Arabischer Frühling

Drei Jahre sind "nur ein Wimpernschlag"

Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Demonstranten auf dem Tahrir-Platz in Kairo erinnern am 25. Januar 2014 an den Beginn der Revolution 2011 © dpa/picture-alliance/Amel Pain
Henner Fürtig im Gespräch mit Korbinian Frenzel · 10.11.2014
Der Nahost-Experte Henner Fürtig glaubt, dass die Umbrüche in den arabischen Gesellschaften länger brauchen und anders verlaufen, als der Westen es sich erhofft hatte. Drei Jahre seien nicht viel Zeit für grundlegende Reformen.
Korbinian Frenzel: Man muss nicht gleich wieder "Wahnsinn" sagen, und ich habe auch keine Tränen im Augenwinkel – die sind gestern schon alle gekullert bei diesen Bildern aus Berlin vor 25 Jahren. Eine friedliche Revolution, die eine Mauer so selbstverständlich in Minuten zu Fall gebracht hat, die da 28 Jahre lang genauso selbstverständlich gestanden hatte.
Wir wollen jetzt aus diesem wunderbaren Gestern eine Frage ans Heute stellen: warum nämlich damals ja nicht nur für Berlin und Deutschland, sondern für ganz Europa innerhalb weniger Monate etwas gelingen konnte, eine friedliche Revolution, und warum die arabische Welt, die Menschen, die dort ihren Frühling, ihren Aufstand geprobt hatten, heute fast überall gescheitert sind.
Henner Fürtig ist mein Gesprächsgast, der Direktor des GIGA-Instituts für Nahost-Studien in Hamburg. Guten Morgen!
Henner Fürtig: Schönen guten Morgen!
Frenzel: Wir haben ja alle mit unglaublicher Hoffnung in die arabische Welt geschaut im Frühjahr 2011, auf diesen Arabischen Frühling – warum ist daraus kein 1989 geworden?
In der arabischen Welt sind die Unterschiede zwischen den Ländern zu groß - deswegen kann es kaum gemeinsame Entwicklungen geben
Fürtig: Ja, das ist eine große Frage, natürlich wird mittlerweile auch sehr intensiv daran geforscht, wo die Ursachen liegen, aber eins ist jetzt schon klar: Die Rahmenbedingungen von 1989 und 2010, 2011 und 2012 sind halt völlig anders. Wir haben damals das Ende des Kalten Krieges erlebt, wir haben in Europa Strukturen gehabt, wo die Transformationsstaaten in Osteuropa quasi in gewachsene demokratische Strukturen in Westeuropa integriert werden konnten. Es gibt eine ganze Reihe von Bedingungen, warum das damals relativ günstig war, und letztendlich auch ein Erfolg war, den wir gestern ja auch gemeinsam gefeiert haben.
In der arabischen Welt sind die Unterschiede einfach zu groß. Letztendlich hat den arabischen Frühling im klassischen Sinne, also im Sinne eines Regimewechsels, ja nur drei Staaten tatsächlich erreicht, nämlich Ägypten, Tunesien und Libyen. Im Jemen muss man schon erste Abstriche machen. Also, wir haben zwar von einem Arabischen Frühling gesprochen, und die gesamte arabische Welt letztendlich im Auge gehabt, aber die Ereignisse selbst waren tatsächlich sehr punktuell und haben nur einen kleinen Ausschnitt der arabischen Welt wirklich erfasst.
Frenzel: Aber die Situation, die kann man doch vielleicht in beiden Fällen auf einen Satz zurückbringen: Die Zeit ist einfach reif. Die Zeit war reif 1989 in Europa, und die Zeit nach dieser langen Starre in der arabischen Welt, sie war doch auch einfach – es war doch einfach an der Zeit, dass sich dort etwas tut. Warum kann aus dieser Situation nicht mehr erwachsen?
Fürtig: Reif in dem Sinne, dass die Bedingungen sogar vergleichbar waren im Sinne von Autokratien, von sehr erstarrten diktatorischen Regimes, das war relativ ähnlich, und das ist auch noch ähnlich. Aber wir haben es zum Beispiel doch mit erheblichen Unterschieden zu tun, die in der Debatte hierzulande immer vergessen worden sind: Wir haben es eben, nur um ganz wenige zu nennen, wir haben es eben mit sehr, sehr großen Ländern, mit sehr, sehr kleinen Ländern zu tun. Wir haben es mit Ländern zu tun, die sehr reich sind, wenn wir nur an die Ölstaaten am Golf denken, und sehr arm sind, wenn wir an Jemen denken oder etwa an Mauretanien.
Wir haben es mit Ländern zu tun, die haben eine koloniale Vergangenheit, andere sind im Prinzip schon immer als Territorialstaaten existent. Wir haben Republiken, wir haben Monarchien. Erstaunlicherweise haben es die Monarchien wesentlich besser überstanden als die Republiken, eigentlich die modernere Staatsform.
Wie gesagt, wir können Staaten herausnehmen, die haben im Prinzip eine relativ homogene Bevölkerung, andere Staaten sind mehrfach zersplittert in Ethnien, in Konfessionen. Ich könnte jetzt eine ganze Reihe von anderen Dingen noch nennen – die Unterschiede sind einfach so groß, dass sie nicht dazu beigetragen haben oder die Ursache dafür sind, dass wir eben nicht mit einer Welle von Transformationen, einer Welle von Umgestaltungen von Marokko im Westen bis Irak im Osten rechnen durften.
