"Arbeit ist 'was unglaublich Schönes"

Michael Sommer im Gespräch mit Burkhard Birke und Ulrich Ziegler · 02.02.2013
Burnout sei keine Modekrankheit, sagt der oberste Gewerkschafter Michael Sommer: "Ich halte das für einen Auswuchs der neuen Arbeitswelt." Nach einem Jahrzehnt als DGB-Chef will er sich bald zurückziehen, doch seine Agenda ist mit den Themen Leiharbeit, Lohndumping und Deregulierung immer noch lang.
Deutschlandradio Kultur: Herr Sommer, herzlich willkommen bei Deutschlandradio Kultur.

Michael Sommer: Danke, ich freue mich auch.

Deutschlandradio Kultur: Herr Sommer, haben Sie auch einen stressigen Job und manchmal das Gefühl "jetzt reicht’s aber"?

Michael Sommer: Ja, natürlich. Das hat glaube ich jeder, der einen stressigen Job hat. Andererseits, wenn man dann – so wie ich jetzt in der vergangenen Woche – eine Woche mit einer Virusgrippe darniederliegt, fragt man sich: Wie gestalte ich meinen Tag. Also, deswegen, mit dem Stress ist das so eine Sache. Man leidet sehr unter ihm, aber man braucht ihn wahrscheinlich auch. Es gehört eben auch mit zum Leben.

Deutschlandradio Kultur: Sehen Sie sich als Burnout-gefährdet?

Michael Sommer: Ich war mal Burnout-gefährdet, bin es nicht mehr, weil ich mich auch dann wirklich habe psychologisch beraten lassen, was wir auch beim DGB machen mit Beschäftigten, dass die tatsächlich auch zum Coach können und so weiter und so fort. Ich halte das nicht für eine Modekrankheit, sondern ich halte das für einen Auswuchs der neuen Arbeitswelt.

Deutschlandradio Kultur: Wir haben hier neueste Zahlen. 53.000 Millionen Krankheitstage im letzten Jahr wegen psychischer Erkrankung, Schwächen, keine Lust mehr, Burnout. Das ist ein Thema, das auch die Politik in Angriff nimmt. So fordert beispielsweise Frau von der Leyen, die Bundesarbeitsministerin, man bräuchte jetzt eine Antistressverordnung. Was kann denn so was bringen?

Michael Sommer: Das kann schon bringen, dass man überhaupt erstmal wahrnimmt, dass nicht mehr die klassische Arbeitserkrankung der Arbeitsunfall ist, wo man in die Maschine fällt oder sonst was, sondern dass sich die Arbeitswelt unglaublich gewandelt hat. Jeder von uns hat das Gefühl, er arbeitet mehr in der gleichen Zeit als früher, dass er mehr unter Druck steht.

Und dass man dann sagt, okay, wir schaffen Vorkehrungen, Freiräume, dass die Menschen Vorsorge treffen können. Man tatsächlich psychologische Beratung macht, dass man psychologische Betreuung von arbeitenden Menschen macht, dass man auch so etwas macht bis hinein, was bei VW jetzt ja mittlerweile üblich ist, dass man seinen Email-Account abbestellt bekommt, damit man nicht permanent reinguckt und sozusagen diese Schere von Arbeitswelt und Freizeit völlig vermischt. Also, man kann da vieles machen.

Das geht übrigens auf eine Initiative von uns zurück, die Antistressverordnung. Dass sich die Arbeitgeber dem entgegenstellen, halte ich für unklug, weil sie letztendlich nichts davon haben, dass sie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben, die zum Schluss nicht mehr leistungsfähig sind.

Deutschlandradio Kultur: Das heißt, die Gewerkschaften haben das Thema aufgegriffen. Dennoch hat man in der öffentlichen Debatte den Eindruck, als hätten die Gewerkschaften das so ein bisschen verschlafen und nicht so in den Vordergrund gerückt, wie es das Thema verdient angesichts der Zahlen, die wir gerade gehört haben.

Michael Sommer: Das ist immer so ein Problem mit dem Verschlafen und Nichtverschlafen. Wir haben in der Arbeitswelt sehr viel zu tun, was geregelt werden muss. Wir stellen ja unsere ganzen Aktivitäten zum Bundestagswahlkampf unter das Motto, eine Neuordnung der Arbeit zu schaffen, weil viele Leitplanken für gute Arbeit einfach verloren gegangen sind.

