Ante Portas

Von Josef Schmid · 15.10.2006
Die Befürworter eines EU-Beitritts der Türkei sind leiser und weniger geworden. Das Aufbegehren des Islam löst gegenüber allem, was im Nahen und Mittleren Osten vor sich geht, doch so viel Unbehagen aus, dass auch die Türkei nicht mehr unabhängig davon gesehen wird. Doch einige Ideen für ihre rasche Aufnahme wollen nicht verschwinden.
Die erste meint, mit der Aufnahme der Türkei in die westlich-demokratische Sphäre wäre ein kühner geopolitischer Zugriff geglückt. Im Konkurrenzkampf der Kulturen hätte man eine große schwankende Nation, die sich schon weit auf dem westlichen Wege befindet, endgültig für ihn gerettet. Zugreifen, lautet hier das Motto, bevor nationalistische oder gefürchtete religiöse Kräfte dies vereiteln könnten.

Andere wieder sehen die Türkei in einer Brückenfunktion zum Orient, zu einem Raum hin, der für die Zukunft Europas und den Weltfrieden entscheidender wird denn je. Einige Wirtschaftsführer kommen ins Schwärmen und erblicken in der Türkei ein "China vor der Haustür": Massenproduktion und Absatzmärkte sind nicht mehr am anderen Ende der Welt, sondern schlicht unterm eigenen Dach.

So ähnlich klingen alle Botschaften der neuen südöstlichen Weltoffenheit. Hier wird vergessen, dass der gesamte Vordere Orient Teil des Osmanischen Reiches war und die Türken als strenge Kolonialherren in Erinnerung geblieben sind. Daraus erklärt sich, dass Deutschland zu allen ehemaligen arabischen Teilen des Osmanischen Reiches bessere Beziehungen hat als die Türkei und somit keinen Brückenbauer braucht. Vielmehr wäre die Türkei im europäischen Haus ein Einfallstor für Konflikte an seinen unmittelbaren Grenzen, wie dem Kaukasus und den weltpolitischen Problemfällen des Irak und Iran.

Die offizielle Politik und Diplomatie nennen Hindernisse eines Beitritts der Türkei, die mit einem Federstrich beseitigt werden könnten: Menschenrechtsverletzungen dort und da und Sticheleien um das Schutzmachtgebaren der Türkei auf Teilen eines EU-Staats, der kleinen Insel Zypern. Nein es gibt längerfristige und schwerer wiegende Gründe dafür, warum die Türkei wichtige Strecken ihres Weges außerhalb der EU, einer Gemeinschaft der modernsten Nationen, wird zurücklegen müssen. Vor ihr liegen Entwicklungsprobleme größten Ausmaßes und sie muss damit vor den Toren Europas bleiben. Sie muss Phasen durchstehen, welche die anderen Europäer zum Teil schon im 19. Jahrhundert hinter sich gebracht haben.

Da ist gleich die Demographie zu nennen, mit der das Vierundsiebzig-Millionenvolk noch zwei Generationen lang zu kämpfen haben wird. Zur Jahrhundertmitte wird die Türkei hundert Millionen Einwohner haben und kein Familienplanungsprogramm kann das abbiegen. Der Wachstumsschub liegt in den geburtenstarken Jahrgängen, aus denen zwanzig Jahre später Eltern werden, die selbst die eingeleiteten Geburtenrückgänge mit umso größeren Zahlen von Eheschließungen wieder auffüllen. Dann müssen die Mädchenjahrgänge vor allem eingeschult werden, eine Ausbildung bekommen, um andere Perspektiven zu haben als frühzeitige Ehe und mehrfache Mutterschaft. Der zentrale und östliche Teil des Landes, unermesslich nach unseren Vorstellungen, muss seinen Charakter eines tiefen Entwicklungslandes mühsam abbauen und Beschäftigung schaffen, weil sonst wegen Landflucht die Städte überquellen und der Wanderungsdruck auf die Mittelmeerküsten unhaltbar wird.

Dieser Vorgang, wachsende Menschenmassen in eine Industriekultur einzufügen, ist von zentraler Bedeutung. Er hat in allen europäischen Nationen den Wirtschaftgeist und das soziale Gewissen geschärft. Er ist Teil ihrer Nationsbildung. Die traumatischen Erfahrungen von Landbewohnern, die zu Industriebürgern gewaltsam umgebogen wurden, sind europäische Sozialgeschichte und mit so glücklichem Ausgang vielleicht nicht wiederholbar.

Diesen Vorgang nun auf die Türkei übertragen, kann nur heißen, dass sie ähnlich schwere Konvulsionen, Phasen der Zerrissenheit durchleben wird. Sie werden sich auftun zwischen Modernisierung und ländlichen Traditionen, die zwar schon ein Verfallsdatum tragen, sich im Absterbensprozess aber noch einmal religiös und fundamentalistisch aufladen werden. Was die Türken auf ihrem Weg in die Säkularisierung an Religion einbehalten müssen - denn aus der Religion von gestern stammt die industrielle Disziplin von heute - wird hier zur Schicksalsfrage und bedeutet einen inneren Kulturkampf, den Atatürk seinem Land hinterlassen, wenn nicht gar aufgetragen hat.
Offenbar hat man hier keine Vorstellung von einem sozialen und ökonomischen Gärungsprozess von siebzig bis hundert Millionen. Er kann vor Mitte des Jahrhunderts nicht abgeschlossen sein. Man kann ihn unterstützend begleiten, aber nicht ins Innere des europäischen Gehäuses holen.

In der Zwischenzeit können sich die Deutschen daran erinnern, dass sie seit Kaisers Zeiten eine "privilegierte Partnerschaft" mit der Türkei pflegen: die Lokomotiven der Bagdad-Bahn dampfen immer noch; deutsches Recht wurde eingeführt; vom NS-Staat vertriebene Professoren hielten deutsche Vorlesungen. Die Türkei könnte heute so deutsch sein, wie Indien britisch geworden ist. Da überrascht der Bundesaußenminister mit der Absicht, in der Türkei eine deutschsprachige Universität zu errichten. Das hätte vor hundert Jahren schon geschehen können. Man denke: Fließend deutsch sprechende, akademisch gebildete Türken und Türkinnen ohne Kopftuch kämen da über die Grenze. Auch hier liegt eine Vergangenheit verborgen, die man sich vergegenwärtigen sollte.



Josef Schmid, geboren 1937 in Linz/Donau, Österreich, zählt zu den profiliertesten deutschen Wissenschaftlern auf seinem Gebiet. Er studierte Betriebs- und Volkswirtschaft sowie Soziologie, Philosophie und Psychologie. Von 1980 bis 2005 war Schmid Inhaber des Lehrstuhls für Bevölkerungswissenschaft an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Seine Hauptthemen: Bevölkerungsprobleme der industrialisierten Welt und der Entwicklungsländer, Kulturelle Evolution und Systemökologie. Schmid ist Mitglied namhafter nationaler und internationaler Fachgremien. Veröffentlichungen u. a.: "Einführung in die Bevölkerungssoziologie" (1976); "Bevölkerung und soziale Entwicklung" (1984); "Das verlorene Gleichgewicht - eine Kulturökologie der Gegenwart" (1992); "Sozialprognose - Die Belastung der nachwachsenden Generation" (2000). In "Die Moralgesellschaft - Vom Elend der heutigen Politik" (Herbig Verlag, 1999) wird der Widerspruch zwischen Vergangenheitsfixiertheit und der Fähigkeit zur Lösung von Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben scharfsichtig analysiert.