Armut, die erschüttert

Arbeitslose Griechen veröffentlichen Tagebücher

Ein älterer Mann steht am 10. März 2014 vor einer geschlossenen Apotheke in Athen, deren Besitzer gegen die Pläne der Regierung mit Streik protestiert, verschreibungsfreie Medikamente in Supermärkten zu verkaufen.
Geschlossene Apotheke in Athen © epa / Orestis Panagiotou
Von Alkyone Karamanolis · 10.01.2015
Keine Grundsicherung, Steuern auf nicht vorhandenes Einkommen: Wer in Griechenland arbeitslos wird, dem droht der Absturz. Auf einer Website schreiben Betroffene, was es für sie bedeutet, um ein Leben in Würde zu kämpfen. Nun wird ein Buch daraus.
Mehrmals am Tag unterbricht der Journalist Christoforos Kasdaglis seine Arbeit, um nachzusehen, ob neue Texte aufgelaufen sind. Er gibt ihnen einen Titel, setzt die Tags und schaltet sie frei. "Tagebuch eines Arbeitslosen" heißt die Internetplattform, Christoforos Kasdaglis hat sie ins Leben gerufen.
"Mir ist aufgefallen, dass Arbeitslose im öffentlichen Dialog nur als Zahlen auftauchen. Niemand spricht über die Menschen hinter diesen Zahlen. Und die Arbeitslosen selbst sind gefangen in Gefühlen von Schuld und Scham. Dieses Tabu wollte ich durchbrechen."
Auch Menschen ohne Einkommen werden pauschal besteuert
So macht Kasdaglis zum Beispiel darauf aufmerksam, dass im Griechenland der Krise auch Arbeitslose ohne jede Art von Einkommen pauschal besteuert werden. Zugrunde gelegt wird das sogenannte "Minimum zum Lebensunterhalt". Im besten Fall wird damit schwarz hinzuverdientes Geld besteuert, in der Regel dürfte es sich um Finanzspritzen von Verwandten handeln, mit denen sich die Arbeitslosen durchs Leben hangeln. Einkommen, die somit zum zweiten Mal besteuert werden. Mit dieser Internetplattform hat Kasdaglis offenbar den Nerv der Zeit getroffen. Keine halbe Stunde, nachdem sie online gegangen war, lief die erste Geschichte auf.
"'Bürohilfe mit Computerkenntnissen gesucht. Arbeitszeit täglich 10 bis 14 Uhr, Monatslohn 150 Euro'. Lächerlich, aber nach drei Jahren ohne Arbeit habe ich wie selbstverständlich auf diese Anzeige geantwortet. Beim Bewerbungsgespräch waren weitere 40 Interessentinnen da. Alle hatten die nötigen Qualifikationen, manche hatten Empfehlungsschreiben, andere die Siegesgewissheit, die nur Vitamin B verleiht. Alles umsonst. Der Job ist innerhalb weniger Minuten an diejenige gegangen, die bereit war, anstatt für 150 für nur 110 Euro im Monat zu arbeiten. Voilà der Arbeitsmarkt der Zukunft!"
Wenn das Arbeitslosengeld ausläuft, droht der Absturz
In Griechenland gibt es keine Grundsicherung. Wenn das Arbeitslosengeld nach zwölf Monaten ausläuft, droht dem Betroffenen der Absturz. Es gibt keine Hilfe für den Lebensunterhalt und keine Sozialversicherung – die hängt nämlich am Arbeitsplatz. Arbeitslosigkeit ist in Griechenland ein existentielles Problem.
Wer sich durch die Internetplattform klickt, erfährt, was das bedeutet. Da ist zum Beispiel die Geschichte der 41-jährigen Mutter, die die Küche durchkämmt, auf der Suche nach etwas, was sie der Familie auftischen könnte. Sie findet einen Rest Margarine und Puderzucker. Daraus ließe sich ein Brotaufstrich bereiten, doch auch für Brot fehlt das Geld. All ihr Geld zusammengekratzt, kommt die Familie auf 70 Cent. Oder die Geschichte eines 43-jährigen, der in den Lebensläufen, die er rausschickt, seine Qualifikationen verschweigt, weil er fürchtet, sie könnten ihm zum Nachteil gereichen. Da sind die Selbstzweifel von Menschen, die sich in Bewerbungsgesprächen auf jede Bedingung des Arbeitgebers einlassen. Und der 58-jährige Vaggelis bilanziert:
"Seit drei Jahren habe ich nicht das geringste Einkommen. Körperlich überlebe ich dank der Solidarität meiner Umwelt. Und wenn ich immer noch nicht durchgedreht bin, dann ist das einem befreundeten Psychologen zu verdanken. Er behandelt mich umsonst, versteht sich. Sonst würde ich das Gras schon lange von unten wachsen sehen."
Unverstellter Einblick in das Seelenleben Arbeitsloser
Wer die Ereignisse der letzten Jahre in Griechenland mitverfolgt hat, kennt diese Fakten. Doch in Interviews halten sich die Menschen meist aus Stolz bedeckt. Das "Tagebuch eines Arbeitslosen" hingegen erlaubt einen unverstellten Einblick in ihr Seelenleben. Für den Leser sind die Geschichten ein Schlag in die Magengrube. Da sind Menschen, die mit ihrer Familie ohne Strom und fließend Wasser leben. Manche posten aus dem Ausland und berichten, wie sie auch dort ausgenutzt werden. Menschen, die keinen Arbeitsplatz mehr ablehnen können, sind leichte Opfer, überall auf der Welt. Und dann ist da der 45-Jährige aus dem nordgriechischen Thessaloniki, der auf rund 2000 Bewerbungen genau fünf Einladungen zu einem Vorstellungsgespräch erhalten hat. Und der nun in einer ungeheizten, 14 Grad kalten Wohnung sitzt.
"Ich bin seit vier Jahren ohne Arbeit. Mein einziges Einkommen seither: 40 Tagelöhne für Schwarzarbeit. Ich bin 45 Jahre alt und angeblich nicht mehr vermittelbar. Ich habe alles verloren. Auch meine Würde. Sieht jemand eine andere Lösung als all dem ein Ende zu setzen? Euch wünsche ich weiter Kraft. Ich habe keine mehr. Ich will keine mehr haben."
Was erstaunt, sind die Eloquenz und die Scharfsicht der Postenden. Schon das zeigt, welches Potential der griechischen Gesellschaft hier verloren geht. Die Qualität der Texte hat immerhin den renommierten Literaturverlag Kastaniotis überzeugt, 100 dieser Tagebucheinträge in einem Buch zu veröffentlichen.
Mehr zum Thema