Argentinien in der Wirtschaftskrise

Zahlungsausfall statt Pleite

Blick auf das Kongress-Gebäude in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires
Blick auf das Kongress-Gebäude in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires © picture alliance / dpa /Scholz
Von Francisco Olaso · 03.03.2015
Zwar hat sich die argentinische Wirtschaft nach der Staatspleite vom Dezember 2001 wieder erholt. Trotzdem haben die Geldwechsler wieder Hochkonjunktur: Die Argentinier flüchten in Massen in den sicheren US-Dollar, weil sie der heimischen Währung nicht mehr vertrauen.
An einem langen, wie eine Theke gebogenen Schreibtisch sitzen Angestellte vor ihren Laptops und telefonieren. Dank der Aircondition ist es trotz der sommerlichen Hitze angenehm. Vor der Fensterfront aus getöntem Glas spielt sich der hektische Straßenverkehr von Buenos Aires ab. Aber es dringt kein Geräusch herein. An einer Glaswand hinter der Schreibtisch sind zwei bis zur Decke reichende Reproduktionen von Fotos befestigt, die einen Baseballspieler zeigen und einen gelben Bus. Sie sollen die Leistungsfähigkeit der Druckmaschinen unter Beweis stellen, die die Firma Gráfica Digital importiert und verkauft. Die argentinische Staatsbank verfügt über wenig Devisen und hat es schwer, Kredite zu bekommen. Die Regierung schränkt deswegen Importe ein. Mit den Folgen dieser Politik hat Juan Carlos Sierra zu tun. Der 46-jährige leitet die Firma seit zwanzig Jahren und wickelt seine Geschäfte in Dollars ab.
"Wenn ich Ware im Ausland bestelle, weiß ich nicht, welchen Preis ich schlussendlich zahlen werde. Ich brauche jedes Mal eine Genehmigung der Regierung und das dauert, wenn man Glück hat, zwei bis drei Wochen. Dann bestelle ich, und wenn die Ware verschifft wird, dauert es nochmal anderthalb Monate, bis sie da ist. Und wer weiß, wie hoch der Dollarkurs in zwei Monaten ist? Was tut man, wenn man unsicher ist? Man erhöht vorsichtshalber selber die Preise, um sich zu schützen. Es ist falsch, unnötigeVorkehrungen zu treffen, aber wenn man nüchtern rechnet, muss man sie treffen, denn sonst ist man schnell am Ende."
Hin und Her mit den Geierfonds
Genau ein Jahr ist es her, erinnert sich der stämmige Firmenchef, dass die Regierung den Peso um 25 Prozent gegenüber dem Dollar abgewertet hat. Das hatte Auswirkungen auf seine Preispolitik und auf die Gehälter seiner acht Angestellten. Von Berufs wegen verfolgt Juan Carlos Sierra aufmerksam das Hin und Her im Konflikt mit den Hedgefonds, die in Argentinien nur noch Geierfonds genannt werden. Da das letzte Gerichtsurteil Argentinien untersagt, Gläubiger, mit denen bereits eine Einigung erzielt wurde, auszuzahlen, sprechen die Ratingagenturen von einem "teilweisen Zahlungsausfall", nicht von einer Insolvenz wie die Regierung immer wieder betont. Juan Carlos Sierra lächelt. Für ihn sind das Spitzfindigkeiten.
"Die mögliche oder selektive Zahlungsunfähigkeit, oder wie auch immer das heißt, beeinflusst das tägliche Leben keines Argentiniers auch nur im Geringsten. Aber die aus dem Ganzen resultierende Ungewissheit natürlich schon, weil sie die Inflation anheizt. Die höhere Gewinnspanne in Pesos, die wir uns gönnen, um uns abzusichern, trägt ja zur Inflation bei. Na klar."
Der Konsum in Argentinien wird durch den Ratenkauf befördert: es ist durchaus üblich Autos und Haushaltsgeräte innerhalb einer Frist in Raten abzubezahlen. Kleine Unternehmen werden kaum unterstützt. Es ist sieben Uhr morgens. Pablo Castillo rollt Teig aus, formt kleine Kugeln daraus und drückt sie in Blechförmchen. Er trägt eine Schürze. Seine Haare stecken unter einer weißen Haube. Zwei Angestellte rollen ein Gestell mit Backblechen in die Kühlkammer. Der Teig muss aufgehen und kommt erst morgen in den Ofen. San Pedro ist eine idyllische Kleinstadt am Paraná, zwei Autostunden entfernt von Buenos Aires. Ein fester Programmpunkt für viele Wochenausflügler ist ein Besuch der Konditorei La Ensaimada von Pablo Castillo. Der fast zwei Meter große Konditor ist ein bekannter Fernsehkoch und berühmt für seine ensaimadas, ein Schmalzgebäck, das mallorquinische Einwanderer im späten neunzehnten Jahrhundert nach San Pedro mitbrachten.