Für mich gehört da psychische Erkrankung mit dazu, als jemand, der selber mal damit zu kämpfen hatte, Gott sei Dank von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt. Das ist auch gut so, weil niemand was davon hat, einen kranken DGB-Vorsitzenden zu sehen. Nur, ich weiß, was es bedeutet, wenn man tatsächlich psychisch angeschlagen ist. Deswegen ist das für mich persönlich ein Thema. Ich hab' das überwunden und geschafft. Ich bin da auch persönlich stolz drauf. Ich bin auch dankbar für die Menschen, die mir geholfen haben, professionell geholfen haben, Ärzte, Psychologen, die mir wirklich geholfen haben, aus der Situation rauszukommen.

Ich hab' da noch nie drüber geredet, aber ich finde, es gehört auch mit dazu, dass Menschen wie ich da drüber reden. Man kann es auch schaffen. Nur man muss es auch anerkennen, es ist eine Krankheit. Und diese Krankheit muss man bekämpfen, wie man eine Grippe bekämpft oder wie man einen Arm schient, wenn man den Arm gebrochen hat.

Und es gehört auch dazu, und ich finde, dass sich eine Arbeitsministerin des Themas annimmt, ist in Ordnung, nur glaube ich, es fehlt auch an Konsequenz, das dann weiterzutreiben.

Deutschlandradio Kultur: Das heißt, Sie würden jetzt auch Ihren Betriebsräten empfehlen, das stärker in den Vordergrund zu rücken, etwa psychologische Beratung in den Betrieben verstärken? Welche Maßnahmen würden Sie konkret auf der praktischen Ebene empfehlen?

Michael Sommer: Also, ich würde erst mal wirklich empfehlen, dass sich Betriebsräte auch sehr viel stärker mit dem Thema befassen, dass sie auch von ihrem Initiativrecht in diesen Fragen Gebrauch machen. Ich würde auch dringend den Personalabteilungen empfehlen, in den Betrieben und Verwaltungen sich des Themas anzunehmen. Es ist mittlerweile ein Thema. Es ist auch ein Kostenthema für die Unternehmen im Zweifelsfall, wenn Menschen wegen psychischer Erkrankung ausfallen.

Ich würde mich vor allen Dingen dagegen wehren so zu tun, als ob das eine Modekrankheit wäre. Wir sind unglaublich stolz darauf, jetzt Arbeitsschutz realisiert zu haben, diesen körperlichen Arbeitsschutz. Und jetzt brauchen wir so etwas auch für den seelischen Arbeitsschutz. Und da eine Debatte zu entwickeln, halte ich für unglaublich wichtig.

Deutschlandradio Kultur: Warum hat sich jetzt beispielsweise die IG Metall entschieden, dass sie eine reine Entgeltrunde in diesem Jahr fahren möchte? Also, diese anderen Fragen – Niedriglohnsektor, psychische Belastungen, bessere Arbeitsbedingungen – sind alle außen vor. Es geht nur darum, für die gut bezahlten Facharbeiter bessere Entgelte zu kriegen. Ist das richtig?

Michael Sommer: Ach, ich würde da beinahe mit dem Buch der Prediger antworten: Ein Jegliches hat seine Zeit. Und dieses Jahr ist wirklich die Frage Entgelt dran. Im vergangenen Jahr hat die IG Metall zum Beispiel Entgelt und Übernahme von jungen Leuten gemacht. Das war ganz wichtig. Im vergangenen Jahr hat zum Beispiel die IGBCE oder ver.di auch das Thema Demografie, also altersgerechte Arbeit und altersgerechte Arbeitsgestaltung in die Tarifrunden gepackt. Das machen unsere Tarifkommissionen dann auch nach der Lage in den Betrieben.

Wir sind jetzt der Auffassung, es ist jetzt wirklich die Frage, dass auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am erwirtschafteten Reichtum teilnehmen und auch einen Beitrag leisten im Kampf gegen die Krise, indem nämlich auch die Massenkaufkraft in diesem Land gestärkt wird.

Und das Thema psychische Erkrankung am Arbeitsplatz ist natürlich eine Sache, die können Sie tarifvertraglich angehen. Die können Sie mit Mitbestimmungsregeln angehen. Ich glaube aber, dass sie auch eine Frage des Gesetzgebers ist, wie insgesamt, wenn Sie darüber nachdenken, wie gestalte ich Arbeit, und wir diesen Dreiklang brauchen, diesen Dreiklang aus gesetzlichen Regelungen, aus tarifvertraglichen Regelungen. Da sind wir sehr gut, aber wir können nicht mit Tarifverträgen den Gesetzgeber ersetzen. Und die Betriebsräte, die Mitbestimmung spielt eine unglaublich wichtige Rolle, weil sie beides miteinander verschränkt und das in die betriebliche Wirklichkeit hebt.

