Armut in Kairo

Die Schwester und die Müllkinder

Müllsammler in Kairo
In Kairo wird die Müllentsorgung von rund 70.000 Müllsammlern, den sogenannten Zabbaleen, übernommen. Hier ein Bild vom Sommer 2014. © picture alliance / dpa / Foto: Matthias Tödt
Von Anne Francoise Weber · 12.04.2015
Viele arme Menschen leben in Kairo vom Müllsammeln. Ihre Kinder müssen beim Trennen und Sortieren helfen. Die koptisch-orthodoxe Ordensfrau Takla kümmert sich um sie: Im Maison de la Torah, wo ihre Schützlinge zum Beispiel Lesen und Schreiben lernen.
Kaum führt Schwester Takla die Besucherinnen in eine Klasse ihres Kindergartens, springen die rund 30 Kinder auf und sagen, oder eher schreien, einen Morgengruß. Die ungefähr vierjährigen Jungen und Mädchen tragen rot karierte Hemden und rote Hosen oder Kleider; an den Wänden hängen Bilder, auf der Tafel vorne stehen Buchstaben und Wörter, in ägyptischen Kindergärten wird schon früh mit Lesen und Schreiben begonnen. Dass die Kinder im Kairoer Müllarbeiterviertel Torah in einem sauberen Raum mit Tischen und Stühlen sitzen, dass sie überhaupt einen Kindergarten haben, ist keine Selbstverständlichkeit. Die Leiterin der "Maison de la Torah", Schwester Takla erinnert sich an die Anfänge.
"Früher gab es kein Gebäude, nur eine Wellblechhütte. Es war sehr schwierig, die Kinder kamen barfuß und dreckig, es gab kein Wasser im Viertel. Die Kinder konnten nicht baden, in ihren Haaren war immer Ungeziefer. Nach und nach hat sich das Bewusstsein verändert, jetzt haben wir bei den Kindern einen Fortschritt von 90 Prozent erreicht."
Die belgisch-französische Schwester Emmanuelle vom Orden "Unsere Liebe Frau von Sion" hatte den Kindergarten vor 30 Jahren mit einer Ägypterin zusammen gegründet; Schwester Takla kam einige Jahre später dazu. Aufgewachsen ist die freundlich-resolute Mittvierzigerin in Oberägypten, in Beni Suef. Dort hat sie mit 22 Jahren während ihrer Ausbildung zur Buchhalterin entschieden, dem Orden der "Töchter Mariens" beizutreten, der auch in den Kairoer Müllvierteln aktiv ist.
Müll und beißender Geruch
In riesigen Säcken bringen die Männer des Torah-Viertels den Müll der Großstadt hierher, wo er in mühsamer Handarbeit von Frauen und Kindern getrennt wird, damit ein Teil zum Recycling verkauft werden kann. Müllreste finden sich überall an den Straßenrändern, ein beißender Geruch liegt in der Luft.
"Früher kümmerten sich die Leute nicht um die Schule. Sie wollten, dass die Kinder im Müll mitarbeiten. Wenn ein Kind geboren wurde, blieb es zuhause, um bald der Mutter beim Mülltrennen zu helfen. Von Kindergarten war keine Rede, es sollte arbeiten. Jetzt wollen die Mütter, dass die Kinder in den Kindergarten gehen und die beste Ausbildung bekommen. Heute ist die Situation viel besser als früher."
Besonders stolz ist Schwester Takla darauf, dass manche ihrer Schützlinge es bis zum Arzt oder Ingenieur gebracht haben, trotz der schwierigen Startbedingungen und trotz des miserablen Niveaus vieler staatlicher Schulen in Ägypten. Überfüllte Klassen und unmotivierte, schlecht bezahlte Lehrer sorgen dafür, dass die Kinder kaum etwas lernen – außer, die Familie kann sich teure Nachhilfestunden oder noch teurere Privatschulen leisten. Um den Kindern der armen Müllarbeiter zumindest die ersten Schuljahre zu erleichtern, hat Schwester Takla auch eine Hausaufgabenhilfe für die Klassen 1 bis 3 eingerichtet.
Englischunterricht in der Vorschulklasse. Die Lehrerin Rania arbeitet schon seit zehn Jahren in diesem Kindergarten. Im Vergleich mit anderen Einrichtungen hält sie den Ansatz hier für besonders umfassend.
"Ich finde, wir achten hier sehr auf die Wissensvermittlung. Wir bringen den Kindern Lesen und Schreiben bei, damit sie ohne Probleme in die Schule gehen können. Aber wir legen auch großen Wert auf das Sozialverhalten. Es geht nicht nur um Wissensvermittlung. Alle drei gehören zusammen: Sozialverhalten, Erziehung und Lernstoff."
Wissen über Umwelt und Gesundheit
Zum Lernstoff gehören Buchstaben und Zahlen auf Arabisch und Englisch, Wissen über Umwelt und Gesundheit – aber keine Einführung in Christentum oder Islam, auch wenn in den Klassen ungefähr gleich viele muslimische wie christliche Kinder sind.
"In der Klasse gibt es keine Muslime oder Christen. Wir sind Freunde und mögen einander. Wenn dein Klassenkamerad nett und höflich ist, magst du ihn, ob er Christ oder Muslim ist. Aber die Kinder wissen Bescheid, sie wünschen sich gegenseitig schöne Feiertage oder einen schönen Ramadan. Und zu Weihnachten feiern wir ein großes Fest, das ist uns wichtig – darüber freuen sich auch die Muslime sehr."
Auf Nachfrage räumt Schwester Takla ein, dass unter der einjährigen Präsidentschaft von Muslimbruder Mohamed Mursi manche muslimische Familien ihre Kinder aus dem Kindergarten genommen und in die Koranschule gebracht hatten. Sie seien aber bald wieder zurückgekommen, weil sie eben doch von der Qualität der Ausbildung überzeugt waren. Außerdem wird in der Maison de la Torah keine christliche Mission betrieben, sondern das Thema Religion sehr allgemein behandelt:
"Wir sprechen über Verhaltensregeln und verbinden das natürlich mit Gott. Wir folgen den Geboten Gottes: Liebet einander, folgt der Mutter, benutzt keine Schimpfwörter. Das sind alles Gebote unseres Herrn, aber eben als Verhaltensregeln. Im Kindergartenalter kann man nicht über Religion sprechen. Die Kinder wissen manches von zuhause, und wir wollen nicht in Einzelheiten gehen, damit es keine Probleme gibt, denn da hat jeder sein eigenes Verständnis."
Eine Babygruppe, ein Heim für behinderte Mädchen und Stick- und Nähkurse für Frauen gehören auch noch zum Angebot der Maison de la Torah. Der Schwesternorden übernimmt Miete und Grundgehälter der Lehrerinnen, der Rest wird durch Spenden finanziert. Nicht immer ist gesichert, dass das Geld für Hefte und Uniformen, Essen und Feste, Sommercamp und Hausaufgabenbetreuung ausreicht. Aber Schwester Takla fühlt sich reich beschenkt, wie sie bei der Führung durch das Haus immer wieder betont:
"Eins möchte ich sagen: Alles, was hier im Büro ist, hat mir Gott geschickt. Ich habe gar nichts gekauft. Sogar diese Vorhänge haben Leute gespendet, die sie zuhause nicht mehr brauchten. Es waren drei, das passte genau fürs Büro."
Ein internationaler Verein versucht, die Arbeit der Maison de la Torah mit Patenschaften und Spenden zu unterstützen, Hinweise finden sich auf der Webseite www.asso-act.com.
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