Arzneimitteltests

Wissenschaftler fordert mehr Spielraum für Demenzforschung

Eine demenzkranke 83-jährige Frau.
Die Demenzforschung wirft schwierige ethische Fragen auf © picture-alliance/epa/Waltraud Grubitzsch/lsn
Gerd Antes Im Gespräch mit Dieter Kassel  · 06.07.2016
Der Direktor des Deutschen Cochrane-Zentrums, Gerd Antes, hält den umstrittenen Gesetzentwurf zu Arzneimitteltests an Demenzkranken für angemessen. Er kritisierte die Debatte als sehr stark ideologiebehaftet.
Antes forderte, dass die Entscheidung über Arzneimitteltests an Demenzkranken sich stärker an den Problemen orientieren sollte. Die Forschung sei bisher noch nicht einmal in Sichtweise einer Lösung, sagte Antes im Deutschlandradio Kultur.
Deshalb müsse man alles unternehmen, um dort hinzukommen. Es müsse gezielt geforscht werden und teilweise auch auf eine Weise, die bisher nicht zugelassen sei, sagte der Wissenschaftler angesichts der Verschiebung einer eigentlich für diese Woche geplanten Entscheidung des Bundestages über einen umstrittenen Gesetzentwurf zu Arzneimitteltests für Demenzkranke. Die Kritik hatte sich vor allem daran entzündet, dass Testverfahren möglich geworden wären, die den Patienten persönlich nicht mehr medizinisch geholfen hätten, sondern der Demenzforschung generell dienten.

Das Problem der Demenzerkrankungen wird unterschätzt

"Wir brauchen einfach Lösungen", sagte Antes. "Wir haben ein Riesenproblem jetzt schon und das Problem wird zunehmen aufgrund der Altersentwicklung der Bevölkerung." Die Größe des Problems werde bisher unterschätzt. Zu der Kritik an dem Gesetzentwurf sagte der Wissenschaftler, dass es für die Patienten ein Zwischenstadium gebe, in dem sie noch in der Lage seien, selbst ihre Zustimmung zu solchen Tests zu erteilen.
Später gebe es gesetzliche Vertreter von Demenzkranken. Antes sagte, Medikamente müssten irgendwann an den Menschen getestet werden, die es betrifft und denen sie helfen sollen. Der Wissenschaftler rügte die Debatte als sehr stark "ideologiebehaftet".

Das Interview im Wortlaut:

Dieter Kassel: Beim vierten Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften liegt die Sprengkraft im Detail oder in mehreren Details, denn im Prinzip sind auch jetzt schon Tests von Arzneimitteln an Demenzkranken, die diesen Tests persönlich und unmittelbar nicht mehr zustimmen können, möglich, sie sind zulässig, allerdings nur unter ziemlich konkret geregelten Umständen und vor allen Dingen nur, wenn es sich um Medikamente handelt, die den Patienten, an denen sie getestet werden, noch helfen könnten zumindest. Man kann es vorher nicht wissen, sonst wäre es kein Versuch.
Wenn aber dieses umstrittene Gesetz – ich habe es vorhin gesagt, es ist so umstritten, dass keine Rede mehr davon sein kann, dass der Bundestag es in dieser Woche verabschiedet, wie extreme Optimisten schon gehofft hatten –, wenn aber dieses umstrittene Gesetz in Kraft treten sollte, dann wären solche Tests auch bei Medikamenten möglich, die den Versuchspersonen selbst auf keinen Fall mehr helfen können, sondern die sich später als wirkungsvoll herausstellen könnten, um anderen zu helfen. Solche Tests nennt man übrigens in der Fachsprache dann gruppennützig. Die anderen, die ich vorher erwähnt habe, heißen individualnützig. Wir wollen über diese Frage und damit über den umstrittenen Gesetzentwurf jetzt mit Professor Gerd Antes reden. Er leitet die deutsche Sektion von Cochrane, einem internationalen Netzwerk von Wissenschaftlern und Ärzten. Schönen guten Morgen, Professor Antes!
Gerd Antes: Schönen guten Morgen!
Kassel: Wie gesagt, diese Woche wird dieses Gesetz nicht verabschiedet, in dieser Form, wie es jetzt niedergeschrieben ist, vielleicht gar nicht. Aber so, wie es jetzt ist – halten Sie es für angemessen?
Antes: Ja. Grundsätzlich auf jeden Fall. Wir müssen einfach uns viel mehr an dem Problem orientieren und nicht immer über historische Vergangenheit sprechen. Und wir brauchen einfach Lösungen. Wir haben ein Riesenproblem, und das Problem wird zunehmen aufgrund der Altersentwicklung der Bevölkerung. Und wir sind praktisch noch nicht mal in Sichtweite einer Lösung. Und insofern müssen wir alles unternehmen, um dorthin zu kommen, und das heißt auch natürlich, ganz gezielt und auch auf eine Art und Weise, die wir vielleicht gegenwärtig nicht zulassen, zu forschen, um dort zu Lösungen zu kommen.