Deswegen, ich könnte ich mir durchaus vorstellen, dass wir uns das auch mal in einer Tarifrunde vornehmen, nur nicht dieses Jahr. Wie gesagt, ein Jegliches hat seine Zeit. Und dieses Jahr machen wir Geld.

Deutschlandradio Kultur: Herr Sommer, Sie haben Tarifverträge angesprochen. Die ergänzen ja dann auch die gesetzlichen Maßnahmen. Aber Tarifverhandlungen laufen jetzt gerade. Wir steuern wohl auf ein doch recht heißes Frühjahr zu. 6,0 / 6,5 Prozent werden gefordert. Ist der Schluck aus der Pulle nicht etwas zu kräftig?

Michael Sommer: Na ja, wir machen die Forderungen ja nicht sozusagen nach dem Motto "Wir fordern, was wir brauchen und klauen es bei Woolworth", sondern wir machen sie schon fest an der Frage: Wie hoch ist die Produktivität? Wie hoch ist das Wachstum der Produktivität? Wie hoch ist das Wachstum der Preissteigerungsrate? Und wo sehen wir Verteilungsspielraum – auch nach Jahren, wo wir Reallohnverluste hatten? Das muss man ja sehen. Wir hatten auch Reallohnverluste, nicht überall, aber gesamtgesellschaftlich durch die Ausweitung des Niedriglohnsektors und auch von einzelnen Branchen. Und wir haben Nachholbedarf.

Diesen Nachholbedarf wollen wir stillen und so, dass wir nicht die deutsche Wirtschaft in irgendeiner Form kaputtmachen oder sonst was, das macht ein deutscher Gewerkschafter oder eine deutsche Gewerkschafterin nicht. Wir sind ja verantwortungsbewusste Menschen. Aber wir sagen auch, jetzt sind die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dran.

Und das wird natürlich schwierig, wenn Sie sich die einzelnen Runden angucken. Das ist jetzt der Öffentliche Dienst Länder, die jetzt erst nachvollziehen, was sie bei Bund und Kommunen erreicht haben. Und ich hoffe auch, dass die das schaffen. Wir haben die Situation Stahl, eine schwierige Branche momentan wegen der aktuellen Stahlkonjunktur. Wir haben die Situation in der Bauindustrie, wo es auch darum geht, die Mindestlöhne auch im Osten zu sichern, eine ganz, ganz schwierige Runde, die wir vor uns haben. Und wir haben dann im Frühsommer Metall und Elektro. Also, das wird schon eine heiße Saison dieses Jahr.

Deutschlandradio Kultur: Bleiben Sie mal kurz bei dem Öffentlichen Dienst, der Beschäftigung in den Ländern. Da sagen sozialdemokratische Finanzminister: Eure Forderung ist ja schön und gut, aber wir müssen unsere Haushalte konsolidieren. Wir haben eine Schuldenbremse. Der Abbau der Verschuldung hat Priorität vor hohen Lohnzuwächsen – und das von Genossen. Macht Sie das nicht ärgerlich?

Michael Sommer: Ach nein, das gehört mit dazu, dass der Bullerjahn nun seine Rolle spielt und seine Funktion des Vorsitzenden der Verhandlungskommission der Arbeitgeber. Wissen Sie, es gibt ja dann immer auch zwei Räume, nämlich den öffentlichen Raum, wo man über Tarifforderungen redet und die kommentiert, und da, wo man sich dann am Verhandlungstisch gegenübersitzt. Ich bin bei beiden sozusagen nicht in erster Front und schon gar nicht am Verhandlungstisch. Das macht mein Kollege Frank Bsirske. Die werden da schon die Argumente austauschen.

Deutschlandradio Kultur: Aber wo landen wir am Ende?

Michael Sommer: Ich vermute, dass wir dort landen, wo wir auch bei Bund und Kommunen gelandet sind, nämlich bei einem vernünftigen Kompromiss, der tatsächlich auch die Wettbewerbssituation des öffentlichen Dienstes auf dem Arbeitsmarkt sichert. Das ist ein Argument, was Herr Bullerjahn überhaupt nicht mit berücksichtigt, dass der demografische Wandel auch am Öffentlichen Dienst nicht vorbeigeht und dass von Bundeswehr bis hin zum Landratsmenschen die Leute sagen: Kriege ich im Öffentlichen Dienst genug, ist das ein attraktiver Arbeitsplatz, ja oder nein?

Deutschlandradio Kultur: Also, eine 3 muss mindestens vorm Komma stehen?

