Arme Seelen

Von Johannes Halder · 06.07.2010
Gemälde, Zeichnungen, Collagen, Textilarbeiten und Briefe aus der Zeit von 1985 bis 1925, die der Heidelberger Psychiater Hans Prinzhorn gesammelt hatte, geben in dieser Ausstellung einen berührenden Einblick in das Leben von Insassen psychiatrischer Anstalten.
125-mal an einem einzigen Tag hat Gustav Sievers, der Insasse einer psychiatrischen Verwahranstalt bei Göttingen, im Jahr 1918 die Aussicht aus seinem Zellenfenster festgehalten, immer wieder den gleichen Blick auf die gelben Mauern und roten Dächer des direkt gegenüberliegenden Gefängnisses. Eine dieser sorgsam kolorierten Bleistiftzeichnungen ist hier ausgestellt, und der Wahnsinn der stereotypen Wiederholung hat Methode.

Sievers, ein gelernter Weber, war einst wegen Bettelei festgenommen worden und wurde wegen seiner Neigung zu jähen Gewalttaten schließlich weggesperrt, verdammt zu lebenslanger Monotonie.

Wie ihm ging es vielen, die von den sozialen Verwerfungen der beginnenden Industriegesellschaft aus der Bahn geworfen wurden, sagt Sabine Hohnholz, die in der Heidelberger Sammlung die Bestände wissenschaftlich betreut. Die Anstalten dienten als Sammelbecken für soziales Strandgut.

"Dort waren vor allem die Vagabunden, die Landstreicher, die Kleinkriminellen, die Dirnen, also all die, die aus dem normalen sozialen Kontext herausfielen, die auffielen, sich auffällig benahmen. Für die gab's eigentlich kein anderes Konzept, als sie in diese Anstalten zu tun."

Zwar war man im 19. Jahrhundert bestrebt, Kranke von Kriminellen zu trennen und Konzepte zu entwickeln, um die einen zu heilen, die anderen zu bessern; doch die chronische Überfüllung der Anstalten schlug bald um in Routine und Resignation.

Um 1900 wurden in Deutschland rund 80 Anstalten neu errichtet, in der Baustruktur oft ähnlich wie Zuchthäuser oder Klöster. So gut wie besitzlos, in uniforme Anstaltskleidung gesteckt, nach Geschlechtern getrennt und ständig kontrolliert, lebten die psychisch Kranken dort in einer Art Gefängnis light, sagt Kuratorin Ingrid von Beyme:

"Es gab Tagesordnungen und Tagesabläufe, die mussten eingehalten werden. Die Mahlzeiten wurden immer zur selben Zeit eingenommen, man musste zur selben Zeit aufstehen, die ganze Maschinerie musste in Gang gehalten werden. Und dieses rigide System spiegelt sich auch in den ausgestellten Arbeiten wider. Wir haben Irrenhausordnungen, die aufzeigen, was ist verboten, und was ist die Strafe dafür. Ganz schön: Verboten ist jede Art von Narrheit. Also eigentlich alles, was die Menschen ausmacht, im Endeffekt."

Die Schau gibt berührende Einblicke in diese isolierte Parallelwelt, aus der es kein Entrinnen gab. In ihrer Verlassenheit entwickelten die Patienten allerlei Bewältigungsstrategien, um ihren armen Seelen Erleichterung zu verschaffen.

Da gibt es die Kladden eines Kaufmanns, der aus der Anstalt heraus unverdrossen seine Fantasiegeschäfte betrieb; nicht selten sind auch jene Sonderlinge, die ihr Schicksal dadurch zu meistern versuchten, dass sie die Rolle des Psychiaters annahmen und Akten über Mitpatienten anlegten.

Andere wiederum rebellierten offen gegen die Inkompetenz des ärztlichen Personals: "Psychiater, bleib mir fern!", höhnt ein Patient in einer Text-Bild-Collage und lässt die Ärzte wissen, dass er nicht gewillt sei, wie ein dressierter Hund nach deren Pfeife zu tanzen.

Neben Beschwerden wegen verunreinigter Speisenäpfe oder ekelhaften Essens gibt es eine Fülle demütigst vorgebrachter Eingaben und Petitionen um Freilassung, die sich oft in ohnmächtigem Wortgestammel erschöpfen. Und immer wieder spricht aus den Dokumenten der sehnliche Wunsch, doch nicht in Vergessenheit zu geraten, so wie bei jener Patientin, die in den Anstaltsakten als "Miss G." geführt wurde.

Sabine Hohnholz: "Sie hat uns dieses Taschentuch hinterlassen, was ganz außergewöhnlich ist in seiner Sticktechnik, die mit dem eigentlichen minutiösen Sticken nichts mehr zu tun hat, sondern diese Fäden werden ganz wild arrangiert auf diesem Stück Leinentaschentuch, und sie hat reingeschrieben: Forget me not oder eben Vergissmeinnicht."

In den Vitrinen voller Briefe, Bitten und Hilferufe, die ihre Adressaten nie erreichten, begegnet man aber auch immer wieder kleinen Kunstwerken wie dem einer gewissen Helene Maisch aus dem Jahr 1919.

"Es ist ästhetisch ein sehr ansprechendes Blatt mit einer vollen violetten Blüte, und der schlichten Bitte um ein Stück Kuchen. Also um ein Stück Normalität, das uns allen eigentlich jeden Tag möglich ist, aber ihr eben nicht."

Die Frage, was normal ist und was nicht, begleitet einen durch diese ganze Schau. Sie dokumentiert den Umgang der Gesellschaft mit den Menschen, die sich nicht normgerecht verhalten und ist, so sagt Sabine Hohnholz, ein Kapitel Medizingeschichte aus ungewohnter Perspektive.

"Es wird Medizingeschichte geschrieben, aber ja meistens von den Ärzten. Und in dieser Ausstellung kommen also zum allerersten Mal die Patienten selber zu Wort."

Es ist nicht so, dass die Gesellschaft aus dieser Geschichte nichts gelernt hätte. Doch wie fragil auch heute noch die Kategorien sind, nach denen die Menschen sortiert werden, liegt auf der Hand. Schon denkt die Politik hierzulande offen darüber nach, potenzielle Einwanderer nach dem Grad ihrer Intelligenz ins Land zu lassen oder eben nicht. Protest dagegen hat man noch nicht vernommen. Aber das ist er wohl – der ganz normale Wahnsinn.

Service:
Die Ausstellung "Vergissmeinnicht. Einblicke ins Anstaltsleben um 1900" ist bis zum 31. Oktober 2010 in der Sammlung Prinzhorn des Universitätsklinikums Heidelberg zu sehen.
Sammlung Prinzhorn
Sammlung Prinzhorn© Johannes Halder