen uns auf ein Stück Torte. Der 27-Jährige engagiert sich im Vorstand von Aktivista. Ein Verein zur Sichtbarmachung von Asexualität.
Yannic: "Weil ich glaube, dass sehr wenige das kennen und wenn sie es kennen würden, würden sie sich vielleicht auch eher damit identifizieren. Es gibt halt noch viele Leute, die sich als Außenseiter verstehen und nicht wissen, was mit ihnen los ist. Und wenn sie dann den Begriff kennen und diese Community drumherum, dann ist es halt wie so ein Aha-Erlebnis und man fühlt sich wieder geborgen oder wie auch immer."
Deshalb organisiert Yannik Vorträge, verteilt Informationen und gibt Interviews. Er möchte nicht, dass sich andere so verstellen müssen, wie er es lange getan hat.
Yannic: "Also ich habe quasi mitgemacht. Gesellschaftlicher Druck. Also auch Freundin gehabt und so."
Wiese: "Musstest du dich dann zum Sex zwingen oder wie war das in der Beziehung dann?"
Yannic: "Es hat bei mir immer gedauert und dann war die Beziehung auch durch andere Gründe beendet worden. Also es kam da auch nie zu etwas."
Seine Aufklärungsarbeit liegt Jannik am Herzen. Er will Vorurteilen begegnen. Unsere Gesellschaft ist offener geworden, viele akzeptieren, dass sich Sexualität unterschiedlich darstellt. Teilweise ist die Toleranz aber nur oberflächlich, was sich besonders in Internet-Kommentaren zeigt.
Yannic: "Kommentare wie 'You are doing it wrong', also 'Du machst es falsch', oder 'Tiny penises', also kleine Penisse. Das ist dann natürlich super lächerlich und es klingt dann immer so, als würden die sich persönlich angegriffen fühlen."

Wenig Verständnis für Asexuelle

Mittlerweile gibt es auch erste Studien zur Diskriminierung von Asexuellen. So haben die beiden amerikanischen Psychologen Cara McInnis und Gordon Hodson festgestellt, dass Heterosexuelle asexuellen Menschen mit einer größeren Abneigung begegnen als anderen sexuellen Minderheiten wie Schwulen und Lesben. Außerdem charakterisierten die Befragten in ihrer Studie Asexuelle als "weniger menschlich".
Michelle: "Wir müssen uns alle immer wieder rechtfertigen. Wir haben alle Probleme mit Vorurteilen, dass wir prüde sind, dass wir kein Interesse an menschlichen Beziehungen haben, dass wir kein Interesse an unserem Aussehen haben, dass wir eine Therapie machen müssten, dass wir einfach nur mal richtig Sex haben müssten. Was ich auch total furchtbar finde."
Radloff: "Als ich noch gedatet habe und das den Leuten gesagt habe, kann ich auch sagen, dass höchstens jeder fünfte Mann da relativ tolerant war. Meistens kamen dann so Sachen wie: 'Was denkst du, bist du etwas Besseres?' oder 'Sollst du jetzt die nächste Evolutionsstufe sein?' Oder manchmal sind die Leute einfach aufgestanden und sofort in dem gleichen Satz weggerannt. Die haben noch nicht einmal Tschüss gesagt oder so etwas."
Flörcken: "Ich glaube auf jeden Fall, dass es jetzt einfacher geworden ist, sich darüber auszutauschen. Das hat aber vielleicht auch etwas mit dem Internet zu tun oder anderen sozialen Medien, die genutzt werden können. Wie lange das anhält oder ob das Teil eines Zeitalters ist, wird sich dann ja herausstellen."
Asexualität wird sichtbarer und das wissenschaftliche Interesse daran wächst. In den unterschiedlichsten Disziplinen gibt es Veröffentlichungen zum Thema. Von der Medizin, über die Soziologie bis hin zu Politikwissenschaften. Schon erklingen Rufe, Asexualität könnte eine Modeerscheinung sein.
Flörcken: "Modeerscheinung würde dann ja auch bedeuten, dass es aus der Mode kommen könnte. Das finde ich total schwierig, dass würde man ja zu heterosexuellen oder homosexuellen Leuten, also nimmt man an, dass Asexualität eine sexuelle Orientierung ist, auch nicht sagen."
Jückstock: "Ja, es ist sehr zugespitzt. Ich glaube, was es aber aufgreift, ist, dass sich Sexualität und Sexualitätsmoral im Laufe der Jahre verändert. Nicht zu lange her haben wir Homosexualität als eine Krankheit angesehen. Davon sind wir weit entfernt zum Glück heutzutage. Also es wandelt sich, es wandelt sich in der Moral, es wandelt sich in der Gesellschaft. Das ist ein ganz natürlicher Prozess."
Menschen mit unterschiedlichsten Vorstellungen und Vorlieben finden heute Gleichgesinnte. Sexualität wird nicht mehr als etwas Statisches begriffen. Wir haben neue Freiheiten und neue Möglichkeiten, das auszudrücken, was wir empfinden. Die Psychologin und Sexualforscherin Viviane Jückstock ist daher grundsätzlich eher zurückhaltend, Menschen eine Orientierung zuzuordnen.
Jückstock: "Wenn jemand an den Punkt gelangt ist, zu sagen: 'Ich bin asexuell' und dann doch irgendwann sexuelle Lust oder Begehren verspürt, wie geht es ihm denn dann? Also dann muss es sich wieder ganz neu definieren. Deshalb finde ich es bisschen schwierig, jemanden so identitätsstiftende Diagnosen anzubieten oder überzustülpen, weil das Leben ja doch deutlich mehr bietet. Und man kann einfach gucken. Es kann ja auch ok sein, wenn man sagt, generell habe ich nicht so viel Lust auf Sex, aber manchmal schon."
Radloff: "Ich glaube schon, dass Sexualität etwas Fließendes ist. Man muss schon ein ganzes Leben lang offen sein, was das angeht. Nun gut, ich bin jetzt 38. Ich hatte noch niemals eine sexuelle Anziehung. Ich glaube die Chance, dass sich das noch ändern wird, ist relativ gering. Aber ich bleibe da mal offen."
Michelle: "Für mich macht es ein Gefühl von 'Ich gehöre wohin' aus. Aber ich will da auch niemanden zwingen, sich ein Label aufzudrücken. Mir hilft dieses Label, mich mit etwas zu identifizieren und mich selbst zu beschreiben, aber wenn man kein Label haben will, soll man kein Label haben müssen."
Es ist spannend zu sehen, wie eine sexuelle Orientierung erstmals in die Öffentlichkeit tritt, wie Definitionen gefunden und Vorurteile überwunden werden. Gerne würde ich einen Tag mit der Wahrnehmung eines Asexuellen erleben, um Asexualität besser nachvollziehen zu können. Ich ahne aber jetzt schon, dass das gar nicht so viel anders wäre. Ein Eindruck, den ich mit Michelle, Erich, Yannic und Kati teile.
Radloff: "Ich kann vielleicht nicht viel zur 69 sagen oder so. Aber ich kann auf jeden Fall viel über Intimität sagen und Nähe und Eifersucht und verletzt sein. Und vielleicht Freude und Lust alles, was sonst noch so mit Sex zu tun hat, was man auch sonst überall in Beziehungen findet. Und insofern ist der Unterschied nicht so groß."
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