Architekt mit Augenmaß

Von Jochen Stöckmann · 20.01.2011
Wie sich nicht nur die Zeiten ändern, sondern auch der Umgang mit der gebauten Umwelt, das demonstriert jetzt die erste Bonatz-Retrospektive im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt am Main mit Zeichnungen, Fotos und Modellen.
Der Eingang ein byzantinisches Stadttor, die 20 Meter hohe Halle von den mächtigen Pfeilern eines antiken Tempels umkränzt, dazu die überlebensgroße Skulptur eines staufischen Ritters: Was nur bewegt die Bürger in Stuttgart dazu, für den Erhalt dieses fast 100 Jahre alten Bahnhofs und gegen einen modernen Neubau zu protestieren?

Cachola Schmal: "Ich würde behaupten, dass viele Leute heute gar nicht so angetan und begeistert von der Architektur sind, aber ihren Protest aus anderen Gründen für opportun halten. Aber der Stuttgarter Bahnhof ist ein Symbol für eine Haltung."

Diese "Haltung" spricht Peter Cachola Schmal, Direktor des Deutschen Architekturmuseums, Paul Bonatz zu: Auf diesen Architekten geht nicht nur der Stuttgarter Hauptbahnhof zurück, Bonatz baute Wohnsiedlungen und Wasserdämme, Bibliotheken und Brücken. Das facettenreiche Lebenswerk ist jetzt erstmals ausgestellt. Aber auf Anhieb ist den zahlreichen Aufrissen und historischen Fotografien, auch Entwurfsskizzen und Modellen keine eindeutige "Haltung" abzulesen.

Oder vermag Wolfgang Voigt, Kurator und Herausgeber des ungewöhnlich detailliert recherchierten Katalogs eine gemeinsame Handschrift, einen durchgängigen Bonatz-Stil erkennen bei dem auffällig gegliederten Kuppelbau der hannoverschen Stadthalle von 1910 und dem 1940 in öder klassizistischer Attitüde über 1,3 Kilometer Länge geplanten Riegel für das Berliner Polizeipräsidium?

Wolfgang Voigt: "Nein, das würde ich nicht. Dabei darf man aber auch nicht vergessen: Dazwischen liegen mehrere politische Brüche der härtesten Art. Bonatz findet sich dann in einer autoritären Baukultur wieder. Er schreibt in einem Brief 1941, dass 'jede Kritik verboten ist wird sich rächen'."

Vor der Anpassung in der Nazi-Diktatur hatte Bonatz das Ende des Kaiserreichs erlebt, als erfolgreicher Architekt hatte er es in der Weimarer Republik zum akademischen Lehrer und Gründer einer anerkannten "Stuttgarter Schule" gebracht. Aber der gebürtige Elsässer war kein Akademiker, sondern ein Mann der Tat, einer, der jede Gelegenheit beim Schopfe packt, ohne Ressentiments oder Vorurteile. Und so behielt dieser Architekt selbst in den Wirren der Revolution von 1918/19 sein Ziel im Auge, vom Bauen nicht nur zu reden, sondern die Pläne auch durchzusetzen:

"Bonatz ist im Moment der Novemberrevolution eigentlich der Einzige, der jetzt nicht die revolutionären Fantasien in Künstlerzirkeln ausformuliert, sondern der selbst Mitglied des Arbeiter- und Soldatenrates in Stuttgart wird und dort richtig Politik macht."

Diese Erfahrung mag sein Verhältnis zur Avantgarde geprägt haben. Als die Architekten der Bauhaus-Moderne ihre Reformvorstellungen 1927 mit der Weißenhofsiedlung in Stuttgart umsetzen wollen, hält Bonatz dagegen: Er bezweifelt den praktischen Nutzen der weißen Flachdach-Würfel, verlangt von Wohnhäusern "Wärme und Ruhe und Heimatgefühl", wie er es mit Einfamilienhäusern unter vertrauten Walmdächern in der benachbarten Kochdorfsiedlung realisiert.

Dabei folgte er seinem praktischen Sinn, keiner Aversion gegen die Avantgarde. Dann aber lässt Bonatz sich nach 1933 ideologisch vereinnahmen und redet - nach hitlerfeindlichen Äußerungen im kleineren Kreis - den Nazis nach dem Mund:

"Bonatz hat ganz klar ran wollen an die 'großen Aufgaben', wie er das nannte, von denen man etwa an 1934/35 wusste, dass sie kommen werden. Und er hat das eben geschafft bei der Autobahn, da kann man schon sagen, er hat sich angedient."

Allerdings verliert Bonatz gerade bei Hitlers Großprojekten nie sein Augenmaß. So zeichnet er eigenhändig und kommentarlos in den Entwurf seines eigenen Büros vor die monströse Kuppel von 270 Metern über dem Hauptbahnhof der sogenannten "Führerstadt" München maßstabsgerecht die fein gegliederte Fassade seines Stuttgarter Bahnhofs. Kurator Wolfgang Voigt:

"Diese an die große Halle angefügte Skizze des Stuttgarter Hauptbahnhofs, der ja winzig erscheint im Vergleich zu der Halle, das hat für mich die Aussage: Das Ganze ist zu groß, da ist jeder Maßstab verloren gegangen."

Diese brachiale Monumentalität von Hitlers Baumeistern erträgt Bonatz 1943 nicht mehr, er geht in die neutrale Türkei, kreiert dort einen unabhängigen nationalen Baustil. Denn auch mit orientalischen Einflüssen hatte der deutsche Architekt sich früh schon beschäftigt, etwa mit der Fassadengestaltung von Moscheen, die - kaum einer hat's bis jetzt gesehen - am Stuttgarter Bahnhof auftaucht:

"Der Entwurf stammt aus einer Zeit, nämlich kurz vor dem Ersten Weltkrieg, die sehr viel weniger nationalistisch war als die Jahrzehnte danach. Und da war eben kein Problem, Elemente aus dem Orient einzuführen in solch einer Architektur. Und es ist doch interessant, dass gerade jetzt wir diese Dinge wiederentdecken, wiederfinden, dass man auch weiß: In diesem Bahnhof steckt eine multikulturelle Geschichte."