Antike Psychosen

11.09.2013
Mit den modernen Methoden seines Faches behandelt der Psychiater Andreas Marneros in "Irrsal! Wirrsal! Wahnsinn!" die Helden der griechischen Tragödie. Medea, Elektra, Herakles und natürlich Ödipus dreht er durch eine originelle Zeitmaschine - nicht ohne Augenzwinkern.
"Herakles, was ist los mit dir?", fragt freundlich der Psychiater. Herakles senkt den Kopf und weint. "Ich kann nichts sagen", flüstert er. "Ich kann es einfach nicht." Eine furchtbare Tat lastet auf dem Helden: Er hat seine geliebte Frau und seine drei Söhne brutal umgebracht.

"Irrsal! Wirrsal! Wahnsinn!" heißt das originelle neue Buch von Andreas Marneros. Den griechischen Tragödien rückt der Autor mit moderner Psychiatrie zu Leibe, gewappnet mit feinsten Kenntnissen der alten Texte, sämtlicher Übersetzungen, ihrer Rezeptionsgeschichte und Wahnzuständen aller Art.

Was also steckte hinter der Bluttat? Der Dichter Euripides nennt es "Manie" - und dem stimmt auch Marneros zu. In beeindruckenden Details schildere die Tragödie die typischen Stadien einer "akuten vorübergehenden psychotischen Störung": den plötzlichen Ausbruch einer halluzinierenden Übererregung, die ebenso plötzlich wieder verschwindet. Das kann jeden schuldlos treffen, möchte Euripides sagen, selbst den größten Helden.

Anders verhält es sich mit der kindermordenden Medea. Sie wird im Drama wie auch vom psychiatrischen Gutachter für schuldfähig erklärt, hat sie ihre Taten doch minutiös geplant und in grausamer Konsequenz ausgeführt. Das ganze Fachvokabular seiner Disziplin lässt Andreas Marneros lustvoll auf die altehrwürdigen Werke donnern: Die "narzisstisch gekränkte" Medea, "fixiert" auf den begehrten Isaon, konzipiere den "Infantizid als Alternativtötung zum Intimizid". Betrüger Iason soll aus Gram über die verlorenen Kinder tausend Tode sterben.

Zwischen Literaturwissenschaft, Psychiatrie und höherem Blödsinn
Solche Passagen werden nicht ohne Augenzwinkern vorgebracht, denn der Humor spielt bei aller Ernsthaftigkeit eine große Rolle. Da debattieren Aristophánes und Euripides lebhaft mit Walter Jens. Medea verteidigt sich gegenüber einem forensischen Psychiater. Paulus wirft frühchristliche Sichtweisen in die Runde. Sophokles, Äschylos und Gottfried Wilhelm Leibniz loten gemeinsam den freien Willen des Menschen aus. Eine fiktive Gisela Friedrichsen - Gerichtsreporterin des "Spiegel" - und Aristoteles mischen sich auch noch ein. Möglich wird das dank der "Interkulturellen und Transepochalen Himmlischen Begegnungsstätte ITHB".

Durch die Zeitmaschine werden, neben Nárkissos, Oréstes und Ajax, natürlich auch Ödipus und Elektra gedreht. Erfrischend kritisch führen die antiken Dichter selbst das Debattenschwert gegen die Erfinder der Psychoanalyse. Auf Grundlage ihrer klug konstruierten Dramen fordern sie ein, wofür auch der Autor plädiert. Wer einen Menschen im Ausnahmezustand begreifen möchte, muss seine persönlichem Umstände genau untersuchen, anstatt ihn mit Übertheorien zu erschlagen.

Mitunter gehen die griechenlandverliebten Pferde mit Andreas Marneros durch: "Pankulturell! Panepochal! Pananthropisch!" sollen die antiken Dichter geschrieben haben, in ewiger Aktualität über der Geschichte schwebend. Das darf bezweifelt werden. Dennoch bleibt "Irrsal! Wirrsal! Wahnsinn!", das so wunderbar changiert zwischen Literaturwissenschaft, Psychiatrie und höherem Blödsinn, eine der ungewöhnlichsten Neuerscheinungen dieser Saison.

Besprochen von Susanne Billig

Andreas Marneros: Irrsal! Wirrsal! Wahnsinn! - Persönlichkeit, Psychose und psychische Konflikte in Tragödien und Mythen
Schattauer Verlag, Stuttgart 2013
374 Seiten, gebunden, 29,99 Euro
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