Armutsprostitution

Männer verkaufen ihren Körper für immer weniger Geld

Ein Mann steht am im Bahnhof in Stuttgart an einem Bahnsteig vor einem Poster mit der Aufschrift "Streikinformation". Der Bahnsteig ist fast leer. Außer dem Mann steht ein anderer Mann auf einem Gleis.
Ein Mann steht am im Bahnhof in Stuttgart an einem Bahnsteig - am Stuttgarter Bahnhof gibt es einen Straßenstrich mit jungen Männern. © picture alliance / dpa / Wolfram Kastl
Von Christine Werner · 08.02.2016
Sie kommen aus Nordafrika, Bulgarien oder Rumänien: Junge, schwule Männer. Sie träumen von einem bessere Leben in Deutschland – und landen aus Not auf dem Strich. Armutsprostitution nennen die Sozialarbeiter das. Thorsten Hinz ist einer dieser Sozialarbeiter. Christine Werner hat ihn begleitet.
Montagnachmittag in der Klett-Passage am Stuttgarter Hauptbahnhof. Sozialarbeiter Thorsten Hinz geht in eine öffentliche Männertoilette. Im Vorraum zwei einfache Waschbecken, Seifenspender, Trockner für die Hände an der Wand. Ein Mann kommt ihm entgegen.
Mann: "Der kommt mir bekannt vor."
Thorsten: "Hey!"
Thorsten: "Ja und hier stecke ich immer Kondome in die Ritzen und noch Flyer dazu. Damit das Präventionsmaterial da ist, wo es auch gebraucht wird."
Geübt klemmt Thorsten Kondome hinter Seifenspender und Trockner. Noch ein Mann drückt sich an ihm vorbei. Hier verkaufen junge Männer, die meisten zwischen 17 und 33 Jahre alt, ihren Körper. In einem stinkenden Bahnhofsklo unter dem harten Licht der Neonlampen.
Thorsten: "Ja, Bahnhofstoilette. Edelstahl. Es riecht ein bisschen. Die schnelle Nummer zwischendurch."
Ein paar Schritte weiter eilen Geschäftsleute vorbei, kaufen Reisende noch schnell ein belegtes Brötchen. Eine schnelle Nummer auf dem Bahnhofsklo gibt es schon für 20 Euro.
Thorsten: "... hin und wieder wurde uns auch berichtet, von Jungs, die von Freiern angesprochen wurden, die gesagt haben, komm ich gebe dir einen Döner aus und kauf dir noch eine Schachtel Zigaretten. Ja und wenn der Hunger drückt, dann macht man es eben auch mal für einen Döner ... das ist schon schlimm."
Thorsten geht auf eine Gruppe junger Männer zu. Sie kommen aus Marokko und Algerien, sprechen kaum Deutsch. In ihren Heimatländern ist Homosexualität eine Straftat. Sie sind deshalb vorsichtig. Aber einige kennen Thorsten, sie vertrauen ihm. Er greift wieder in seine Tasche, verteilt Kondome - und den Flyer vom Café Strich-Punkt.
Zweimal in der Woche ist es für diese Jungs ein geschützter Raum: Sie spielen dort Kicker, kochen gemeinsam, waschen ihre Wäsche, können sich duschen. Es gibt einen Deutschkurs und regelmäßig kommt eine Ärztin vom Gesundheitsamt.
Die Polizei schätzt, dass bis zu 600 Stricher in Stuttgart leben und immer mehr kommen aus Nordafrika, Bulgarien oder Rumänien. Weil sie als Homosexuelle in ihren Ländern diskriminiert oder verfolgt werde. Oder weil ihnen ein Job auf dem Bau oder in der Gastronomie versprochen wurde, der sich dann in Luft aufgelöst hat. So war es auch bei Alexander, der im Büro des Cafés sitzt.
Alexander: "Es ist eine lange Geschichte. Vor drei Jahren bin ich aus Rumänien weg. Ein Freund sagte mir hier fände ich leichter einen Job. Aber als ich hier war, ging der Freund nicht mehr ans Telefon. Er ließ mich einfach sitzen - wie einen ausgesetzten Hund."
"Sie denken, Schwule sind verrückt"
Der 27-Jährige hat ein rundes, weiches Gesicht. Eine blonde Haartolle fällt über seine Stirn. Zurück nach Rumänien möchte er nicht. Sie denken dort Schwule sind verrückt und geben dir Pillen, erzählt er. Und für seine Eltern ist er nur eine Schande. Mit zehn Euro in der Tasche blieb er darum hier.
Alexander: "Ich habe in Köln einen Monat auf der Straße gelebt. Im Bahnhof. Und dann sagte ich mir: Ok, ich muss irgendetwas machen, damit ich überlebe. Ich beschloss auf den Strich zu gehen."
Kein Einzelfall, sagt Sozialarbeiter Thorsten Hinz.
Thorsten: "Die machen das nicht aus romantischen Gefühlen, sondern sie versuchen einfach zu überleben. Viele haben auch keine Ausbildung. Und dann schlagen sie sich hier in Deutschland durch und hoffen auf den Jackpot. Und der ist manches Mal aus ihrer Perspektive: Vielleicht gibt es einen Menschen, der sich in mich verliebt, den ich heiraten kann."
Die deutschen Stricher sind in die Anonymität des Internets abgetaucht. Organisieren dort ihre Verabredungen. Auf dem Straßenstrich verkaufen sich überwiegend Migranten wie Alexander.
Alexander: "Aber es ist nicht gut für mich. Ich mache das nicht gern. Ich fühle mich schmutzig, wenn ich meinen Körper verkaufe. Ich fühle mich nicht gut. Und die Kunden mögen mich nicht. Ich bin kein dünner Junge, ich bin nicht so hübsch."
Seit Monaten sucht er einen Job, irgendetwas in der Gastronomie. Jede Woche kommt er ins Café, setzt seine Hoffnung in Thorsten und die anderen Mitarbeiter.
Thorsten: "Also wir versuchen auf die Bedürfnisse einzugehen, die die Jungs mitbringen. Der eine braucht ne Wohnung, der andere sucht einen kleinen Minijob in der Gastronomie für 400 Euro. Wir möchten gerade nicht mit dem erhobenen Zeigfinger missionieren oder predigen, sondern nehmen sie erst mal so an wie sie sind. Und wenn sie einen anderen Weg gehen möchten unterstützen wir sie dabei."
Männer wie Alexander – vielleicht schafft es der 27jährige, dass sein Traum wahr wird.
Alexander: "Mein großer Wunsch in diesem beschissen Leben, sorry, dass ich das so sage, ist ein normales Leben. Morgens aufwachen, zur Arbeit gehen, wieder nach Hause kommen. Aber das ist schwer. Und wenn du hier niemanden hast der dir hilft – kannst du gar nichts machen."
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