Arbeiten ohne Chef

"Auf den Stundenlohn darf ich nicht schauen"

Arbeiten im Freien: Drei Aktenordner und ein Laptop auf einem Tisch in einem Garten.
Arbeiten im Freien: Drei Aktenordner und ein Laptop auf einem Tisch in einem Garten © picture alliance / dpa
21.07.2014
Vom Imbissbesitzer bis hin zum Industriellen - etwa zwölf Prozent der Berufstätigen in Deutschland sind selbstständig. Viele sind Geringverdiener und sozial schlecht abgesichert. Trotzdem ist die freie Tätigkeit oft eine bewusste Entscheidung.
Lasch: "Wenn ich für diese Agentur arbeite, habe ich einen Tagessatz von 300 Euro."
Stefan L.: "Ich sehe keine Zukunft für mich. Aber ich möchte eine Zukunft für meine Kinder haben."
Bulut: "Wir wollten selbstständig werden, nicht für irgendjemanden arbeiten, sondern für uns selber."
Lessmann: "Die Unabhängigkeit ? (lacht) Freiheit kostet immer etwas."
Hornung: "Ich hab' ein Einkommen von etwa zweieinhalbtausend Euro im Monat."
Lasch: "Im letzten Jahr wäre ich eigentlich Hartz-IV- Empfängerin gewesen. Das ist mal so, mal so. Aber ich bin damit ja nicht alleine, das geht fast allen Freien so."
Hornung: "Der Laden muss geputzt werden - das machen wir auch selber."
Lichtmanecker: "Wenn da fast nichts übrig bleibt zum Leben - da nützt die tollste Arbeit nichts. Aus diesem Grund hab ich dann wieder aufgehört. Die Arbeit selber war schön, wunderbar..."
Kirsch: "Manchmal kommt eine heillose und riesige Wut. Ich habe Kollegen zerbrechen sehen."
In kaum einer Szene der Arbeitswelt unterscheiden sich Qualifikation, Einkommen und sozialer Status so sehr wie unter den weit über vier Millionen Selbständigen. Zwölf Prozent aller Berufstätigen in Deutschland verdienen ihr Geld etwa als Industrielle, Filmschauspielerinnen, Fachärzte und Architektinnen - oder auch als Heizungstechniker, Imbissbesitzerinnen, Kleinbauern und Zeitungshändlerinnen.
Und die Selbständigen werden immer mehr. Viele können ihre Träume verwirklichen. Andere flüchten vor drohender oder erlebter Arbeitslosigkeit in einen Job "auf eigene Rechnung". Das Bild ist bunt und voll schroffer Kontraste. Den meisten Reichen begegnet man in den Reihen der Selbständigen, gleichzeitig leben etwa zwei Millionen Klein- und Kleinstunternehmer ziemlich bescheiden. Hunderttausende kommen nicht einmal auf den neuen Mindestlohn für Arbeiter und Angestellte. Andere entgehen der Armut nur um den Preis extrem langer Arbeitszeiten. Enorm ausgebreitet hat sich außerdem Scheinselbstständigkeit.
Bulut: "Baklava ist eine türkische Süßspeise mit Pistazien, Haselnüssen gefüllt. Früher haben das die Könige gegessen. Es ist ein Genuss, ein Traum..."
Ali Bulut eröffnete zusammen mit seinem Bruder und seinen zwei Schwestern die Konditorei "Paşam Baklava" in Berlin-Schöneberg.
Bulut: "Die erste Zeit - neunzig Prozent unserer Kunden waren Türken. Mit der Zeit kamen auch die Deutschen dazu. Wir beliefern auch große Hotels, viele Restaurants. Wir beliefern viele Botschaften. Heute - wir arbeiten immer weniger, aber verdienen immer mehr."
Lessmann: "Wenn Sie drei Türen in das dritte Stockwerk hoch tragen oder wenn Sie hundert Quadratmeter Rigipsplatten angebracht haben, dann wissen Sie, was Sie gemacht haben."
