Armut und die Folgen in Venezuela

Der alltägliche Wahnsinn

Sie sehen eine Frau, die einen Fisch putzt, rechts und links stehen Kinder.
Es fehlt an vielem in Venezuela, vor allem an Strom und Trinkwasser. © AFP / Juan Barreto
Von Anne-Katrin Mellmann · 10.08.2016
Venezuela versinkt immer tiefer in der Krise: Weite Teile der Bevölkerung hungern. Krankenhäuser können ihre Patienten wegen fehlender Medikamente nicht mehr heilen. Die sozialen Spannungen nehmen zu, Gewalt ist an der Tagesordnung.
In Venezuela, dem Land mit den größten Erdölreserven der Welt, sind Grundnahrungsmittel Mangelware. Wegen des gefallenen Ölpreises und der Misswirtschaft der sozialistischen Regierung verschlechtert sich die Versorgungslage täglich. Im Land wird kaum noch produziert, importiert wird immer weniger. Das Bisschen, was noch da ist, wird täglich teurer. Inzwischen hungern viele Venezolaner. Wenigstens ist Mangosaison. Mit langen Holzstangen bewaffnet, ziehen ganze Familien durch Caracas, auf der Suche nach der süßen, fleischigen Frucht.
Das sei die Maduro-Diät, sagt der 33-jährige Familienvater José und wischt sich orangefarbenen Saft vom Mund. So wie er sind viele überzeugt davon, dass die Regierung des unbeliebten sozialistischen Präsidenten Maduro Schuld an der Misere sei. Josés Kinder sammeln Mangos vom Straßenrand. Die schlaksige 12-jährige Tochter Maria wünschte, sie könnte mal wieder Bohnen essen. Aber die gibt es selten, und wenn, dann kostet ein Kilo Vaters halben Monatslohn. Seit einigen Wochen kann sich die Familie nicht mehr satt essen.
"Manchmal bekommt mein Papa Brot. Meistens haben wir aber keins. Zurzeit esse ich 20 Mangos am Tag."
Maria wird trotzdem nicht satt. Die Wirtschaftskrise hat ihren Vater arbeitslos gemacht. Als Orthopädietechniker hatte er nichts mehr zu tun, weil kein Material importiert wird. Dollar für jeglichen Import fehlen in Venezuela. Wegen der hohen Inflation reicht das Geld nicht mehr zum Leben.

Hühnerfutter für die Familie

Auch der Gärtner Ever gibt seinen fünf hungernden Kindern Mangos. In seinem 2000-Einwohner-Dorf stünden vor dem Supermarkt mit subventionierten Lebensmitteln manchmal 1500 Menschen Schlange, erzählt der schmächtige Mann. Als er es das letzte Mal schaffte, hineinzukommen, bevor alles ausverkauft war, musste er sich zwischen Nudeln und Milch entscheiden. Für beides reichte sein Geld nicht:
"Wir dürfen ja nur ein Mal pro Woche dort einkaufen. Wenn ich an dem Tag nichts bekomme, haben wir Pech. Dann beschaffen wir uns den Mais, der als Hühnerfutter gedacht ist. Den bereiten wir auf, waschen und mahlen ihn. Das ist der Vorteil des Lebens auf dem Dorf: Dort gibt es wenigstens eine Mühle. In der Stadt nicht."
In der Stadt gibt es Müll. Am Rande eines Großmarktes sammelt Carlos gammelige Mandarinen für seine Kinder in eine Tüte. Darin liegt bereits ein Fischkopf. Mit dem Taschenmesser kratzt er Reste aus einer Melone und schiebt sie sich gierig in den Mund.
"Präsident Maduro ist eben nicht Chávez. Der hätte jeden Stein umgedreht, um Essen für uns zu finden. Maduro organisiert nur irgendwelche Dinge, die nicht funktionieren, wie die Komitees zur Lebensmittelverteilung. Bei mir waren die noch nie."
Einstweilen ist der Müll Carlos‘ Rettung. Aber die guten Stücke werden knapper, weil täglich mehr Menschen in Not geraten. Wirtschaftskrise und Mangel treffen diejenigen Venezolaner am härtesten, die sich die hohen Schwarzmarktpreise nicht leisten können.