"So ein verrücktes Geschäftsjahr wie das vergangene habe ich seit zehn Jahren nicht erlebt. Einen Monat lief es gut, den nächsten schlecht, dann wieder gut, dann schlecht. Vorher ging es immer nur aufwärts, ein Jahr war besser als das vorherige. Wenn die Inflation bei zwanzig Prozent lag oder sich die Lebenshaltungskosten um zwanzig Prozent erhöhten, stieg mein Gewinn um zwanzig Prozent. Es ist das erste Mal seit zehn Jahren, dass der Gewinn nicht mit der Inflation Schritt hält."
Nicht mit der Krise 2001 vergleichbar
Es ist neun Uhr. Im Café sitzen die ersten Frühstücksgäste: ein Ehepaar mit drei Kindern. Pablo Castillo nickt ihnen zu. Seit Eröffnung der Konditorei Anfang der 1990er Jahre hat er alle Höhen und Tiefen der argentinischen Wirtschaft durchgemacht. Auch wenn der Umsatz jetzt zurückgeht, behält er die Ruhe. Während der Krise 2001 zahlten Kunden mit Wertbons, die die Provinzregierung damals ausgab. Er erinnert sich, dass er mit Tüte voller Wertbons loszog, um sie in Geld umzutauschen, damit er seine Angestellten bezahlen konnte.
"Die gegenwärtige Krise kann man gar nicht mit 2001 vergleichen. Das ist völliger Quatsch. Aber die Medien der Opposition spielen mit diesem Vergleich... 2001 war so traumatisch, es war die größte Krise in der Geschichte Argentiniens und die Erinnerung ist noch frisch. An 2001 nur zu denken, ist ein Alptraum. Aber ich glaube nicht, dass wir wieder so weit sind."
Er zieht eine Ausgabe von Clarín aus dem Zeitungsständer. Das ist das Oppositionsmedium, das er meint. Dem Clarin-Konzern, dem auch Radio- und Fernsehkanäle gehören, wird von den Peronisten vorgeworfen, in den 1970er Jahren die Diktatur und in den 1990er Jahren die neoliberalen Regierungen unterstützt zu haben. Heute wolle Clarin Präsidentin Cristina Kirchner demontieren, die zum linken Flügel des Peronismus zählt und bei den ärmeren Bevölkerungsschichten immer noch viele Anhänger hat. Die Medien des Clarin-Konzerns kritisieren gerne die angebliche Unfähigkeit der Regierung in den Verhandlungen mit den Hedgefonds.
Ein Bild, das sich seit der Krise 2001 eingeprägt hat, sind die Altpapiersammler, die Buenos Aires durchstreifen. Damals waren es so viele, dass sich viele Bewohner des Stadtzentrums nachts nicht mehr auf die Straße trauten. Es gibt sie noch, und mit der Rezession werden es wieder mehr. Wenn sich nach Büroschluss eine Autoschlange über die Ausfallstraßen schiebt, müssen die Fahrer Karren ausweichen, auf denen sich Papier und Pappe bis zu drei Metern hoch türmen. Sie werden von Fußgängern geschoben, sogenannten cartoneros, die die Stadt nach nach recycelbarem Müll durchkämmen. Nélida Lopez stellt ihre Kunststoffbeutel mit einem Kubikmeter Fassungsvermögen neben dem Bordstein ab. Sie ist Anfang 50 und seit 15 Jahren cartonera.
"Wir fahren um vier Uhr nachmittags von zu Hause los, kommen hier um fünf, halb sechs an und fangen dann an. Manche Büros trennen den Müll schon für uns. Ansonsten musst du alles durchgucken. In meine Taschen hier kommen Papier, Pappe, Plastik und Flaschen rein (lässt die Flaschen klirren) ... und das da ist Abfall."
Mit dem Lkw in den Vorort zurück
Sie zeigt auf einige schwarze Plastiktüten, die sie gerade durchwühlt und danach verschlossen wieder auf den Bürgersteig gelegt hat. "Der Konflikt mit den Hedgefonds?" Sie zuckt mit Schultern. "Was soll ich dazu sagen?" Nélida verdient rund 170 Euro im Monat, wenn man den offiziellen Umtauschkurs zugrundelegt.
"Sie geben uns 2000 Pesos im Monat, mehr nicht. Jeden Samstag wird ausgezahlt. Dann hast du wenigstens etwas. Leider ist das Geld nichts wert. Hundert Pesos sind im Grunde so viel wert wie zehn Pesos. Manchmal finden wir im Abfall Kleidung oder Schuhe, und das verkaufen wir dann an Leute, die auf Märkte ziehen."
Nélida hebt die Taschen auf den vierrädrigen Metallkarren. Sie muss ihn noch etwa zehn Blocks weit schieben. Dort wartet ein Lkw, der sie in den Vorort zurückbringt.
Angehörige der Mittel- und Oberschicht flüchten vor der Abwertung des Peso in den Dollar. Nélida legt das verdiente Geld in Lebensmitteln an, die sie in den Supermärkten im Zentrum kauft. Hier werden die Preisabsprachen, auf die sich Regierung und Supermarktketten geeinigt haben, eingehalten, anders als in den Vororten.