Michael Sommer: Sie werden mir jetzt hier keine Zahl entlocken. Da ich nicht am Verhandlungstisch sitze, kriegen Sie auch von mir keine Zahl. Ich sage nur, die Menschen wissen, dass sie jetzt Reallohnzuwächse auch bei den Ländern brauchen. Und ich glaube auch, dass das zum Schluss rauskommen sollte.

Deutschlandradio Kultur: Herr Sommer, Sie haben die spezifische Situation im Öffentlichen Dienst angesprochen. Da gibt es ja die Arbeitsplatzsicherheit, aber dennoch hat man den Eindruck, als ob der öffentliche Sektor und der private Sektor immer weiter auseinanderdriften bei den Lohnzuwächsen.

Michael Sommer: Das hängt auch damit zusammen, dass fälschlicherweise immer so getan wird, als ob der Öffentliche Dienst sozusagen die Insel der Glückseligen wäre. Also, erstens gibt es auch im Öffentlichen Dienst durchaus Beschäftigungsrisiken. Denn wir reden nicht über Beamte, sondern wir reden über Arbeiter und Angestellte momentan. Wir reden auch darüber, dass wir eine Ausweitung von Leiharbeitsbeschäftigung und prekärer Beschäftigung haben auch im Öffentlichen Dienst. Das ist der eine Teil.

Und der zweite Teil ist der, dass ich auch glaube, dass man nicht auf Dauer hinnehmen kann, dass sich der Öffentliche Dienst und die Privatwirtschaft total auseinander entwickeln. Es war eine Entwicklung, die zehn, 20 Jahre lang immer mit dem Argument des sicheren Arbeitsplatzes begründet wurde, auch seitens der öffentlichen Arbeitgeber. Mit dem Erfolg oder mit dem Ergebnis, nicht mit dem Erfolg, sondern mit dem Misserfolg, dass der Öffentliche Dienst auch für die Menschen immer unattraktiver wird. Und das kann man so lange ausweiten, wie man sozusagen noch als Arbeitgeber auf dem Sockel von Massenarbeitslosigkeit agiert.

Auf dem Sockel von demografischem Wandel und Fachkräftemangel werden Sie damit nicht agieren können. Und das werden auch die öffentlichen Arbeitgeber einsehen müssen. Auch im Öffentlichen Dienst muss anständig bezahlt werden.

Deutschlandradio Kultur: Sie plädieren also für gleich hohe Lohnabschlüsse in diesem Jahr in der Privatwirtschaft wie im öffentlichen Sektor, ohne auch Differenzierung nach Ländern, wie Berlin, die sich das ja eigentlich gar nicht leisten können?

Michael Sommer: Wissen Sie, das Schöne an der Tariflandschaft in Deutschland ist, dass wir das ja sehr differenziert machen. Wir machen ja nicht eine Tarifforderung über alle Branchen und über alle Gebiete und alle Länder, sondern wir gucken uns das sehr differenziert an.

Wir sind jetzt in der Tarifrunde der Länder. Auch da wird es einen Ausgleich zwischen den Ländern geben. So wie es auch einen Länderfinanzausgleich gibt, wird es dann auch einen Ausgleich in den Beschäftigungssituationen für die Länder geben. Von daher plädiere ich dafür, dass wir ganz ruhig am Verhandlungstisch sitzen. Und wenn es gar nicht anders geht, muss man den Konflikt auch ausfechten.

Aber an dem Punkt sind wir nicht. Wir haben gerade die erste Verhandlungsrunde hinter uns. Da tauscht man normalerweise die Forderungen aus und macht die Positionen klar und möglicherweise macht man das Sakko auf und zeigt seine Waffenarsenale. Das ist der Punkt. Und das wird noch in eine ernsthafte Diskussion kommen, aber ich plädiere dafür, die Tarifforderungen der Gewerkschaften des Öffentlichen Dienstes ernst zu nehmen, einschließlich der strukturellen Benachteiligung von Lehrern zum Beispiel, was ihre Situation anbetrifft. Also, deswegen lassen Sie uns mal in aller Ruhe verhandeln. Und wenn’s nicht anders geht, dann kommt’s zum Konflikt. Auch den muss eine Gesellschaft aushalten. Und den werden wir auch aushalten.

Deutschlandradio Kultur: Herr Sommer, wir haben ein Wahljahr und Sie fordern einen Politikwechsel, eine neue Ordnung der Arbeit. Jetzt könnte man sagen, wir hier in Deutschland haben im Vergleich zu Europa die niedrigste Arbeitslosigkeit. Wir haben relativ gute Beschäftigung und stehen im Vergleich zu anderen europäischen Nachbarn doch relativ gut da. Was muss man da neu ordnen?