Sechs Stunden vor dem Supermarkt warten

Über einer Hauptstraße im Zentrum von Caracas hängt beißender Fischgeruch: An jeder Ecke steht ein Pickup, von dem aus Sardinen und Mangos verkauft werden. Seit etwa einem Monat, seit Grundnahrungsmittel noch teurer und schwerer zu ergattern sind, kaufen die armen Leute hier ein. Sardinen sind billig, Mangos werden verramscht. Aber beides macht nicht satt.
Die lange Schlange vor einem Supermarkt signalisiert: Es gibt Maismehl, Reis, Milch und Hühnchen. Leider wissen die Wartenden nie, wie lange die Ware reicht. Die 65-jährige Maria steht seit sechs Stunden in der brennenden Sonne in einem Mittelschichtviertel der Hauptstadt Caracas. Sie hofft auf ein Kilo Maismehl, den Grundstoff für Arepas, Maisfladen, die in Venezuela Grundnahrungsmittel sind wie in Deutschland das Brot.
"Andere haben sich schon um Mitternacht angestellt. Deshalb waren sie heute früh gleich die ersten und konnten einkaufen. Uns bleibt jetzt nichts anderes übrig als zu warten und zu hoffen. Manchmal kommt sogar ein LKW mit neuer Ware. Ich kann leider nicht mehr lange bleiben, weil ich meine Enkel von der Schule abholen muss."
Dann aber muss sie wieder eine Woche warten. Subventionierte Lebensmittel gibt es pro Person nur alle sieben Tage - je nach Ausweisnummer. Im Unterschied zu vielen anderen kann Maria noch drei Mahlzeiten am Tag zu sich nehmen, aber die Portionen hat sie halbiert. Alle Familienmitglieder hätten bereits mehrere Kilo abgenommen. Eine andere Maria, 43 Jahre alt, erzählt von ihrem letzten Versuch einzukaufen:
"Ich wollte Maismehl kaufen und stand seit vier Uhr morgens in der Schlange. Die Leute stritten laut, weil es zu wenig für alle gab. Plötzlich rief eine hochschwangere junge Frau vor mir: Ich bekomme jetzt mein Kind, helft mir! Die Leute dachten, sie wolle nur Mitleid erregen, um einen besseren Platz in der Schlange zu bekommen. Aber, nein, sie brachte ihren Jungen zur Welt – in der Schlange vor aller Augen, weil auch sie ihr Kilo Mehl haben wollte."

Die Regierung macht die Opposition verantwortlich

Die meisten Venezolaner haben keine andere Wahl, als zu warten. Auf dem Schwarzmarkt sind die Preise für Grundnahrungsmittel extrem gestiegen. Dort kostet ein Kilo Maismehl 2000 Bolívares, im Supermarkt nur 200. Die Regierung des sozialistischen Präsidenten Nicolas Maduro macht die Opposition für den Mangel verantwortlich: Sie führe einen Wirtschaftskrieg gegen das Volk. Doch leiden alle Venezolaner gleichermaßen – egal zu welchem politischen Lager sie gehören.
Im Petare, dem größten Slum von Caracas, bietet sich ein seltenes Bild: Lebensmittelverteiler der sozialistischen Parteiorganisation CLAP liefern Tüten mit Essen direkt an die Haustür. Auch eine Familie, die nichts von der Maduro-Regierung hält, bekommt etwas ab: Reis, Maismehl und Milch. Knapp 5000 Bolívares – ein Drittel des monatlichen Mindestlohns - kostet das Paket. Es wird nicht mal eine Woche reichen. Drei junge Mütter beobachten das Treiben. Magali, Sibel und Yuri gehen leer aus.
"Vor zwei Monaten waren sie zuletzt hier. Da habe ich ein Paket bekommen. Heute stehe ich nicht auf der Liste, dabei habe ich drei Kinder. Das ist eine Mafia. Auf die Liste kommen ihre Freunde. So funktioniert das."
"Die jungen Männer sind alles Kriminelle. Die bekommen ihr Paket, dabei haben die nicht mal Kinder. Das ist nicht gerecht."
"Außerdem ist es viel zu teuer, denn die Produkte stammen ja aus dem Supermarkt mit subventionierter Ware. Das Paket dürfte nur die Hälfte kosten."

Keine Lebensmittel, kein Leitungswasser

Seit die Clap Lebensmittel verteilt, komme in den Supermärkten mit subventionierten Lebensmitteln noch weniger Ware an, schimpfen die Drei. Ihre Wut ist groß. Zu Hause warten hungrige Kinder. Als wäre der Mangel an Lebensmitteln nicht schlimm genug, gibt es zum Waschen nur Regenwasser: Seit drei Monaten ist kein Tropfen aus der Leitung gekommen.
Im Altenheim Del Carmen in Caracas berichtet Pflegerin Maria von ihrem traurigen Alltag. Nur noch 9 von früher 24 Alten leben hier. Die anderen sind entweder verstorben oder mussten weggeschickt werden, weil es nicht genug zu essen gibt und weil Medikamente fehlen, etwa gegen Bluthochdruck, Blutzucker und gegen Demenz. Maria befürchtet, dass auch ihr Heim bald dicht machen muss – so wie bereits viele andere.
"Oft können wir den Senioren nicht helfen, dann kommen sie ins Krankenhaus, aber die haben ja auch keine Medikamente mehr. Dort sterben sie dann. Die Situation ist traurig, aber so sieht unsere Realität aus. Die Alten sterben früher."
Nicht besser sieht es bei denen aus, die das Leben noch vor sich haben.