Georg Lessmann, Schreiner in Duisburg-Marxloh.
Hornung: "Man muss sehen, dass man sich immer weiter qualifiziert - das ist das Wichtigste überhaupt."
Detlef Hornung lernte Büromaschinenmechaniker, noch in der Ära der Schreibmaschinen. 1980 übernahm er ein Fachgeschäft in Berlin-Wilmersdorf. Heute verkauft er Kopiergeräte an Firmenkunden und hält sie instand.
Lasch: "Da stand ich mit anderthalb Jahren Berufspraxis ohne entsprechendes Studium auf der Straße. Ich hab' mir dann noch eine Abfindung erklagt. Das war mein Startkapital."
Angestellt bei einer Zeitung, die schnell vom Markt verschwand
Gundula Lasch begann ihr Arbeitsleben im Leipzig der 80er-Jahre als Verlagskauffrau. Sie engagierte sich in der Oppositionsbewegung. In der unruhigen Zeit nach der Wende 1990 gelang ihr der Einstieg in ihren Traumberuf Journalistin, als festangestellte Redakteurin einer Tageszeitung - die aber unerwartet rasch vom Markt verschwand.
"Seitdem bin ich selbständig - ununterbrochen. Nach ein paar Jahren war ich bei der 'Zeit', der 'Welt am Sonntag'. Ich war richtig gut im Geschäft."
Kirsch: "Der Kurs, den ich im Augenblick habe, ist ein Integrationskurs für Einwanderer. Ich habe zum Teil studierte Leute neben solchen, die keine zwei Jahre in die Schule gegangen sind. Das ist schwierig. Ich finde es aber auch sehr reich und sehr schön. Meine Teilnehmer fühlen sich wohl, lachen, sind entspannt, sind gerne da."
Der Sprachlehrer Karl Kirsch, ebenfalls aus Leipzig.
Brenke: "Der größte Teil sind Selbständige, die keine Mitarbeiter haben. Zu diesen 'Soloselbständigen' zählen in Deutschland etwa 2,5 Millionen. Bei 1,8 Millionen liegt die Zahl der Selbstständigen, die Mitarbeiter beschäftigen."
Karl Brenke, Ökonom am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Selbstständige arbeiten fast überall in der privaten Wirtschaft. Heftig verändert hat sich im Lauf der Zeit die Branchenstruktur. Bei der Gründung der Bundesrepublik beschäftigte die Landwirtschaft die weitaus meisten Kleinunternehmer. Heute mühen sich nur noch 300.000 von ihnen - im Hauptberuf - zwischen Maisplantagen, Melkmaschinen und Pflaumenbäumen. Stattdessen setzt sich die "Dienstleistungsökonomie" durch.
"Was besonders stark gewachsen ist: die sogenannte kreative Klasse - dass Publizisten, Künstler und ähnliche im Wirtschaftsleben deutlich an Gewicht gewonnen haben. Und die sind oftmals selbstständig."
Ein Drittel in den "wissensintensiven" Dienstleistungen
In der Welt "wissensintensiver" Dienstleistungen ist inzwischen ein Drittel der deutschen Selbständigen aktiv.
Lessmann: "Mein Vater ist nach dem Krieg aus dem Sudetenland hierher geflohen und hat sich mit zweien seiner Brüder selbständig gemacht. Die Gebrüder Lessmann. Die hatten eine Leistenfabrikation. Wir hatten mal 15, 18 Angestellte."
Georg Lessmann aus Duisburg. In der frühen Bundesrepublik schienen die Perspektiven für Existenzgründer sehr gut zu sein. Aber schon in den 60er- und 70er-Jahren war die "kleine" Selbständigkeit ein Auslaufmodell, Millionen Landwirte, Einzelhändlerinnen und Handwerker mussten angesichts der Konkurrenz größerer, produktiverer Betriebe aufgeben. Als der Schreiner Lessmann das Familienunternehmen 1987 übernahm, lohnte sich die Leistenherstellung nicht mehr - nur zwei Mitarbeiter standen noch an den Maschinen. Heute fertigt der Betrieb Einrichtungsgegenstände oder Bilderrahmen "nach Maß", führt Reparaturen an Treppen oder Türen aus.