Frenzel: Dann frage ich Sie so rum: Nach den Zutaten, die notwendig wären, nach den gesellschaftlichen Voraussetzungen, die es braucht, oder die es gebraucht hätte, wenn wir auf ein Land wie Ägypten schauen, damit Freiheit und Demokratie wirklich wachsen können?
Die Gesellschaft in Ägypten ist enorm in Bewegung geraten - trotzdem setzen sich noch immer die Herrschaftsstrukturen der Vergangenheit durch
Fürtig: Es ist ja nicht so, dass nichts passiert wäre. Die Gesellschaft ist ja enorm in Bewegung geraten, es hat seit 2011 ja mehrfach Wahlen gegeben, Parlamentswahlen, es hat Präsidentenwahlen gegeben. Die Gesetzgebung ist erheblich verändert worden.
Die Frage ist natürlich, in welche Richtung. Aber wir dürfen jetzt nicht nur sehen, dass eine Entwicklung eingetreten ist, die nicht ganz so verlaufen ist, wie man sich das hier erhofft und erträumt hat. Trotzdem ist die Gesellschaft in Bewegung geraten, und der Prozess seit 2011 – wir schreiben das Jahr 2014 – das sind drei Jahre, das ist für gesellschaftliche Umwandlungen und Umwälzungen eigentlich ein Wimpernschlag. Da ist letztendlich von der Aufgabenstellung, die eigentlich vor diesen Gesellschaften steht, noch erst ein Anfangsschritt getan, und nicht mehr.
Frenzel: Können wir von einem Elitenversagen sprechen in der arabischen Welt? Das war ja das Spannende in der europäischen Situation 1989, dass die alten Eliten zur Seite getreten sind, ja eigentlich gar nicht mehr darum gekämpft haben, zunächst zurückzukommen. Ist das ein entscheidender Unterschied, dass eben die alten Mächte, gerade, wenn wir auf Ägypten schauen, sich eben an der Macht festhalten, klammern, sie zurückgeholt haben, zurück geputscht haben?
Fürtig: Das Problem dieser arabischen Autokratien ist häufig im Prinzip, dass die Regimes und die Staaten de facto deckungsgleich sind. Es gibt kaum eine Entwicklung, auch kaum eine Tradition, wo der Staat unabhängig von den jeweiligen an der Führung befindlichen Schichten existiert, sondern die sind fest ineinander verwoben, und das seit Jahrzehnten. Wenn ich nur an Ägypten denke – im Grunde genommen haben wir dort seit dem Sturz der Monarchie 1952 ein Regime, dass sich in der Zusammensetzung zwar biologisch verändert hat durch den Generationswechsel, aber nicht in der Struktur. Das waren im Prinzip Militärs, die, wenn sie Präsidenten wurden, die Uniform ausgezogen haben und den feinen Zwirn an, aber sie waren letztendlich aus den Militärstrukturen mit einem sehr, sehr starken öffentlichen Sektor. Und diese Grundstrukturen, die sind auch heute noch existent. Wir dürfen uns dann eben nicht wundern, wenn wir wieder einen ehemaligen General an der Staatsspitze haben.
Frenzel: Haben Sie denn Hoffnung, dass sich das ändern wird?
Eine Gesellschaft nach einem Umsturz ist niemals mehr so, wie sie vorher war
Fürtig: Es gibt eine Hoffnung, und die liegt einfach darin – das ist natürlich eine historische Erfahrung, die darin liegt, eine Gesellschaft, die einmal diese Erfahrung eines grundlegenden Umsturzes gemacht hat, ist nicht mehr die, die sie davor war. Die Menschen haben gelernt, dass durch Aufbegehren, dass durch Unduldsamkeit Veränderungen möglich sind. Und ich sage es mal etwas salopp: Der Geist ist aus der Flasche, und den kriegen Sie nie wieder zurück. Das ist sozusagen eine gewisse Hoffnung. Eine Gesellschaft, wie gesagt, lernt durch diese Dinge, und selbst wenn wir jetzt eine Entwicklung zu verzeichnen haben, die doch wieder sehr, sehr retrograd ist, also doch wieder in alte Rollenmuster zurückfällt, dann bleibt diese Hoffnung letztendlich doch immer bestehen.
Frenzel: Ist der arabische Frühling gescheitert? Muss man so weit gehen, oder haben Sie ein kleines bisschen Resthoffnung?
Fürtig: Nein, nein – wie gesagt, diese Resthoffnung ergibt sich aus dem Lernprozess, den eine Gesellschaft durchläuft. Und, wie gesagt, wenn wir uns überlegen, dass wir von drei Jahren sprechen, dann ist das immer noch nicht allzu viel Zeit. Wenn wir an Umwälzungen denken, die wir auch hierzulande in Europa oder anderen Ecken der Welt hatten, wie wir tatsächlich einen vollständigen Regimewechsel hatten, mit neuen sozialen und politischen Verhältnissen, ist in der Regel mehr Zeit vergangen. Aber ich bleibe dabei, das hatte ich ja eingangs gesagt, die Unterschiede innerhalb der arabischen Welt sind einfach so groß, dass wir auch dann, selbst wenn wir Hoffnung haben, nicht davon ausgehen dürfen, dass sich das einmalig, oder sagen wir mal im Monatsrahmen über die gesamte arabische Welt erstreckt. Die Unterschiede, ich wiederhole mich gerade, sind einfach zu groß.
Frenzel: 25 Jahre nach der friedlichen Revolution in Europa: Was sind die Hoffnungen für die arabische Welt. Henner Fürtig war das, der Direktor des GIGA-Instituts für Nahost-Studien in Hamburg. Ich danke Ihnen!
Fürtig: Ja, gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema