Arbeitsforscher kritisiert Tendenz zu Niedriglöhnen

Moderation: Leonie March · 30.04.2008
Nach Berechungen des Arbeitsforschers Gerhard Bosch reißen die vielen Niedriglohnjobs beträchtliche Löcher in die Kassen der sozialen Sicherungssysteme. Durch die "enorme Lohnspreizung nach unten" entstehe bei den Sozialkassen ein Ausfall von 4,2 Milliarden Euro, sagte Bosch.
Leonie March: Zwar sinkt die Arbeitslosigkeit laut Statistik bundesweit. Allerdings liegt das auch daran, dass immer mehr Menschen Minijobs angenommen haben, nur teilzeitbeschäftigt oder Leiharbeiter sind. Einer aktuellen Studie des Instituts für Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen zufolge hat die Zahl der Geringverdiener rasant zugenommen. - Den Direktor des Instituts, Gerhard Bosch, begrüße ich nun am Telefon. Guten Morgen Herr Bosch!

Gerhard Bosch: Guten Morgen Frau March!

March: Wie groß ist der Niedriglohnsektor in Deutschland?

Bosch: Wir definieren Niedriglohn als zwei Drittel des durchschnittlichen Verdienstes. Das ist in Westdeutschland eine Schwelle von 9,30 Euro, in Ostdeutschland von 6,80 Euro. Das sind internationale Definitionen. Danach sind 22 Prozent der Beschäftigten in Deutschland Niedriglohnverdiener. Damit haben wir Großbritannien überholt, liegen den USA dicht auf den Fersen. Wir nähern uns den USA rapide - das ist das überraschende Ergebnis für uns gewesen -, während Länder wie die Niederlande, Dänemark oder Frankreich weit niedriger liegen. In Dänemark zum Beispiel bekommen nur 8,5 Prozent aller Beschäftigten einen Niedriglohn. Dort liegt der Mindestlohn, der tariflich vereinbart wurde, bei zwölf Euro die Stunde und das hat der Beschäftigung überraschenderweise nicht geschadet.

March: Woran liegt das, dass die Zahl der Geringverdiener in Deutschland in den letzten Jahren so dramatisch gestiegen ist?

Bosch: Dafür gibt es viele Gründe. Wir waren eigentlich immer bekannt als ein Land mit einer ausgeglichenen Einkommensstruktur bis 1995. Das lag daran, dass eigentlich fast jeder in Deutschland nach Tarif bezahlt wurde. Und auch die Betriebe, die nicht an den Tarif gebunden waren, haben sich am Tarif orientiert. Das hat sich geändert. Viele Unternehmen haben den Arbeitgeberverband verlassen oder sind gar nicht erst eingetreten – vor allem im Dienstleistungsbereich – und zahlen deutlich schlechter.

Ein zweiter Grund ist das Outsourcing. Das heißt, Unternehmen führen bestimmte Tätigkeit nicht mehr selber durch, sondern geben sie an billigere Subunternehmer und Sub-Subunternehmer. Zum Beispiel selbst so schlecht bezahlte Tätigkeiten wie Zimmerreinigung im Hotel oder in Krankenhäusern wird ausgelagert, damit man noch schlechter zahlen kann.

Dann kommen die Hartz-Gesetze dazu. Die haben dem Niedriglohnsektor noch mal einen richtigen Schub gegeben. Man hat die Grenze für die Minilöhne von 200 auf 400 Euro heraufgesetzt und über 80 Prozent der Minilöhner bekommen einen Niedriglohn. Und die Leiharbeiter hat man zugelassen ohne jede Grenze des Verleihs und in diesem Bereich finden sich auch sehr viele schlechte Löhne.

March: Stellt sich die Situation bei der Leiharbeit denn ähnlich dar? Verzeichnen sie auch hier eine deutliche Zunahme?

Bosch: Eine ganz rasante Zunahme, und zwar gerade in den Kernbereichen unserer Industrie. Ursprünglich war ja in den Hartz-Gesetzen vereinbart, dass Leiharbeiter den gleichen Lohn bekommen wie die Beschäftigten in dem Betrieb. Das wird aber unterlaufen, weil man Tarifvereinbarungen abschließen kann, die niedriger liegen. Da gibt es mit den christlichen Gewerkschaften eine Gewerkschaft, die bereit ist, quasi jeden Tarifvertrag zu unterzeichnen. Da werden Stundenlöhne von 4,50 Euro tarifvertraglich unterzeichnet. Da können Sie sich vorstellen: das ist natürlich sehr attraktiv, wenn ein Metallbetrieb, der einem Ungelernten nach Tarif 10,40 Euro zahlen muss, auf einmal einen so billigen Leiharbeiter einkaufen kann.

March: Sind diese Leiharbeiter denn zusätzliche Arbeitskräfte, oder ersetzen die Unternehmen mit ihnen einen großen Teil des Stammpersonals?