"Keiner kauft sich beim Schreiner heute einen Stuhl. Ich kann die nicht bauen für 39 Euro. (lacht) Da gibt es so komische Firmen aus Schweden glaube ich."
In etlichen Branchen hält dieser Strukturwandel noch an. Die Landwirte werden weniger und weniger. Filialketten wie IKEA, H&M und Media Markt, aber auch Internetfirmen wie hotel.de, Zalando und amazon verdrängen Geschäftsleute "klassischen" Typs. Dieser klassische "Typ" war in der DDR schon lange ausgestorben als die Wende kam. Ende der 80er-Jahre gab es dort gerade mal 200.000 Selbstständige. Fast alle Bauern und viele Handwerker mussten sich staatlich kontrollierten Genossenschaften anschließen.
In den Neunzigern nahm die Entwicklung in beiden Teilen Deutschlands wieder eine andere Richtung. Die Gründung immer neuer Klein- und Kleinstunternehmen gehört inzwischen zu den Megatrends in der Arbeitsgesellschaft. Der Experte Karl Brenke vom DIW erwähnt als Beispiel:
"Zugenommen hat die Selbständigkeit in den Bauberufen. Hier ist die Quote der Selbständigen seit Anfang der 90er-Jahre von neun auf 20 Prozent gestiegen."
Eine junge Frau sitzt im Homeoffice an ihrem Laptop.
Eine junge Frau sitzt im Homeoffice an ihrem Laptop.© picture alliance / dpa
Arbeitslose entschlossen sich zur "Existenzgründung"
Der Hintergrund: Größere Unternehmen steigerten ihre Gewinne, indem sie Arbeit auslagerten und von billigeren Selbständigen erledigen ließen - etwa in Lagerhallen, Kantinen und Callcentern, bei Reinigung, Transport oder Bewachung. In diesen Sog gerieten auch qualifizierte Gruppen wie Publizistinnen und Dozenten. Gleichzeitig entschlossen sich immer mehr Arbeitslose zur "Existenzgründung". Unzählige Menschen verloren zwischen Kiel und Freiburg ihre Jobs in Kohlegruben, Stahlwerken, Werften oder Textilfabriken - es entstanden aber nicht genug neue Stellen in der Welt der Dienstleistungen.
Geradezu einen Boom des kleinen Unternehmertums erlebte Ostdeutschland in der Umbruchzeit nach der Wiedervereinigung. Die angestellte Redakteurin Gundula Lasch aus Leipzig verwandelte sich unfreiwillig in eine freie Journalistin:
"Wir haben eine Zeitung gemacht und wurden abends nach der Produktion einbestellt - wo man uns gesagt hat, dass die heutige Ausgabe die letzte ist."
Seit den Hartz-Reformen um 2004 propagierten Wirtschaftspolitiker fast leidenschaftlich Selbständigkeit als den Ausweg aus der Arbeitslosigkeit. Die Jobcenter drängten zur Gründung von sogenannten Ich-AGs.
Bulut: "Du als Türke - du würdest nie aufsteigen können."
Der Restaurantfachmann Ali Bulut war zuerst in einem Hotel angestellt. Migranten und Migrantinnen sind überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit bedroht, sie werden häufiger in perspektivlose Jobs abgeschoben. Manche sind geringer qualifiziert, andere treffen auf Vorurteile. Daher sehen viele keine Alternative zur "Existenzgründung".
In den 60er- und 70er-Jahren eröffneten Türken, Polen oder Italiener vor allem kleine Lebensmittelgeschäfte, Imbisse und Restaurants. Heute arbeiten über 700.000 von ihnen in den unterschiedlichsten Branchen als Selbstständige.
