Arme-Leute-Drogen in der Weihnachtsstube

Von Udo Pollmer · 18.12.2011
Pünktlich zur Weihnachtszeit lassen die bunten Räuchermännchen aus dem Erzgebirge wieder ihre Rauchschwaden durch die Stuben ziehen. Ein Blick auf alte Rezepturen verrät, warum diese Kerzchen so beliebt werden konnten.
Endlich darf wieder unbefangen geraucht werden: nämlich an Weihnachten. Da lassen die bunten Räuchermännchen aus dem Erzgebirge ihre Rauchschwaden durch die Stuben ziehen. Das Rauchverbot gilt eben nur für Menschen, aber nicht für Männchen. Ebenfalls ausgenommen sind die katholischen Kirchen. Auch dort wird der uralte heidnische Brauch des Verbrennens von Räucherwerk zur Beschwörung der Geisterwelt mit Hingabe praktiziert. Da schmurgelt der Weihrauch im Kessel.

Fast alle Völker kennen das Räuchern als kultische Handlung. Damit werden Dämonen beschworen und Besessene geheilt. Durch Inhalieren der Abgase wird ein Zustand der Trance angestrebt, der eine Verbindung zu den Göttern und ihren Paradiesen schafft. Ethnopharmakologen behaupten schon lange, dass nicht die Religion den Weg zur Trance ebnete, sondern die psychoaktiven Pflanzen dabei halfen, die Religionen zu begründen - auch die christliche.

Die Räuchermischungen verdanken ihre Bedeutung nicht nur ihren berauschenden Effekten, sondern auch so manch einem Wirkstoff, der gegen böse Geister wirkt. Genauer gesagt gegen kleine sechsbeinige Plagegeister. Wenn man die enorme Bedeutung von Wanzen, Läusen und Flöhen für die Menschheit berücksichtigt, war das Räuchern von großem Nutzen für Gesundheit und Lebensqualität. Myrrhe und Weihrauch werden in Ostafrika noch heute gegen Termiten und Moskitos verbrannt. Das Ausräuchern von Wespen ist bei uns ja auch gängige Praxis.

Einige populäre Räucherharze, wie Styrax, wirken antibiotisch, ihre Dämpfe wurden zur Behandlung von Atemwegserkrankungen genutzt. Nach Pestepidemien haben unsere Vorfahren die Gebäude ausgeräuchert – beispielsweise mit einer Mischung aus Schwefel, Weihrauch und Hopfen. In Japan war es früher üblich, auch die Kleidung mit speziellen Mischungen zu beräuchern – nach vorherrschender Meinung, nur um Wohlgerüche zu verbreiten, in Wirklichkeit dürfte das vor allem den Kleiderläusen und anderen Seuchenüberträgern gegolten haben.

In diesen Traditionen sind auch die erzgebirgischen Räucherkegel zu sehen. Trotz angeblich geheimer Familienrezepturen ist ihre Zusammensetzung wohl bekannt. Grundlage war leicht entflammbares Material wie Kohlepulver, Buchenmehl und Salpeter. Mit Wasser und Bindemitteln wie Kartoffelmehl, Gummi arabicum oder Traganth wurde ein Brei angerührt und bei Bedarf mit Harzen versetzt, namentlich solchen, die auch in den Kirchen in die Weihrauchkessel kamen, wie Styrax oder Perubalsam. Zur Parfümierung gaben die Hersteller ansonsten so ziemlich alles in den Brei, was irgendwie interessant roch, egal ob Kreosot, Cumarin oder Rosenholzöl.

Warum sich diese Kerzchen früher einer so großen Beliebtheit erfreuten, erklären ganz spezielle Zutaten, wie man sie älteren Rezepturen entnehmen kann. Da wird zum Beispiel Opium genannt. Oder der Stechapfel, ein Nachtschattengewächs wie das Bilsenkraut – früher typische Drogen der armen Leute. Ein Handbuch für Apotheker von 1897 verrät, was es mit der traditionellen grünen Farbe der Hütchen auf sich hatte: Damit die "Kerzchen hübsch grün aussehen" ist es "notwendig das beste Stechapfelblätterpulver zu nehmen". Und damit die grüne Farbe auch lange erhalten bleibt, wurde der fertige Kegel mit einer "weingeistigen Kalilauge" bepinselt. Also nix mit Tannengrün!

Inzwischen werden die erzgebirgischen Kegel von Räucherstäbchen aus Asien verdrängt. Die Ware auf unseren Weihnachtsmärkten stammt zwar meist aus Indien, hat aber eine andere Zusammensetzung als dort. Sie sind gewöhnlich nur mit billigen synthetischen Aromen hergestellt, sodass die ursprünglichen Wirkstoffe der in Indien heimischen Pflanzen nicht mehr im Rauch enthalten sind. Wer weiß, vielleicht ist das auch besser so. Frohes Fest!

Literatur
Hagers Enzyklopädie der Arzneistoffe und Drogen. WVG, Stuttgart 2007
Dieterich E: Neues Pharmazeutisches Manual. Springer, Berlin 1897
Langenheim JH: Plant Resins. Timber Press, Portland 2003
Howes FN: Age-old resins of the Mediterranean region and their uses. Economic Botany 1950, 4: 307-316
Lemenih M, Teketay D: Frankincense and myrrh resources of Ethiopia: II. Medicinal and industrial uses. Ethiopian Journal of Sciences 2003; 26: 161-172
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Merlin MD: Archaeological evidence for the tradition of psychoactive plant use in the old world. Economic Botany 2003; 57: 295-323
Rätsch C: Räucherstoffe: Der Atem des Drachen. WVG, Stuttgart 2007
Allegro JM: The Sacred Mushroom and the Cross. Doubleday & Co. Garden City 1970
Ruck CAP et al: The Apples of Apollo. Carolina Academic Press, Durham 2001