Michael Sommer: Ja, das ist die eine Seite der Medaille. Bekannterweise hat ja jede Medaille zwei Seiten. Sie haben die eine Seite geschildert, die ich durchaus unterstreichen würde. Das ist uns auch passiert dank des Einsatzes von Gewerkschaften und Betriebsräten. Wir haben gemeinsam mit Politik und Arbeitgebern dieses Land aus der Krise geführt 2008/ 2009. Ich bin da auch stolz drauf, dass wir diesen Weg gegangen sind.

Deutschlandradio Kultur: Deshalb waren Sie auch so glücklich, dass eine Große Koalition da war, als die Krise 2008 kam. Das haben Sie zumindest gesagt. Ist das ein Modell?

Michael Sommer: Ja, ich stehe auch dazu. Nein, das ist ein Modell nicht generell für Politikgestaltung, sondern es ist ein Modell, von dem ich auch im Nachhinein sage, ich stehe zu dem, was ich gesagt habe. Ich glaube, wenn Sie sich die Krisensituation 2008/ 2009 angucken, und jede kleine Koalition, egal ob Rot-Grün oder Schwarz-Gelb, hätte man immer einen starken Block dagegen gehabt, der prinzipiell gesagt hätte aus politischen Gründen, wir halten den Weg für falsch. Das war eine, wenn man so will, Antikrisenkoalition. Das war keine Gestaltungskoalition.

Wir haben politisch immer auch die Erfahrung gemacht, dass – wenn es in einem Land, auch in Deutschland, darum ging, etwas politisch neu zu gestalten, dann waren wir immer bei knappen Mehrheiten, manchmal bei ganz, ganz knappen Mehrheiten. Nehmen Sie die von mir überhaupt nicht geliebte Agenda 2010. Die war nur durchsetzbar auf Grundlage dessen, dass Schröder permanent seine eigene Fraktion sozusagen unter den Zugzwang stellen konnte – bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt, plus der Mithilfe der heutigen Opposition im Bundesrat.

Deutschlandradio Kultur: Brauchen wir jetzt eine Gestaltungsmehrheit, Herr Sommer, bei der nächsten Wahl?

Michael Sommer: Ich glaube, ja, wir brauchen eine Gestaltungsmehrheit.

Deutschlandradio Kultur: Aber wir müssen es auch krisensicher machen, falls wieder die Konjunktur möglicherweise abschwächt, was keiner will.

Michael Sommer: Wir müssen beides tun. Die Wählerinnen und Wähler in diesem Land werden dann auch zum Schluss abwägen, was sie wollen, ob sie mehr die Sicherheit wollen oder ob sie mehr die Gestaltung wollen.

Sie waren eben bei der prinzipiellen Frage und ich hab versucht, sie prinzipiell zu beantworten, weil wir auch ein bisschen mehr Zeit in so einem Gespräch haben. Ich würde sagen, ich würde schon darin unterscheiden, mache ich eine Antikrisenpolitik, muss ich das Land sozusagen davor retten, dass es abstürzt? Das war die Situation 2008/ 2009. Und da hat uns die Große Koalition plus das Zusammenwirken mit den großen gesellschaftlichen Kräften, Arbeitgebern und Gewerkschaften, unglaublich geholfen.

Die Situation haben wir jetzt nicht, sondern wir stehen vor der Tatsache, dass wir in diesem Land einiges aufräumen müssen. Am Beispiel der Arbeit: Wir müssen Schluss machen mit der Politik der Deregulierung. Die Deregulierung hat uns in der Finanzwirtschaft an den Rand des Abgrunds geführt. Die Deregulierung hat uns in der Arbeitswelt an den Rand des Absturzes dahin geführt, dass wir mittlerweile ein Viertel der Menschen in Deutschland haben, die von ihrer Hände Arbeit nicht mehr leben können, sondern die im Niedriglohnsektor arbeiten, wo wir heute zwei, drei Jobs brauchen, um überleben zu können.

Wir haben die Situation, dass viele junge Menschen überhaupt nicht mehr wissen, was eine unbefristete Beschäftigung ist. Wir haben die Situation, dass wir einen Missbrauch von Leiharbeit und Werkverträgen haben und deswegen sagen, wir brauchen eine neue Ordnung der Arbeit und jetzt brauchen wir wieder soziale Leitplanken. Dafür plädieren wir.

Deutschlandradio Kultur: Und diese Leitplanken haben Sie ja auch vom DGB-Vorstand neulich schon mal verabschiedet. Sie geben zwar keine Wahlempfehlung, Sie wollen nicht der Vorhof der Regierung und auch nicht die Nachhut der SPD sein. Wenn man sich dann aber Ihre Forderungen anschaut und die Parteiprogramme, dann müssten Sie doch eigentlich eine Wahlempfehlung für Die Linke aussprechen.