Stefan L.: "Seit vier Jahren bin ich hier. Am Anfang war es sehr schwer. Die einzige Möglichkeit für uns war, ein Gewerbe aufzumachen. Das war der einzige Weg, hier Geld zu verdienen."
Stefan L. kam aus Bulgarien nach Duisburg. Er besitzt eine kleine Baufirma. In den letzten Jahren versuchten zahlreiche Zuwanderer aus Bulgarien und Rumänien eine Existenzgründung in Deutschland. Vor allem Hochschulabsolventen waren willkommen. Bis Ende 2013 galten aber Bestimmungen, die es gering Qualifizierten aus den beiden EU-Ländern fast unmöglich machten, sich eine Anstellung zu suchen. Diese Kleinunternehmer arbeiten oft in Bau- oder Transportberufen und in der Gebäudereinigung.
Stefan L.: "Große Probleme sind auch vom Finanzamt gekommen - wegen der Steuernummer. Ohne sie waren keine Überweisungen möglich. Meine Vermutung ist: Die deutschen Behörden machen uns noch zusätzliche Schwierigkeiten. Das ist ein bitteres Gefühl. Nur auf dem Papier bin ich EU-Bürger."
Mehr oder weniger unfreiwillige Flexibilität ist in der Arbeitswelt alltäglich geworden. Auch deswegen gibt es in Deutschland inzwischen fast ein Drittel mehr Selbständige als zu Beginn der 90er-Jahre.
Brenke: "Jemand, der selbstständig ist, ist mit seiner Arbeit zufriedener als ein Arbeitnehmer."
Hornung: "Wenn man jung ist, hat man keine Angst."
Bulut: "Wir wollten selbstständig werden, nicht für irgendjemanden arbeiten, sondern für uns selber. Wenn du im Hotel arbeitest - was willst du da verdienen?"
Lasch: "Da stellte ich fest, dass ich das gar nicht mehr kann - mich in Abläufe zwängen zu lassen, die nicht meine sind."
Typisch sind mittelgroße, kleine und kleinste Unternehmen
Selbstständigkeit ist nicht nur ein Fluchtpunkt. Viele Menschen entscheiden sich für dieses Abenteuer, weil sie gegenüber der Welt der Angestellten ein Plus an Selbstbestimmung, Anerkennung, Einkommen oder Zeitsouveränität erwarten. Manchmal gehen diese Wünsche in Erfüllung, manchmal bleiben sie eine Illusion.
Typisch für die Welt der Selbständigen sind mittelgroße, kleine und kleinste Unternehmen. Dazu zählen international konkurrenzfähige Automobilzulieferer und "regional führende" Baufirmen ebenso wie die Pizzeria und der Zeitungsladen um die Ecke. Diese Firmen bieten die große Mehrzahl der Arbeitsplätze in Deutschland. Die Eigentümer sind gewöhnlich zugleich Geschäftsführer. Ihre Einkommen fallen äußerst unterschiedlich aus - auch innerhalb derselben Branche.
Größte, aber einflussloseste Gruppe sind die zweieinhalb Millionen Kleinunternehmer, die alleinarbeiten. Für sie setzt sich allmählich der Begriff "Soloselbständige" durch. Unter ihnen sind Taxifahrer und Konzertpianistinnen, Eisverkäufer, Jeanshändlerinnen und Heizungstechniker, Übersetzer, Softwareexpertinnen…
Außer diesen über vier Millionen hauptberuflich Aktiven verdienen sich noch bis zu einer Million Arbeiter oder Angestellte mit einem selbständigen Nebenjob etwas dazu.
Auch auf einigen Märkten "im Schatten" arbeiten fast alle auf eigene Rechnung - so hunderttausende Dealer und Prostituierte. Wissenschaftliche Untersuchungen schätzen die Umsätze allein im Rotlichtmilieu in Deutschland auf fünf bis 15 Milliarden Euro jährlich - mehr als in so manch anderer Branche.
