Antisemitismus

Lackmustest einer modernen Gesellschaft

Teilnehmer der Kundgebung "Steh auf! Nie wieder Judenhass!" des Zentralrats der Juden in Deutschland stehen am 14.09.2014 vor dem Brandenburger Tor in Berlin.
Teilnehmer der Kundgebung "Steh auf! Nie wieder Judenhass!" am 14.09.2014 in Berlin © picture alliance / dpa / Maja Hitij
Von Armin Nassehi · 23.04.2015
Wie sieht es zwei Generationen nach dem Holocaust aus? Antisemitismus sei zu einer Art weltweiten Markenartikel geworden, meint der Soziologe Armin Nassehi.
Machen wir uns nichts vor: Antijüdische Ressentiments sind jederzeit abrufbar, auch wenn sie gelegentlich im Gewande der freundlichen Rede daherkommen. Doch der Antisemitismus ist nicht nur allgegenwärtig – er hat sich auch globalisiert. Er ist zu einer weltweiten Marke geworden. Er funktioniert, wie jede gute Marke, ohne weitere Erklärung und Nachfragen. Wie konnte es dazu kommen, dass antisemitische Sätze weltweit anschlussfähig sind?
Um das zu verstehen, so glaube ich, müssen wir uns vergegenwärtigen, welche merkwürdig paradoxe Funktion gerade der bürgerliche Antisemitismus im 18. und 19. Jahrhundert hatte. Zu dieser Zeit entstand ein moderner Universalismus, der wenigstens rechtlich keine Unterschiede zwischen den Menschen mehr machen wollte und letztlich auch die Ausgrenzung und das Absondern der Juden nicht mehr zulassen konnte.
Im Zuge der Aufklärung und der Entstehung moderner Rechtssysteme hätten Juden wie alle anderen zu Staatsbürgern und vollwertigen Mitgliedern der Gesellschaft werden müssen. Es war nicht mehr zulässig, Menschen prinzipiell als Ungleiche zu behandeln – und letztlich fanden sich kaum mehr Gründe, dies nicht auch auf Juden anzuwenden. Die alten Ressentiments fanden sich trotzdem sogar in Rechtsnormen wieder. Man verweigerte den Juden schlicht die vollen Teilhaberechte, etwa im Staatsdienst oder an Universitäten.
Fremde, die genau so waren wie wir selbst
Das Paradoxe des Jüdischen bestand aber darin, dass man es letztlich nicht vom Eigenen unterscheiden konnte. Überrascht stellte man fest, dass das Jüdische gar nicht anders war – außer eben: jüdisch zu sein. Das erst hat das Jüdische so mystifizieren können, weil die einzige Andersheit darin bestand, dass der Jude ein Jude war. Sie waren Fremde, aber Fremde, die genau so waren wie wir selbst, außer eben, dass sie andere waren – was für eine unlogische und paradoxe Figur.
Aber dies Unlogische und Paradoxe hat gerade die Funktion des Antisemitismus ausgemacht. Und tut es bis heute. Die andere Seite – der Wilde für den Zivilisierten, der Franzose für den Deutschen, der Prolet für den Bürger, der Orientale für den Europäer –, diese andere Seite dient stets dazu, die eigene Position positiv ausdrücken zu können. Die Juden ließen und lassen sich dafür noch besser missbrauchen, denn sie sind stets die inneren anderen. Der Jude als Symbol für die inneren Anpassungsstörungen mit Modernisierungsprozessen – das funktioniert auch heute.
Das Jüdische stellt alles Gewohnte in Frage
Deshalb finden wir im Antisemitismus bis heute die Spuren des Antikapitalistischen. Wir finden bis heute den Vorwurf, der Jude sei halt- und bindungslos. Der Antisemitismus strotzt nur so vor anti-amerikanischen Motiven. Das Jüdische dient als Symbol für eine Modernisierung, die alles Gewohnte in Frage stellt.
Diese Motive haben sich seit dem 19. Jahrhundert kaum geändert, und sie sind der Markenkern eines Antisemitismus, der im Wortsinne fraglos, fragenlos funktioniert. Das Antijüdische finden wir deshalb vor allem bei denjenigen, denen die westliche, liberale Denkungsart und Lebensart zuwider ist. Bei den Rechtskonservativen, die stets einen anderen brauchen, um die Eigenen identifizieren zu können. In einer islamischen Welt, der der Westen stets als geopolitischer Modernisierungsdruck begegnet. Bei Linken, denen die liberale westliche Lebensform stets als zu unreguliert erscheint.
All das scheint dem kollektiven Gedächtnis näher zu sein, als wir es glauben wollen. Und deshalb ist der Antisemitismus immer noch der Lackmus-Test für die Frage, wie wir uns eine moderne Gesellschaft vorstellen.
Armin Nassehi, geboren 1960 in Tübingen, ist Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er wuchs in Deutschland und im Iran auf, studierte Erziehungswissenschaften, Philosophie und Sozialwissenschaften. Armin Nassehi arbeitet zu politischen und kulturellen Themen. Seit Herbst 2011 ist er neuer Herausgeber des Kursbuches. Sein Buch "Die letzte Stunde der Wahrheit – Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss" erschien im Frühjahr 2015 im Murmann Verlag.
Soziologe Armin Nassehi.
Soziologe Armin Nassehi© imago / Horst Galuschka
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