Weiße Weste löst keine Probleme

Kassel: Nun sagen aber die Gegner, man kann ein Medikament, dessen Wirkung man noch nicht richtig einschätzen kann in diesem Moment, nicht einem Menschen geben, der nicht mehr ja oder nein sagen kann.
Antes: Der Meinung bin ich nicht. Einmal haben wir ja noch das Zwischenstadium, dass dieser Mensch zu dem Zeitpunkt, wo er noch in der Lage war, darüber zu entscheiden, die Zustimmung dazu gegeben hat und das auch schriftlich verankert hat. Dann gibt es gesetzliche Vertreter, die auch noch mal da zur Sicherung dieses Menschen beitragen. Und grundsätzlich zu sagen, ich mache da gar nichts – dann habe ich zwar selbst zum Schluss eine weiße Weste, aber das Problem ist natürlich nicht gelöst, und das ist viel größer, als, glaube ich, wir gegenwärtig noch wahrhaben.
Kassel: Nun sagen aber auch manche, diese Art von Versuchen bräuchte man gar nicht, denn ein Medikament, das in einem solchen Stadium ist, wo man sagt, es ist eigentlich ausgeschlossen, dass es dieser Person hilft, an der wir es testen wollen, das könne man doch auch noch im Labor und in Tierversuchen vorher testen.
Antes: Ja, aber das ist eine rein theoretische Diskussion. Natürlich können wir alles im Labor und im Tierversuch testen. Aber irgendwann kommt der Zeitpunkt, wo wir zum Menschen müssen. Und das ist ja das, was wir gegenwärtig sehen. Sehr selten, aber es kommt vor, entgleist so ein Experiment. Das ist kürzlich in Südfrankreich passiert. Deswegen haben wir ja über die letzten 50 Jahre entwickelt einen jahrelangen Prozess über Theorie, Labor, Tierversuch. Aber dann kommt es zum Menschen. Und dann muss ich das auch mit den Menschen machen, die es betrifft.
Ich kann – es ist eine gegenwärtige Tendenz, dass ich bei Zulassungsstudien in die Ukraine gehe oder nach Indien und das dann dort zu einem Drittel des Preises bekomme und ohne die hohen Auflagen. Aber letztlich, und gerade bei den Dementen ist es ja extrem stark abhängig auch von der sozialen Umgebung, von der Pflege, dann müssen wir es irgendwann an den Menschen testen, die es betrifft und denen es helfen soll.