Es gibt noch eine ganz besondere Gruppe von - mehr oder weniger - Selbständigen.
Lichtmanecker: "Diese Scheinselbstständigkeit - nur mit einer Firma zusammenarbeiten, das ist Risiko pur."
Scheinselbstständigkeit hat seit den 90er-Jahren stark zugenommen. Genaue Zahlen fehlen. Betroffen sind wahrscheinlich mehrere hunderttausend Menschen - in Bau- oder Transportberufen, in der Altenpflege, unter Versicherungsvertretern oder Journalisten. Silva Lichtmanecker aus Ludwigsburg bei Stuttgart war meist festangestellt, einige Zeit auch scheinselbständig. Sie fährt Schulbusse, Lkw oder Betonmischer.
"Dann war ich 25 Jahre im gleichen Betrieb. Dann stand ich da, entlassen. Und mit 56 Jahren etwas zu bekommen, ist verflixt schwer. Über diese Zeitarbeitsfirma wurde ich vermittelt zu einer Spedition als Urlaubsvertretung. Der hat mir dann das Angebot gemacht, dass ich weiter für sie tätig sein könnte. Ich würde ein eigenes Fahrzeug kriegen. Ich müsste ihm im Monat dann immer eine Rechnung stellen.
Mir erschien der Verdienst da gut. Dass ich von dem Geld auch noch die ganzen Abgaben zu zahlen hab, das war mir zu diesem Zeitpunkt nicht klar. Die soziale Absicherung - das musste ich alles selber in die Hand nehmen. Wenn ich das abgerechnet hatte - da blieb ja nichts mehr übrig. Und hab dann gesagt 'Nein, so machen wir das nicht. Stellen Sie mich fest ein'. - 'Das geht nicht.' - 'Dann kann ich auch nicht hier fahren.'"
Nicht nur renditebewusste Firmenmanager, auch öffentliche Arbeitgeber möchten nicht auf solche Chancen zur Kostensenkung verzichten.
Brenke: "Selbstständigkeit hat erstaunlicherweise auch erheblich zugenommen bei Lehrern. Es sind Personen, die in der Erwachsenenbildung tätig sind, an Volkshochschulen oder bei der Weiterbildung von Arbeitslosen..."
Kirsch: "Die behandeln uns als Selbständige - aber eigentlich ist alles fertig: unser Stundenplan, unser Lehrplan, unsere Lehrziele, unsere Stundenanzahl. Im Prinzip arbeiten wir als fest eingeplante Lehrer für staatliche Aufgaben."
Scheinselbstständig - keine Sozialabgaben, kein Kündigungsschutz
Karl Kirsch, der im Auftrag des Staates Migranten unterrichtet. Scheinselbständige leisten das Gleiche wie Angestellte. Sie sind gewöhnlich von nur einem Auftraggeber abhängig. Dieser überweist für sie keine Sozialabgaben, er erspart sich auch Urlaubsansprüche und Kündigungsschutz. Missbrauch ist allerdings nicht leicht nachzuweisen, viele "unechte" Selbständige scheuen Einspruch. Vor Gericht können sie Ansprüche nur mühsam durchsetzen. Silva Lichtmanecker glaubt, dass die Gesetze zu weite Lücken lassen:
Lichtmanecker: "Das finde ich überhaupt nicht richtig - der Staat müsste viel mehr tun."
Kirsch: "Auf den Stundenlohn darf ich nicht schauen!"
Stefan L.: "Ich habe immer sehr wenig verdient und mit sehr viel Stress war alles verbunden."
Bulut: "Ich bin zufrieden, sehr zufrieden."
Lasch: "Ich weiß, dass ich bei der gesetzlichen Rente noch nicht einmal 500 Euro habe."
Das Abenteuer Selbstständigkeit kann ein komfortables Leben oder sogar Reichtum bedeuten - und es kann brutal sein. Der Boom der Existenzgründung ist längst mit einem anderen Megatrend verschmolzen - der Ausbreitung "prekärer", gering bezahlter und sozial kaum abgesicherter Arbeit. Auch zahlreiche "echte" Selbständige leben am Rand des Existenzminimums oder darunter.