Professor Ricardo Aronskind führt in sein Wohnzimmer. Ein Deckenventilator sorgt für angenehme Kühle. Ein Hund liegt auf einem Kissen und gähnt. In einem Regal stehen einige hundert CDs mit Musik aller Stilrichtungen. Ricardo Aronskind ist Mitte fünfzig. Seine Haare sind noch schwarz, aber sein Vollbart ist schon ergraut. Er ist Wirtschaftswissenschaftler an der Universität in Buenos Aires.
"Jeder weiß doch, - ganz egal ob er oder er politisch links steht oder rechts, ob er hier lebt oder im Ausland -,dass die aktuelle Situation der argentinischen Wirtschaft überhaupt nicht bedrohlich ist. Die Regierung hat sich mit Weltbank und Pariser Club geeinigt. Der einzige noch offene Streitpunkt war der mit diesen Hedgefonds. Und das Bemerkenswerte ist nun, dass dieses eine Gerichtsurteil die Normalisierung der Finanzbeziehungen Argentiniens mit dem Rest der Welt verhindert und den Zugang zum großen internationalen Kreditmarkt versperrt."
Ricardo Aronskind gibt Präsidentin Cristina Kirchner Recht, die sagt, für die Schulden seien ja ihre Vorgänger verantwortlich, Politiker, die in den 1990er wortgetreu die Ratschläge von Internationalem Währungsfond und Weltbank umgesetzt hätten. Für die aktuelle Rezession macht er die Kapitalflucht ins Ausland verantwortlich, fehlende Modernisierungsprozesse in Industrie und versäumte Investitionen auf dem Energiesektor.
"Unser Haupthandelspartner Brasilien stagniert wirtschaftlich. Und das ist vor allem für unsere Exportwirtschaft problematisch. Selbst die chinesische Wirtschaft wächst langsamer als erwartet. Wenn man sich bei den Nachbarn in Lateinamerika umschaut, schwinden die Devisenreserven überall. Die Krise schwappt vom Zentrum in die Peripherie über, und das bremst die wirtschaftliche Dynamik."
Regierung will verhandeln
Seit Anfang des Jahres - das besagt eine Klausel in den Verträgen mit den Gläubigern, mit denen Argentinien sich bereits geeinigt hat - dürfte das Land Gläubigern, mit denen es sich noch nicht geeinigt hat, bessere Konditionen anbieten, ohne befürchten zu müssen, dass die anderen die gleichen Konditionen einfordern. Die Regierung will verhandeln, aber nur mit Rückendeckung der internationalen Organisationen. Im Oktober sind Präsidentschaftswahlen. Die Oppositionskandidaten hüten sich, eine klare Position zu beziehen. Ricardo Aronskind nimmt an, dass die Hedgefonds lieber mit ihnen verhandeln würden.
"Sie warten darauf, dass eine für sie günstige Regierung an die Macht kommt, die ihnen das Höchstmögliche auszahlt. Aber wenn ein Kandidat der jetzigen Regierungspartei gewinnt, wird er mit dem staatlichen Vermögen genauso vorsichtig sein."
Szenenwechsel. Ein Café in einer von Akademikern und Mittelschicht bevorzugten Wohngegend von Buenos Aires. Doktor Victoria Giarrizzo nippt an ihrem Cappuccino. Er kostet heute doppelt so viel wie vor drei Jahren. Victoria Giarrizzo leitet das Centro de Economía Regional y Experimental, das untersucht, wie sich Wohlstand auf Zufriedenheit auswirkt. Jeden Monat erfragt die Ökonomin die Investitions- und Produktionserwartungen kleiner und mittlerer Industriebetriebe. Für sie steht fest, dass sich der Konflikt mit den Hedgefonds negativ auf Investitionen, Konsum und Beschäftigungslage auswirkt.
"Von den mittleren und den kleinen Unternehmen plant glaube ich, zur Zeit keines Investitionsprojekte. Das ist sehr schlimm, denn es sind ja gerade Investitionen im Produktionsbereich, die für Kapital sorgen, das dann wiederum Modernisierung und Wachstum ermöglicht und für mehr Beschäftigung sorgt. Das alles findet in Argentinien derzeit nicht statt."
Im vergangenen Jahr lag die offizielle Inflationsrate bei fast 24 Prozent. Victoria Giarrizzo nimmt, - wie Vertreter anderer Wirtschaftsforschungsinstitute -, an, dass es in Wirklichkeit 35 Prozent waren.
"Früher gab es auch schon Inflation, aber die bloße Tatsache, dass das mit einer Gehaltserhöhung verbunden war, stimmte euphorisch. Die Menschen fühlten sich reicher, gingen aus und konsumierten. Allmählich sind dahinter gekommen, wie es läuft: sie geben dir mehr Lohn, aber erhöhen auch die Preise. Und seit zwei, drei Jahren wird deutlich: Du wirst ärmer."