Kinderkrankheiten kehren zurück

Ins staatliche Kinderkrankenhaus dürfen Journalisten eigentlich nicht hinein. Die 27-jährige Ärztin Carolina Rincón zeigt heimlich die katastrophalen Zustände. Das einzige Röntgengerät ist seit langem kaputt. Im Labor können weder Urin- noch Blutproben untersucht werden, auf den Toiletten gibt es kein Leitungswasser, die Aufzüge funktionieren nicht. Die Kantine für Ärzte und Schwestern ist geschlossen, Essen gibt es nur noch für die Kinder.
"Die Qualität des Essens ist aber sehr schlecht. Schon mehrmals habe ich darin Tiere gesehen: Insekten und Mäuse."
Viele Stationen, wie die Krebsstation, sind geschlossen und warten auf Renovierung. Die junge Ärztin zeigt die Frühchen-Station:
"Hier kam Schmutzwasser aus den Abflüssen im Boden, gemischt sogar mit Blut, weil die Abflüsse in den Operationssälen nicht mehr funktionierten. Brutkästen haben wir deshalb nur noch ganz wenige, und mit denen können wir nur Frühchen betreuen, die höchstens einen Monat zu früh gekommen sind. Für die anderen fehlen uns die Geräte. Weil die Beatmung nicht gut funktioniert hat, sind einige Babys gestorben."
Venezuela im Jahr 2016: Kinderkrankheiten kehren zurück, weil es keine Impfstoffe mehr gibt. Kinder- und Müttersterblichkeit steigen. Die Gesunden beten, nicht krank zu werden, die Schwangeren, dass ihr Baby nicht zu früh kommt.
Der Krebsspezialist Gabriel Romero arbeitet sowohl in einer privaten als auch in einer staatlichen Klinik. Chemotherapie gegen Brustkrebs sei im Moment in keiner der beiden möglich, weil es von dem nötigen Medikament im ganzen Land keinen Tropfen mehr gebe. Operieren kann er immer seltener, weil es an Material mangele. Auf seiner Warteliste stehen 150 Patientinnen.
"Der Krebs wartet nicht. Wenn die Patienten keine adäquate Therapie erhalten, schreitet die Krankheit fort, ihr Leben verkürzt sich. Patienten, die heilbar wären, sterben. In Venezuela ist die Sterblichkeit wegen Krebs viel höher als anderswo."

Inkompetenz, Korruption und Vetternwirtschaft

In der staatlichen Klinik konnte Chefarzt Romero beobachten, wie sich die Versorgung in den vergangenen zehn Jahren verschlechterte, wie Apparate für Bestrahlung oder MRT kaputt gingen und nicht ersetzt wurden, weil der Staat nicht mehr investierte. Der Mediziner macht Inkompetenz, Korruption und Vetternwirtschaft der sozialistischen Regierung dafür verantwortlich. Altenpflegerin Maria sieht das ähnlich:
"Ich war früher Chavistin, liebte unseren Präsidenten Hugo Chávez. Aber seit seinem Tod dieser andere Herr Präsident ist, hat sich alles zum Desaster gewandelt. Unser Land ist in einem sehr kritischen Zustand."
So kritisch, dass Alte, Babys, Kranke und Kinder sterben müssen, obwohl ihnen geholfen werden könnte. Angesichts der Misere nehmen die sozialen Spannungen zu: Die Menschen sind verzweifelt. Raub, Überfälle und Mord sind seit langem an der Tagesordnung. Caracas ist die Hauptstadt mit der höchsten Mordrate weltweit. Die Zahl der Plünderungen und gewaltsamen Proteste ist in diesem Jahr extrem gestiegen.