Brenke: "Die Selbstständigen mit Arbeitnehmern kommen auf ein deutlich höheres Einkommen als die Soloselbständigen. Im Mittel kommen die ersten auf 5000 Euro pro Monat, ein Soloselbständiger nur auf 2900 Euro."
Der Wissenschaftler Karl Brenke.
Brenke: "Gerade unter den Soloselbständigen gibt es viele, die nur spärliche Einkommen haben. Ein Viertel kommt nur auf ein Bruttoeinkommen pro Monat von 1600 Euro. Zehn Prozent haben nicht mal 800 Euro."
Selbständige ausländischer Herkunft verdienen im Durchschnitt deutlich weniger als Deutsche. Das Einkommen der freien Journalistin Gundula Lasch entwickelte sich so:
Lasch: "Stetig bergab ! Seit 2002 wirklich stetig bergab. Bei mir war es im letzten Jahr so, dass ich Monatsumsätze zwischen 0 und 900 Euro hatte."
In letzter Zeit haben sich ihre Umsätze aber stabilisiert.
Hornung: "Wie soll ich sagen - man kommt mit einem kleinen Auto genauso gut durch die Stadt wie mit einem großen. Ich hab ein Einkommen von etwa zweieinhalbtausend Euro im Monat. Das reicht schon."
Der Bürotechnikexperte Detlef Hornung. Ist der Schreiner Georg Lessmann mit seinem Einkommen zufrieden?
"Nein. Ganz klares Nein!"
Kirsch: "Ich habe mal auf den Stundenlohn geschaut, ich habe es mal durchgerechnet, ich habe meine Vor- und Nachbereitungszeiten einberechnet - ich bin auf 6,50 Euro pro Zeitstunde gekommen, netto."
Der Dozent Karl Kirsch. Viele Selbständige können sich nur durch überlange Arbeitszeiten einen annehmbaren Lebensstandard sichern. Die Mehrzahl ist mindestens 48 Stunden pro Woche aktiv.
Hornung: "Die Arbeitszeit geht von 8 bis 18 Uhr, samstags von 10 bis 13 Uhr.
Bulut: "Ich und mein Bruder, wir arbeiten schon mehr als 48 Stunden. Als wir den Laden aufgemacht haben, waren das viel, viel mehr Stunden damals."
Lessmann: "70 Stunden mindestens."
Lasch: "Eigentlich müsste es drin sein, dass man mit 40 Stunden seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Da das nicht der Fall ist, läuft es halt so. Wie lange ich das aushalte, weiß ich nicht."
Die Hälfte der Selbständigen mit Beschäftigten verdient weniger als 18 Euro pro Stunde, die Hälfte der "Soloselbständigen" weniger als 13 Euro - brutto. Das sind keine aufregenden Summen.
Zahlreiche Selbständige verfügen nur über eine bescheidene finanzielle Absicherung für Krankheit und Alter - oder über gar keine.
Stefan L.: "Nachdem ich das Gewerbe aufgemacht hatte, musste ich 350 Euro für Krankenversicherung bezahlen. Ich war verzweifelt - ich wusste nicht, wie ich dieses Geld aufbringen soll."
Der kleine Bauunternehmer Stefan L.. Gundula Lasch profitiert von einer Sonderregelung für künstlerische und publizistische Berufe...
Lasch: "... weil ich in der guten Lage bin, dass ich die Künstlersozialkasse in Anspruch nehmen kann, die - ähnlich wie bei Arbeitnehmern der Arbeitgeber - die Hälfte der Beiträge übernimmt. Insofern bin ich kurzfristig gut abgesichert."
Mit Blick auf die Zeit nach dem Arbeitsleben hebt Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung hervor,
"dass der größte Teil der Soloselbständigen nicht abgesichert ist, wenn man betrachtet, ob sie in Rentenversicherungen einzahlen oder in Lebensversicherungen, die über eine größere Summe laufen."
