"Art everywhere"

Kunst geht auf die Straße

Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Das Poster eines Werks von Robert Walker "Skating on Duddington Loch" soll Besucher ins Museum locken. © AFP / Ben Stansall
Von Walter Bohnacker  · 21.07.2014
"Kunst für alle! Überall!" Mit dieser Parole bringt eine Initiative alte und moderne britische Kunst unters Volk – an 30.000 Werbeflächen in ganz Großbritannien. Finanziert wird das Projekt auch per Crowdfunding. Über die Auswahl der Werke entschied das Publikum per Facebook-Votum.
Einer der zehn wichtigsten Bahnhöfe der Hauptstadt ist Charing Cross. Auf dem elektronischen Großbildschirm neben Zuganzeigetafel und Bierwerbung flimmert seit heute ein Werk von Stanhope Alexander Forbes von 1885: "Fischverkauf an einem Strand in Cornwall".
Das Original befindet sich in der Gemäldegalerie in Plymouth. Die Segelschiffe im Hintergrund und vorn das an den Strand gezogene Ruderboot, neben dem ein alter Fischer vor jungen Frauen mit Kopftüchern und Schürzen seinen Fang im Schlamm ausbreitet: diese Szene sorgt in der Bahnhofshalle für einen ungewohnten Kontrast.
Zehn Sekunden Kunst
Allerdings: Für Kunstwerk inklusive Begleittext mit Bildtitel, Name des Künstlers und der Internetseite von "Art Everywhere" bleiben nur knappe zehn Sekunden. Danach erscheinen schon die nächsten Werbespots mit dem Üblichen: Versicherungen, Banken, Automarken.
Ein anderes Bild, das nach ein paar Minuten eingeblendet wird, scheint besser hierher zu passen: "The Travelling Companion" von Augustus Leopold Egg, ebenfalls 19. Jahrhundert, aus der Art Gallery in Birmingham. Hier sitzen sich zwei junge Damen im Zugabteil gegenüber, beide in Seidenkleidern; die eine ist eingenickt, ihre Begleiterin ist in ein Buch vertieft. Durchs Zugfenster.
Der nächste publikumswirksame Knotenpunkt nach Trafalgar Square ist Piccadilly Circus, Großbritanniens Mekka der Leuchtreklame. Man würde annehmen: Hier haben die schönen Künste keine Chance gegen die Großbild-Konkurrenz von Unterhaltungselektronik und Big Mac.
Und doch: Gleich um die Ecke, oben an einer Fassade, flimmert eine Großleinwand mit einem Strichmännchen, das quasi aus dem Nichts immer wieder selbst entsteht – in der Endlosschleife.
Kunst wird gemacht, um gesehen zu werden
Das Digital-Werk mit dem Titel: "Feeling Material" ist der "Art Everywhere"-Beitrag von Turner-Preisträger Anthony Gormley. Gemeinsam mit seinem Turner-Preis-Kollegen Grayson Perry ließ er letzte Woche das "Kunst für alle"-Projekt vom Stapel.
"Kunst entsteht nicht für private Zwecke! Sie wird gemacht, um gesehen zu werden. Und sie ist für jeden da! Jeder sollte sie erleben und an ihr teilhaben können. Die Vorstellung, sie sei am besten in Museen aufgehoben oder in den Häusern der Gutbetuchten, ist völliger Quatsch."
Die Kunstwerke herauszuholen aus den Museen und sie in einem neuen Kontext zu präsentieren, habe durchaus etwas Poetisches und Surreales, meint Grayson Perry. Aber das sei nur das eine.
"Zu einer Zeit, in der Street Art Eingang in Galerien findet, gehen wir den umgekehrten Weg. Wir reproduzieren Kunst und tragen sie raus auf die Straße. Das andere ist: Schöne, gute Kunst wirkt auch ohne Goldrahmen. Uns geht es hier um die visuelle Alphabetisierung. Die Leute sollen Schönes neu erleben lernen, ohne Ehrfurcht und ohne den Ballast der Kunstgeschichte."
Wer ist außer den Genannten noch vertreten? Unter anderem das Duo Gilbert & George mit "The Existers". Die bunte Pop Art-Collage zeigt die beiden umgeben von posierenden, tagträumenden jungen Männern.
Zum Gang in die Museen anregen
Der Bildhauer Henry Moore mit seiner Bronzeplastik "King and Queen" aus der Sammlung der TATE-Galerie. Und Englands großer Visionär William Blake mit seinem "Kreis der Lüsternen", einem Motiv aus Dantes "Göttlicher Komödie".
Ganz oben auf der Top-25-Liste, über die 38.000 Facebook-Fans abgestimmt hatten, rangiert Groß britanniens populärster lebender Künstler, David Hockney, mit "My Parents", einem Doppelporträt seiner Eltern von 1977. Links im Bild im blauen Kleid steif auf dem Stuhl sitzend die alte, weiß-haarige Mutter des Malers, rechts der in einem Bildband blätternde Vater und zwischen beiden eine grüne Kommode mit Spiegel und Blumenvase. Hockney erweist sich hier als Meister der Lichteffekte und der häuslichen Melancholie des Alters.
Klar: Letztlich will "Art Everywhere" zum Gang in die Museen animieren. Die Kunstwerke, die hier angepriesen werden, befinden sich in Staatsbesitz und gehören sozusagen jedem Briten.
Aber: Zehn Sekunden für die visuelle Alphabetisierung der Massen – reicht das? Ein junger Mann, der am Bahnhof Waterloo auf seinen Zug wartet, ist skeptisch. Die Botschaft der unvoreingenommenen Kunstbetrachtung – noch dazu in ungewohntem Kontext – müsse stärker rüber kommen, meint er. Was fehle, sei sowas wie ein dringlicher Appell.
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