Bosch: Sowohl als auch. Das ist ganz unterschiedlich. Wir finden Betriebe, die in hohem Maße ihre Kernmannschaft abschmelzen und jetzt auf Produktionslinien Leiharbeiter einsetzen. Überwiegend handelt es sich aber jetzt, weil die Leiharbeiter vielfach in der verarbeitenden Industrie eingesetzt werden – und die boomt ja, wie das in Ihrem Beitrag auch sehr schön dargestellt wurde -, um zusätzliche Arbeitsplätze. Trotzdem: bei den zusätzlichen Arbeitsplätzen wären ja ansonsten viele Stammkräfte gewesen.

March: Nun zahlen Geringverdiener ja keine Sozialabgaben. Welche mittel- und langfristigen Konsequenzen hat das?

Bosch: Sie zahlen auch Sozialabgaben, wenn sie mehr verdienen als einen Minijob. Da gilt ja die Sozialversicherungspflicht für die Arbeitgeber und für die Beschäftigten. Um den Ausfall mal zu berechnen, muss man ja irgendeine Annahme treffen, was sie eigentlich verdient hätten oder verdienen könnten. Wir sind mal von einem Mindestlohn von 7,50 Euro ausgegangen. Das liegt ja noch unterhalb der Mindestlöhne in Frankreich oder in anderen westlichen Industrieländern. Danach entsteht den Sozialkassen in Deutschland durch diese enorme Lohnspreizung nach unten ein Ausfall von 4,2 Milliarden Euro. Also das ist ein ganz beträchtliches Loch in unserer Sozialversicherung.

March: Hat die Politik dieses Problem schon erkannt?

Bosch: Die Politik hat ja erst mal das gewollt. Wir haben ja in der Agenda 2010 eine Diskussion in Deutschland geführt, wir müssen einen Niedriglohnsektor einführen. Man hat so getan, als ob wir den gar nicht hätten. Dabei hatten wir schon einen großen Niedriglohnsektor. Und man hat ihn gewollt, politisch gewollt! Wir diskutieren heute, jetzt wo die Zahlen ans Tageslicht kommen, wie kann man die Folgen begrenzen. Der Vorschlag einer Mindestrente von Herrn Rüttgers ist ja nichts anderes als ein Reparaturversuch, weil niedrige Rentenansprüche entstehen auch und größtenteils vor allem bei den langfristigen Beitragszahlern – und auf die zielt ja Rüttgers Vorschlag – durch schlechte Verdienste im Arbeitsleben. Das halte ich zum Beispiel für falsch, bei der Rente nur anzusetzen, weil die Rente kann ja nicht alle Probleme des Arbeitsmarktes lösen, sondern da muss man schon im Arbeitsmarkt auch ansetzen – durch Mindestlöhne etwa.

March: Vor dem "Tag der Arbeit" nennt die SPD-Führung Vollbeschäftigung als Ziel für das nächste Jahrzehnt. Bundesarbeitsminister Scholz wird heute mit dem Satz zitiert, "Vollbeschäftigung ist kein Traum, sondern ein realistisches Ziel". Würden Sie angesichts der aktuellen Situation, die Sie gerade umrissen haben, eher von einem Albtraum sprechen?

Bosch: Das Ziel ist ja kein Albtraum. Das wünsche ich mir auch. Ich kann mich nur wundern, dass man jetzt angesichts der Zahlen, die wir ja noch haben, über drei Millionen Arbeitslose, schon von Vollbeschäftigung spricht. Wir haben Regionen mit Vollbeschäftigung, wo dringend Arbeitskräfte gebraucht werden, und es zeigt sich auch, dass wir schon, obwohl wir noch weit von der Vollbeschäftigung entfernt sind, echte Probleme haben, gute Leute zu finden, weil zu wenig ausgebildet wurde. Hier liegt ein echtes Versäumnis vor. Ich denke, wir können ein hohes Beschäftigungsniveau von drei, vier Prozent Arbeitslosigkeit erreichen wie in Dänemark oder wie in den Niederlanden. Dafür brauchen wir aber mindestens noch drei Konjunkturaufschwünge.

March: Und Vollbeschäftigung auf dem Rücken von Geringverdienern will natürlich auch niemand oder?

Bosch: Nein. Das ist eigentlich die schwierige oder die Sondersituation. Wir haben den ersten Wirtschaftsaufschwung im Moment. Die Exportwirtschaft vor allem brummt. Bis zur jetzigen Lohnrunde sind die Reallöhne zurückgegangen. Unser Wirtschaftsaufschwung steht sozusagen auf einem Bein. Die Waren fließen in hohem Tempo ins Ausland ab, werden dort nachgefragt, uns aus den Händen gerissen, und im Inland schrumpft der Einzelhandel, weil die Nachfrage nach Konsumgütern nicht steigt, weil die Leute nicht mehr Lohn in der Tasche haben. Wir werden Vollbeschäftigung nur erreichen, wenn der Konjunkturaufschwung nicht mehr auf einem, sondern auf zwei Beinen steht.

March: Gerhard Bosch, der Direktor des Instituts für Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen. Herzlichen Dank für das Gespräch!

Bosch: Danke schön.