Georg Lessmann hält einen Verkauf seiner Schreinerei für möglich - das käme seiner Altersversorgung zugute. Der Bürotechnikexperte Detlef Hornung dagegen ist skeptisch:
"Ich gehe davon aus, dass ich den Betrieb nicht mehr verkaufen kann."
Karl Kirsch ist bereit, noch lange zu arbeiten:
"Ich kann hoffen, dass ich gesund bleibe - und dann kann ich bis 70, 75, vielleicht auch 80 unterrichten."
Durch selbständige Arbeit kann man arm werden - hunderttausende haben das in den letzten Jahrzehnten erlebt. Gleichzeitig trifft man unter den Selbständigen auffallend viele Reiche: Ärztinnen, Anwälte, Steuerberaterinnen oder Architekten - und vor allem die Chefs größerer Industrie- und Dienstleistungsfirmen, manchmal auch Handwerksbetriebe.
Kirsch:"Ich weiß, dass ich eine gute Arbeit mache. Ich kann meine Kleider ansehen, wo sie abgetragen sind, ich weiß, was in meinem Haushalt fehlt. Ich weiß, dass ich nie verreisen kann. Ich weiß, dass ich mir kein neues Fahrrad kaufen kann, obwohl ich mir sehr gern eines kaufen würde."
Der Sprachlehrer Karl Kirsch.
Stefan L.: "800 bis 1000 im Monat - nein, das ist nicht okay. Ich bin in eine Depression reingerutscht wegen all dieser Sorgen. Wir konnten in diesem Monat nicht so oft essen …"
Der Bauunternehmer Stefan L.arbeitet nicht selten zwölf Stunden am Tag.
Brenke: "Bei Arbeitnehmern haben wir 23 Prozent, die zum Niedriglohnsektor zählen. Bei den Soloselbständigen ist der Anteil höher - da sind es 30 Prozent."
Hochqualifizierte leben am Rand des Existenzminimums
Manchmal weist schon die ärmliche, improvisierte Ausstattung von Läden oder Lokalen auf schwierige Verhältnisse hin. Zu den Selbständigen, die am Rand des Existenzminimums oder darunter leben, gehören auch verblüffend viele - Publizisten, Künstlerinnen, Dozenten.
Lasch: "Ich finde es überhaupt nicht gerecht. Weil ich ja ständig mit angestellten Redakteuren zu tun habe und ich mir oft genug vor Augen führe - was würde ich jetzt verdienen, wenn ich als Redakteurin tätig wäre. Und ich dann feststelle, dass ich nicht mal die Hälfte erziele. Es ist eine hochgradig ungerechte Bezahlung, weil es ja mittlerweile Freie sind, die die Inhalte von Zeitungen zum großen Teil machen."
Gundula Lasch ist - ehrenamtlich - Vorsitzende der "Bundeskommission Selbständige" von ver.di. Die meisten der etwa 30.000 Soloselbständigen in der Dienstleistungsgewerkschaft arbeiten im Bereich Medien und Kultur.
Nach Einführung des gesetzlichen Mindestlohns könnten manche Chefs noch schlechter leben als ihre Angestellten: 330.000 "Arbeitgeber" kommen nicht auf 8,50 Euro pro Stunde. Über hunderttausend Klein- und Kleinstunternehmer zwischen Rügen und Bodensee erhalten als sogenannte Aufstocker Hartz IV-Leistungen. Auch Karl Kirsch - freier Mitarbeiter des Staates - beantragte ergänzendes Arbeitslosengeld II, weil der Staat für Integrationskurse wenig bezahlt. Der Sprachlehrerhebt hervor,
"dass sie sagen, ich müsse mich immer anstrengen, 'aus der Hilfebedürftigkeit herauszukommen' - während es gleichzeitig der Staat ist, der die Bedingungen diktiert. Das lehne ich ab - und ich gehe dafür auch vor Gericht und hoffe, dass die Gewerkschaft mich unterstützt. Ich finde das demütigend, wenn man jemandem keine Chance lässt, seine Situation zu verbessern und es gleichzeitig von ihm verlangt."