Der Begriff Test ist untauglich

Kassel: Nun lautet ein weiteres Argument der Kritiker, wenn man ein Medikament testet, das einem Betroffenen noch helfen könnte, ist es das eine. Wenn man ein Medikament testet, dass dieser Person nicht mehr helfen wird, sondern im günstigsten Fall anderen später, ist es das andere, das sei unmoralisch. Ist es das?
Antes: Ja, das ist aus meiner Sicht auch wieder sehr stark ideologiebehaftet. Einmal ist dieser Begriff Test völlig untauglich. Wir sprechen zwar von Medikamententests, aber das klingt so ein bisschen wie Stiftung Warentest. Ich gucke mal, was funktioniert und was nicht. Aber das ist ja nicht die Realität. Wir haben ja einen unglaublich aufwendigen Prozess, wo Riesenbehörden daran beteiligt sind, auch weltweit, und da geht zwar einiges schief und es ist auch nicht alles optimal gemacht, aber wir sind ja dahin gekommen, wie wir es gegenwärtig machen aufgrund der Erfahrungen der letzten 50 oder 100 Jahre.
Und insofern denke ich, auch da ist wieder diese Schwarzweißmalerei einfach völlig ungeeignet. Wir haben keine Tests. Wir haben Medikamentenentwicklung, und wir müssen es irgendwann prüfen – nicht testen im Sinne von "ich spiele dann mal damit rum" – prüfen an den Menschen. Und das ist aus meiner Sicht der einzige Weg, wie es gehen kann, ganz pragmatisch.
Kassel: Es sei ein Dammbruch, sagen manche, wenn etwas getestet wird, und in dem Moment kann der Betroffene nicht mehr zustimmen. Er muss es vorher tun. Das finde ich, mit Verlaub, ein bisschen merkwürdig, weil es solche Fälle ja eigentlich schon gibt, dass man einer gravierenden Maßnahme vorher zustimmt, und man kann es nicht revidieren. Es gibt ein ganz simples Beispiel, die Organspende. Ich habe einen Organspenderausweis, das heißt, ich habe vor Jahren beschlossen, ich möchte das. Jetzt, heute Morgen könnte ich es revidieren, das Ding wegschmeißen. Wenn ich es aber behalte und sterbe, in dem Moment kann ich ja nicht mehr ja oder nein sagen. Das heißt, das mit dem Dammbruch stimmt ja so eigentlich auch nicht.
Antes: Nein. Es ist auch kein Dammbruch. Es ist immer wieder die – um es noch ein Stück weiter zu treiben: Wenn man die Dinge liest auch aus dem Nationalen Ethikrat, dann sieht man dort immer eine sehr starke Meinung. Auf der einen Seite habe ich den Patienten, dem es individuell nützen soll, und dann gibt es da den Begriff des Heilversuches, das heißt, der Arzt darf auch mal so was machen, in Anführungszeichen, und auf der anderen Seite die Forschung, die völlig andere Interessen hat. Und ein auch berechtigter Vorwurf ist tatsächlich, dass die Forschung nicht forschungsgetrieben sein darf. Sie darf nicht sozusagen ihr Eigenleben führen, sondern wir brauchen Gesundheitsforschung, die sich genau daran orientiert, was der Patient braucht.
Und wenn es mir gelingt, diese beiden Wege zusammenzuführen, dann ist das genau richtig und dann muss ich auch die Bedingungen so schaffen, dass ich diese Forschungen durchführen kann mit diesen Menschen. Und natürlich, wir haben viele Beispiele dafür, dass die Forschung entgleist in eine Richtung, wo sie dann nur noch Forschung ist und den Forscherinteressen und ihren Karrieren dient. Das darf nicht sein. Aber dafür haben wir ja auch den Apparat von Ethikkommissionen und einer sehr engmaschigen Überwachung. Und ich glaube, auch meiner Sicht ist das der einzige Weg, wie es gehen kann.

Unterscheiden zwischen Ethikrat und Ethikkommissionen

Kassel: Aber über die Rolle von Ethikkommissionen wird ja auch gestritten im Zusammenhang mit diesem Gesetz. In der jetzigen Fassung steht da, die Empfehlungen von Ethikkommissionen seien künftig von den Behörden, die solche Tests genehmigen müssen oder solche Entwicklungsmaßnahmen genehmigen müssen, Zitat, "maßgeblich zu berücksichtigen", Zitat Ende. Da sagen Kritiker, das klingt jetzt so, als sei dann der Ethikrat nur noch ein Plauderclub.
Antes: Man muss unterscheiden zwischen Ethikrat und den Ethikkommissionen. Wir haben ja Ethikkommissionen an den medizinischen Fakultäten und auch bei den Bundesländern. Und die Formulierung "maßgeblich zu berücksichtigen", die finde ich auch nicht glücklich. Das sollte schon bindender sein. Aber ich glaube, auch wenn Ethikkommissionen sich gegen was aussprechen, dann wird niemand den Mut haben, da gerade drüber hinwegzusehen. Weil wenn dann eine Studie tatsächlich in Schäden, wirklich Schäden am Menschen endet, dann haben die Leute, die das missachtet haben, ein Riesenproblem. Ich glaube, auch das wird sich einpendeln. Aber das ist eine juristische Formulierung, die nicht glücklich ist.
Kassel: Professor Gerd Antes, der Leiter des deutschen Cochrane-Zentrums, über ein umstrittenes neues Gesetz, über das heute gar nicht weiter verhandelt wird im Bundestag, aber das möglicherweise in der jetzt bekannten oder auch in einer ganz anderen Form gültig werden wird im Laufe der Monate. Professor Antes, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Die Website des Deutschen Cochrane-Zentrums
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