Die Gewalt nimmt zu

Kinder und Erwachsene im Slum Petare sitzen im Schneidersitz auf dem Boden, Augen geschlossen, Hände nach oben geöffnet: Die Yoga-Stunde beginnt mit dem Finden des gemeinsamen Tons. Die Erfahrung, die sie sonst teilen, ist ein Leben in extremer Armut - und mit Gewalt. In keiner Hauptstadt der Welt sterben mehr Menschen eines gewaltsamen Todes: Etwa 400 waren es allein im Juni. Der Architekt Joel Valencia, ein junger Mann aus einem der besseren Viertel, veranstaltet die Yoga-Kurse in diesem Slum, in dem normalerweise keinerlei Hilfe ankommt:
"Zweifelsohne hat die Feindseligkeit in diesem Viertel stark zugenommen. Wir müssen leider feststellen, dass immer weniger Leute in die Kurse kommen können, weil sie damit beschäftigt sind, nach Grundnahrungsmitteln und Medikamenten Schlange zu stehen – einfach nach allem, was sie in ihrem Leben dringend brauchen. Die Spannungen nehmen auch zu, weil es an Wasser mangelt."
Valencias Projekt "Yoga en el barrio" soll helfen, Spannungen abzubauen. Schon 5000 Menschen haben mitgeatmet und gedehnt, Kinder lenken sich dabei vom knurrenden Magen ab oder sind froh, für eine Stunde der Enge ihrer Behausungen zu entkommen. Gewaltprävention in Venezuela aber ist so, als würde man versuchen, einen Stein den Berg hinauf zu rollen. Marco Antonio Ponce von der Beobachtungsstelle für Konflikte, einer Nichtregierungsorganisation, sieht einen drastischen Anstieg von Gewalt, der direkt mit dem Mangel zu tun hat:
"Derzeit geht es bei 80 Prozent der Proteste um soziale Rechte. Bei vielen Demonstrationen kommt es zu Vandalismus und Plünderungen. In den ersten fünf Monaten des Jahres gab es 254 Plünderungen und 640 Proteste gegen den Mangel an Grundnahrungsmitteln. Weil die Politik keine Antworten auf die Krise hat, wachsen die Spannungen. Wenn die Regierung das Abwahlreferendum der Opposition gegen Präsident Maduro blockiert, wird noch mehr Gewalt ausbrechen."

"Das ist schlimmer als im Krieg"

Noch mehr - in dem Land, in dem im vergangenen Jahr nach offiziellen Angaben durch die "gewöhnliche" Gewalt, wie Raubüberfälle und Morde, fast 18.000 Menschen ums Leben kamen. In Caracas starben im letzten Jahr 134 Polizisten. Viele erscheinen deshalb nicht mehr zur Arbeit. Für einen Hungerlohn wollen sie nicht ihr Leben riskieren. David Sánchez arbeitete im Slum Petare als Polizist, viele seiner Kollegen starben dort. Er zeigt ihre Fotos, die er in seinem Telefon aufbewahrt.
"Das ist schlimmer als im Krieg. Jede Woche stirbt ein Polizist. Deshalb habe ich meinen Dienst quittiert. Ich habe gerade mal den Mindestlohn verdient. Das Risiko war mir zu hoch. Ich wusste nie, ob ich heimkomme. Meine Mutter sagte immer, wenn ich zur Arbeit ging: Mögen dich hunderttausend Heilige schützen!"
Der 33-Jährige hat einen Bauchschuss überlebt. Häufig seien die Kriminellen besser bewaffnet als die Polizisten. Sie erpressen und entführen, überfallen Lebensmitteltransporte. Bei Plünderungen wird es immer schwerer, zwischen gewöhnlichen Kriminellen und Normalbürgern zu unterscheiden: zwischen Plünderung und Mundraub. Solche Gewalt bricht in Venezuela immer häufiger spontan aus. Viele kleine Feuerherde, die zu einem Flächenbrand werden könnten.

Selbst die Oberschicht muss den Gürtel enger schnallen

Cuba Libre in Caracas: In einem Ausgehviertel der Oberschicht brummt das Geschäft noch. Daniel, Gabriela und ihre drei Freunde haben es sich am letzten noch freien Tisch in der Bar bequem gemacht und schlürfen Longdrinks. Bier ist im Moment Mangelware. Deshalb nippt Gabriela, eine 24-jährige Medizinstudentin mit langer, schwarzer Mähne, an ihrer Cola mit Rum.
"Früher sind wir ein oder zwei Mal pro Woche ausgegangen. Jetzt können wir das nur noch ein Mal im Monat - wegen der Unsicherheit und wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage."
Wie funktioniert das jetzt mit dem Kennenlernen? Daniel und David lachen.
"Na, im Internet! Das hat sich zu einer guten Möglichkeit entwickelt, weil andere Gelegenheiten zum Flirten fehlen. – Aber nur, wenn es Internet gibt, denn manchmal haben wir einfach keines!"
"Unser Internet ist eines der langsamsten der Welt. Wir sind etwa auf dem Stand eines Landes, das nicht ans Netz angeschlossen ist!"
…übertreibt David, der ein teures Smartphone in der Hand hält. Die Kellnerin bringt die Rechnung über mehrere zehntausend Bolívares. Es dauert eine Weile, bis das Geld abgezählt auf dem Tisch liegt, weil der größte Schein immer noch der Hunderter ist. Der Abend war teuer, viel zu teuer, aber die jungen Frauen zucken mit den Schultern:
"Wir machen das, um nicht depressiv zu werden! Das ist ein Vergnügen, das wir uns einfach manchmal gönnen müssen!"
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