Gundula Lasch schrieb lange überwiegend für die Gewerkschaftspresse:
"Das hab ich gemacht bis vor zwei Jahren. Da gab es eine Umstrukturierung - ein Chefredakteur bringt neue Leute mit. Damit war ich draußen."
Inzwischen erlebt sie wieder Erfolge:
"Wenn ich in Köln für diese Agentur arbeite, habe ich einen Tagessatz von 300 Euro. Und das bezogen auf 8 Stunden."
Die Welt der Selbständigen befindet sich ständig und in ungewöhnlichem Maß im Umbruch.
Hornung:
"Mit dem Wandel der Technik wurde dann Personal abgebaut, weil die Technik nicht mehr so serviceintensiv war."
Der Bürotechnikexperte Detlef Hornung erzählt auch, dass,
"ein großes Sterben eingesetzt hat. In Charlottenburg-Wilmersdorf, wo wir früher 20, 30 Händler waren, sind wir heute der letzte."
Sogar für etablierte Selbständige können sich die Verhältnisse völlig überraschend ändern. Gerade Existenzgründer unterschätzen leicht Risiken, ihnen fehlen Informationen über die lokale Kaufkraft und die Angebote der Konkurrenz. In der Gastronomie und im Textil- oder Lebensmittelhandel kommt es schnell zu einem Überangebot. Bei Migranten können lückenhafte Sprachkenntnisse zum Problem werden. Eine Belastung auf Jahre hinaus sind manchmal überzogene Abstandszahlungen an die Vorbesitzer der Geschäfte. Andere Selbständige können nur mit Mühe ihre Bankkredite abzahlen. Wenn sie schließen, bleiben oft hohe Schulden zurück.
Nach fünf Jahren hat ungefähr die Hälfte der start-up-Unternehmer aufgegeben. Das bedeutet nicht nur Enttäuschungen und finanzielle Belastungen für viele Betroffene, sondern - gesamtwirtschaftlich gesehen - auch eine enorme Vergeudung von Ressourcen. Immerhin:
Ökonom Karl Brenke: "Wenn Selbständige ihre Tätigkeit aufgeben, dann ist es in der Regel nicht so, dass sie in ein tiefes Loch fallen - sie werden nicht arbeitslos, sondern finden als Arbeitnehmer einen Job."
Die von der Politik gern verklärte "Existenzgründung" ist sicher nicht die Lösung der Arbeitsmarktprobleme.
Bulut: "Wir haben durchgehalten. Und mittlerweile hat es sich gelohnt. Auf jeden Fall, in jeder Hinsicht. Ich hätte niemals so viel Geld verdienen können in der Hotelbranche."
Stefan L.: "Ich sehe keine Zukunft für mich. Schade, dass dieser Traum geplatzt ist."
Lessmann: "Der Kunde: 'Meine Güte - das haben Sie toll gemacht. Ich komme wieder. Ich weiß, auf Sie kann ich mich verlassen.' Das sind schon positive Sachen."
Kirsch: "Wir sind eben keine Unternehmer. Wenn wir Unternehmer wären und rechnen könnten, würden diese Kurse schon lange nicht mehr laufen."
Die meisten Selbstständigen in Deutschland zählen zu den Durchschnitts- oder Geringverdienern. Sie arbeiten deutlich länger als Angestellte, ihre soziale Absicherung fällt oft unzulänglich aus. Für manche ist Selbständigkeit ein Traum, sie nehmen bewusst schlechte Bedingungen in Kauf. Für andere ist sie nur ein Fluchtpunkt. Aber auch unter den wirtschaftlich weniger Erfolgreichen beeindrucken immer wieder Kreativität und Durchsetzungsfähigkeit.