Michael Sommer: Also, wir wollten ja dieses Land nach vorne bringen und gestalten. Um es andersrum zu sagen: Für die Abteilung Besserfordern finden Sie viele Menschen. Für die Abteilung Bessermachen finden Sie relativ wenige. Die FDP als sozialer Gestaltungsfaktor fällt aufgrund ihrer eigenen Programmatik aus. Von Herrn Brüderle bis zu Herrn Rösler können Sie sich das angucken. Die sagen schlicht und ergreifend: Missbrauch Leiharbeit kennen wir nicht. Mindestlohn wollen wir nicht. Soziale Gestaltung der Arbeit brauchen wir nicht. Die Wirtschaft geht nur die Wirtschaft etwas an.

Deutschlandradio Kultur: Herr Sommer, also Note Fünf oder Sechs für die aktuelle Bundesregierung?

Michael Sommer: Also, ich war jetzt erst mal bei der FDP. Da sind wir dann mal bei Ungenügend, um da in dem alten Ding zu bleiben. Bei der CDU/CSU verhält sich das ein bisschen anders. Wir sind nicht mehr zum Zeitpunkt des Leipziger Parteitages, wo die ja sozusagen die FDP noch mal rechts überholen wollten, sondern wir sind bei einem Zeitpunkt, wo eine Arbeitsministerin und eine Bundeskanzlerin durchaus – sagen wir mal – wesentlich sozialere Töne anschlagen, vom Mindestlohn bis hin zum Missbrauch von Leiharbeit oder von Werkverträgen, wie die Kanzlerin neulich vor dem DGB-Bundesvorstand erklärt hat.

Nur erstens wissen wir nicht, wie breit sind denn eigentlich die Mehrheiten in der CDU für diese Politik. Wir haben einen starken Wirtschaftsflügel, der ja dann, immer wenn’s drauf ankommt, eine andere Politik betreiben will, wie wir jetzt jüngst beim Beschäftigtendatenschutz gesehen haben, wo wir ja mit Macht die Notbremse ziehen mussten, um Schlimmeres zu verhindern. Auf der anderen Seite ist das so eine Art Schaun-wir-mal. Von der Programmatik her, wenn Sie sich den CDU-Parteitag, den letzten angucken in Hannover, dann werden Sie feststellen, dass vieles sich den Forderungen und der Politikgestaltung der Gewerkschaften annähert.

Das betrifft übrigens auch nicht zuletzt die SPD, wo sich im Thema Arbeit viel verändert hat, wo sich im Thema Rente viel verändert hat. Das Problem, was die SPD mit sich rumträgt, ist ja wohl eher die historische Erfahrung der Menschen in den letzten zehn, 15 Jahren, wo die sagen, in der Opposition fordern sie das Richtige und in der Regierung machen sie das Falsche. Mit diesem Punkt muss die SPD klarkommen. Das gilt übrigens auch für die Grünen.

Was wir wollen, ist sozusagen ein gesellschaftliches Klima schaffen, dass nach der Bundestagswahl niemand mehr sagen kann, was geht mich mein Geschwätz von gestern an, sondern wir wollen nach der Bundestagswahl ernten. Wenn Sie so wollen, sind wir jetzt am Säen und am Gießen und am Düngen politisch. Und nach der Bundestagswahl wollen wir ernten. Dann wollen wir wirklich den Mindestlohn. Dann wollen wir das Ende des Missbrauchs der Leiharbeit undsoweiter undsofort.

Deutschlandradio Kultur: Hat nicht Peer Steinbrück Recht, wenn er sagt, wenn er sich das alles so anschaut, sind eigentlich die Gewerkschafter ziemlich gut bei der SPD aufgehoben?

Michael Sommer: Ach, wo die Gewerkschafter aufgehoben sind und die Gewerkschafterinnen, das wissen die selber. Da brauchen die keine Empfehlung von Herrn Steinbrück, die hören seine Worte, weder von mir noch sonst was, sondern die gucken sich Politik konkret an.

Und, nur um mal zu sagen, ja, ich kann mir vorstellen, wenn wir gerade eine Schuldenbremse in diesem Land durchsetzen wollen, das war übrigens Steinbrück, und wir sagen, der Staat hat dann nicht nur ein Ausgabeproblem, sondern er hat vor allen Dingen ein Einnahmeproblem, muss er sich mal kümmern, wie komme ich tatsächlich zu einer besseren Einnahmeseite des Staates.

