Antisemitismus

Warum wir Juden in Deutschland bleiben

Ein Mann mit Kippa steht am 16. Dezember 2014 in Berlin vor dem Brandenburger Tor. Hier wurde am Abend der Chanukka-Leuchter entzündet.
Ein Mann mit Kippa steht vor dem Brandenburger Tor in Berlin; Aufnahme vom Dezember 2014 © dpa / picture alliance / Lukas Schulze
Von Sergey Lagodinsky · 02.03.2015
Israels Ministerpräsident Netanjahu hat europäische Juden zur Auswanderung nach Israel aufgerufen. Der Berliner Publizist Sergey Lagodinsky dagegen meint: Die Juden in Deutschland gehören in diese Gesellschaft.
Ich kenne keinen Juden, der Koffer packt. Natürlich gibt es ein paar, die mit dem Gedanken spielen, Deutschland zu verlassen – aus den unterschiedlichsten individuellen Motiven heraus. Ein Massenphänomen ist das aber nicht. Anders als in Frankreich ist Auswanderung auch nicht das dominierende Thema in den Diskussionen. Beim Feierabendbierchen redet man nicht über die Sprachkurse in Israel oder rechtliche Voraussetzungen für die Einreise.
Die Juden in Deutschland – die meisten von ihnen sind im Laufe des letzten Vierteljahrhunderts aus der ehemaligen Sowjetunion, Israel oder USA gekommen – sie gehören zu dieser Gesellschaft. Und zwar nicht mehr nur metaphorisch, nicht nur mit Blick auf den historischen Beitrag der Jüdinnen und Juden für dieses Land, nicht nur damit die hiesigen Politiker sich und ihren Wählern stolz auf die Schulter klopfen können. Nein, Jüdinnen und Juden gehören schlicht aus ihren eigenen Biografien heraus dazu.
Gerade die Zugewanderten und die jüngeren Generationen haben sich bewusst für Deutschland entschieden. Sie bauen hier ihre Zukunft auf. Die Unis sind voller jüdischer Studenten, es gibt immer mehr Ingenieure, Anwälte, Ärzte, Wissenschaftler. Es gibt Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die gut, jung, ehrgeizig und hier zu Hause sind. Vor allem in Großstädten werden Alltagsbegegnungen zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Deutschen immer selbstverständlicher. Das ist eine Tatsache.
Eine Zäsur: Beschneidungsdebatte und Gaza-Demos
Fakt ist auch: Die jüdischen Menschen in Deutschland sind verunsichert. Auslöser sind aber nicht die Anschläge von islamistischen Extremisten in Paris. Die Zäsur bildeten hierzulande die Argumente der Ottonormal-Mitbürger während der Beschneidungsdebatte. Und die Auseinandersetzungen um den Gaza-Krieg im Sommer 2014, mit Beleidigungen und Angriffen auf deutschen Straßen und mit einem schweigenden und teils zustimmenden Nicken in deutschen Wohnzimmern und auf deutschsprachigen Facebook-Seiten. All das hat Fragezeichen hinterlassen.
Diese Fragen wollen wir aber im Austausch mit der hiesigen Politik und der hiesigen Gesellschaft beantwortet sehen. Wir winken nicht mit unseren Reisepässen, sondern mit dem deutschen Grundgesetz. Wir nehmen unsere Verfassung beim Wort. Und darin steht klipp und klar, dass die Menschenwürde aller geschützt sein muss.
Die ganze Welt hat ein ernsthaftes Problem
Jüdische Menschen fühlen sich schon seit dem 11. September 2001 verunsichert, seit den Anschlägen auf das jüdische Zentrum in Buenos Aires 1994, seit den Geiselnahmen und Tötungen im jüdischen Zentrum in Mumbai 2008. Der Judenhass ist ein globales Phänomen. Ein Phänomen, das viele Nichtjuden unterschätzen, das den meisten Juden aber schon sehr lange sehr klar ist. Denn es gibt kein Entkommen. Man kann nicht nach Afrika fliehen (es sei an den Anschlag auf das teils israelisch geführte Einkaufszentrum in Nairobi erinnert), nicht nach Asien (denken wir an Mumbai), aber auch nicht nach Israel, wo die Angst vor Terror zum Alltag gehört. Nicht Europa, nicht Deutschland, sondern die ganze Welt hat ein ernsthaftes Problem.
Deshalb müssen wir alle zusammen einiges klären. Das Gerede von einer Auswanderung aus Deutschland ist dabei eine bequeme Ablenkung vom Wichtigsten: Was tun gegen Antisemitismus, hierzulande und sonst wo? Die Juden in Deutschland müssen ein aktiver Teil dieses Gesprächs werden. Ja, wir müssen reden! Aber dieses Gespräch bestimmt nicht unseren Alltag. Wir lassen uns nicht durch den Hass anderer Menschen definieren. Wir leben, wir arbeiten, wir feiern und wir weinen. Im Hier und Jetzt.
Wir bleiben.

Sergey Lagodinsky, geboren 1975, ist Jurist und Publizist in Berlin. Er ist 1993 nach Deutschland gekommen, studierte und forschte in Göttingen, Harvard, Yale und an der Humboldt Universität in Berlin. Er ist gewähltes Mitglied der Repräsentantenversammlung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Sein Buch "Kontexte des Antisemitismus" erschien 2013 im Metropol-Verlag.

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