Was ich nicht will, ist aus sozialen Gründen eine Erhöhung der Mehrwertsteuer. Die scheidet aus, weil, die trifft die Ärmsten der Armen, und zwar alle. Was ich nicht will, ist, dass wir weiter bei der Einkommenssteuer, beim Einkommenssteuertarif so rumschrauben, dass sozusagen jede Einnahmeverbesserung für Facharbeiterinnen und Facharbeiter zum Beispiel zur automatischen Erhöhung ihres Steuersatzes führt.

Also sage ich: Was gucken wir uns mal an? Wir gucken uns mal den Tarifverlauf an in der Einkommenssteuer und gucken mal an, ob wir oben einen höheren Spitzensteuersatz setzen. – Ja. Ich bin auch dafür, dass wir die wirklich gutverdienenden Arbeitseinkommen mit einer Reichensteuer weiter, das ist ja nichts Neues, sondern das machen wir ja schon länger, dass wir die weiter pflegen und hegen.

Und dann sage ich: Wo sind denn die Vermögenden und die Besitzenden in diesem Lande? Können die sich weiterhin davonstehlen und sozusagen ihren Reichtum mehren und die Lohnsteuerzahlerinnen und -zahler und diejenigen, die hier konsumieren, finanzieren letztendlich dieses Gemeinwesen? Das ist nicht gerecht.

Deutschlandradio Kultur: Herr Sommer, wir befinden uns ja auch im europäischen Kontext. Und man muss das natürlich europäisch stärker koordinieren. Jetzt hatten wir auch gerade vor einigen Tagen die 50-Jahrfeier des Elysée-Vertrages, des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages. Da haben François Hollande, der französische Präsident, und die Kanzlerin Angela Merkel gesagt, sie wollen die Sozialpartner stärker in Europa einbinden.

Wie stellen Sie sich das als DGB-Chef vor? Was können Sie einbringen bei der Konstruktion dieses wettbewerbsfähigeren, aber dennoch sozialen Europas?

Michael Sommer: Also, ich glaub, als Erstes muss man auch mal als deutscher Gewerkschaftsvorsitzender sagen, wir müssen sehen, dass es auch soziale und sozialstaatliche Erfolge in anderen Ländern Europas gibt. Es ist nicht nur so, als ob wir der Sozialstaat wären und alle anderen um uns herum wären es nicht. Zum Beispiel Frankreich, die haben wesentlich mehr Tarifverträge, die für allgemeinverbindlich erklärt werden, und damit auch eine wesentlich höhere Tarifbindung.

Deutschlandradio Kultur: Und dann Mindestlohn.

Michael Sommer: Ja, die haben einen Mindestlohn. Ja, wir fangen erst mal an sozusagen mit dem mittelpreisigen, damit wir überhaupt mal einen Einstieg kriegen. Und dann orientieren wir uns an Frankreich, England, noch gar nicht an Luxemburg, die sind ja bei 13 Euro oder so, sondern da gucken wir mal.

Ich glaube schon, dass man über eine Diskussion in Europa tatsächlich nicht nur immer die Negativdiskussion machen muss nach dem Motto, was will ich nicht. Ich könnte Ihnen sehr genau in Europa beschreiben, was ich nicht will – vom ungarischen Medienrecht angefangen bis zum rumänischen Arbeitsrecht. Das will ich nicht.

Deutschlandradio Kultur: Aber was wollen die Gewerkschaften?

Michael Sommer: Ja, was wir wollen, ist tatsächlich, dass wir sozusagen in einem Europa Arbeit schaffen, Jugendarbeitslosigkeit beseitigen und soziale Sicherheit schaffen. Und da ist ein deutsch-französischer Sozialdialog sehr vonnöten. Das Bundeskanzleramt und das französische Präsidialamt hatten ausdrücklich nachgefragt, ob die Gewerkschaften bereit wären, sich an einem solchen Sozialdialog zu beteiligen. Und ich habe gesagt, ja, wir sind es. Ich habe mit meinen französischen Kollegen geredet und ich glaube, der erste Termin wird Ende Februar in Berlin stattfinden.

Deutschlandradio Kultur: Wie können Sie denn davon ausgehen, dass das nicht bei einem netten Diskussionszirkel bleibt, wo am Schluss dann alle wieder sagen, gut, dass wir uns getroffen haben, aber die ökonomischen Zwänge sind so, wie sie hier sind und Europa spricht mit 27 Stimmen. Und insofern, gut, dass wir darüber geredet haben – mehr war’s nicht.

Michael Sommer: Das können Sie nur damit machen, dass Sie zwei Sachen machen, dass Sie a) wirklich mit dem Gespräch beginnen und dass Sie b) auch ein neues Europabewusstsein schaffen. Wir haben jetzt zum Beispiel einen Marshallplan für Europa vorgeschlagen, der eben kein deutscher Plan ist, sondern ein Diskussionsansatz für unsere europäischen Kolleginnen und Kollegen, wo wir sagen, wir wollen über ein zehn Jahre lang gestaltetes Konjunktur- und Strukturprogramm dafür sorgen, dass Europa die wettbewerbsfähigste Region Europas wird und wir tatsächlich Perspektiven für Arbeit und Beschäftigung schaffen. Das ist unser Vorschlag.

Dazu gehört auch, dass wir anfangen darüber nachzudenken, dass wir nicht nur eine europäische Antikrisenpolitik gestalten, sondern dass wir auch die europäischen Institutionen insgesamt verstärken. Ich glaube schon, dass wir auch politisch und gesetzgeberisch Kompetenzen an Europa abgeben müssen, dass wir endlich diese Diskussion beginnen müssen. Wer Europa will, kann nicht damit enden, dass wir sagen, wir sind sozusagen gegen Austeritätspolitik und wir finden den Fiskalpakt Mist und wir wollen dieses und jenes nicht, sondern wir müssen es auch positiv gestalten und die Menschen dafür mitnehmen.

Dazu gehört, dass wir jetzt gemeinsam die Krise bekämpfen, aber auch, dass wir institutionell daran arbeiten, dass wir zum Beispiel ein soziales Europa stärken, dass wir, wenn Sie so wollen, auch die europäischen Verträge, auch den Lissabon-Vertrag neu aushandeln. Dafür wäre ich, und dann auch mit der Maßgabe, dass wir dann nationale Kompetenzen an Europa abgeben, allerdings an ein demokratisch legitimiertes Europa, ein demokratisch kontrolliertes Europa. Dazu gehört auch eine Stärkung der Rolle des Europaparlaments.

Deutschlandradio Kultur: Ein klares Plädoyer. Michael Sommer, Sie stehen jetzt schon seit über zehn Jahren an der Spitze des DGB. Wir haben eingangs ein bisschen von Burnout, von Stresssyndrom gesprochen. Bleibt es dabei, dass Sie nicht mehr kandidieren? Und was werden Sie, wenn Sie nicht mehr kandidieren, als Frührentner tun? Sie sind ja noch relativ jung.

Michael Sommer: Na ja, was heißt "jung"? Ich bin jetzt 61. Früher war man da ein alter Mann. Wenn man mich fragt, fühlst du dich alt, dann muss ich sagen, nein. Ich höre auch nicht auf, weil ich ausgebrannt bin. Nein, ich höre auf, weil ich glaube, nach drei Amtszeiten ist es Zeit, dass ein Neuer kommt.

Deutschlandradio Kultur: Aber bis zur Bundestagswahl, was wäre denn sozusagen Ihre Priorität, wo Sie sagen, ja, wenn ich das noch erreicht habe, dann kann ich auch mit gutem Gewissen sagen: Leute, jetzt machen es die Jüngeren.

Michael Sommer: Wir wollen politisch auf jeden Fall den Mindestlohn durchsetzen, nicht weil der das Allheilmittel ist für alles, sondern weil er ein wichtiger Einstieg wäre in eine neue Ordnung der Arbeit. Ich will den Missbrauch von Leiharbeit noch bekämpft sehen, und zwar gesetzlich. Ich hoffe sehr, dass wir zu einer Gestaltungsmehrheit für eine neue Ordnung der Arbeit nach der Bundestagswahl kommen. Das ist noch etwas, was ich erreichen will.

Wir haben die Massenarbeitslosigkeit weitgehend überwunden in Deutschland – nicht in Europa. Wir stehen vor neuen Herausforderungen durch den demographischen Wandel. Wir stehen vor neuen Herausforderungen technologisch. Und ich glaube auch, dann ist es Zeit, dass auch eine neue Generation von Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern die Geschicke der Gewerkschaften übernimmt.

Und das Schöne ist, dass ich zutiefst davon überzeugt bin, wir machen nicht das Licht aus, sondern wir geben die Fackel weiter. Arbeit ist was unglaublich Schönes. Es gehört zum Menschen, aber es ist eben auch eine Belastung. Und viele Menschen, die nicht mehr arbeiten, die sozusagen aus der täglichen Verantwortung raus sind, empfinden das auch als ein Stück von Befreiung, diese tägliche Belastung nicht mehr zu haben. Und das erhoffe ich für mich selbst auch.
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