"Anstand" als kontaminierter Begriff

Von Knut Berner · 18.07.2013
Menschen, die sich selbst als "anständig" auf der vermeintlich richtigen Seite verorten, sind dem Theologen Knut Berner zutiefst suspekt. Er fragt sich, wie ein von den Nazis auf übelste Weise instrumentalisiertes Wort noch heute Tugendhaftigkeit vorgaukeln kann.
Es gibt Begriffe, die so belastet sind, dass sie nicht mehr unbefangen benutzt werden können. "Anstand" ist ein solcher Begriff. Heinrich Himmler nannte in seiner Rede vor SS-Offizieren am 4. Oktober 1943 in Posen diejenigen "anständig", die den Anblick der von ihnen selbst produzierten Leichenberge aushalten konnten.

Mit "Anständigkeit" wurden also Verbrechen gerechtfertigt, wie die neuere Forschung zur nationalsozialistischen Moral zeigt. Und doch darf man den Anstandsbegriff heutzutage ungestraft benutzen. Für den Begriff der Ehre dagegen gilt, dass er einen Straftatbestand darstellt, sofern die SS-Parole "Meine Ehre ist Treue" verwendet wird.

Mit "Anstand" darf unbekümmert operiert werden und der Begriff erlebt derzeit eine Renaissance im moralbegeisterten Deutschland:

Den Auftakt machte ausgerechnet am 4. Oktober 2000, nach dem Brandanschlag auf die Düsseldorfer Synagoge, der Aufruf Gerhard Schröders zum "Aufstand der Anständigen" – sicher eine wohlmeinende Aktion, die aber keinerlei Problembewusstsein dafür erkennen ließ, dass es in früheren Zeiten gerade die sogenannten "Anständigen" waren, von denen Gefahr für Synagogen ausging.

"Deutschland ist ein gutes Land mit überwiegend netten, anständigen Leuten" – mit diesen Worten begann ein Leitartikel in der ZEIT vom 17. Februar 2011. Klar, die Schurkenstaaten sind immer woanders und in Deutschland gibt es das ja alles nicht: Machtmissbrauch, Rachephantasien, Nutzer von Internetpornografie, Fremdenfeindlichkeit, sarkastische Lehrer und Spielarten des Familienterrors. Die Pathetik des Elends haust woanders.

Nach dem Rücktritt von Verteidigungsminister zu Guttenberg erläuterte die Kanzlerin noch am selben Abend, die CDU müsse sich von niemandem erklären lassen, was "Anstand und Ehre" bedeuteten.

Der Begriff will die Affinität des Menschen zum Bösen verschleiern
"Anständig wirtschaften" empfiehlt ein Buch des Katholiken Hans Küng und dass mit "Anstand" ganz leicht Finanzkrisen vermeidbar gewesen wären, ist auch die simplifizierende These einer evangelischen Theologin in der Juniausgabe 2013 des Magazins "Chrismon".

Man kann fragen, was deprimierender ist: Die naive Ansicht, durch manierliches Verhalten Einzelner seien komplexe Probleme zu bewältigen oder die Ignoranz gegenüber der Einsicht, dass es schon immer dem Bösen diente, wenn sich Menschen selber auf der vermeintlich richtigen Seite verortet haben?

Wer "Anstand" einfordert, scheint davon überzeugt zu sein, das gesellschaftliche Gefüge sei intakt oder könne es wenigstens werden, wenn der Einzelne verlässlich und wohlerzogen agiert. Fehler kommen dann zwar noch vor, aber von der Fehlbarkeit als einer anthropologischen Konstante, die den Menschen in allen seinen Lebensvollzügen korrumpiert, mag man nicht mehr sprechen.

Nur: Als "gutes Land mit überwiegend netten, anständigen Leuten" hat sich das nationalsozialistische Deutschland auch gesehen und ganz gezielt auf diesem moralischen Fundament die Vernichtung derer betrieben, die aus dieser geschlossenen Gesellschaft heraus definiert wurden. Das Grauen potenzierte sich noch dadurch, dass die meisten Mörder im Privatleben ganz normale, umgängliche Leute waren. Gemütlich, tierlieb, spießig, "anständig".

Man kann einwenden, dass sich ein Begriff nicht für alle Zeiten verbiete, nur weil er mal in böser Absicht verwendet wurde. Doch genau diese Affinität des Menschen zum Bösen will der Begriff ja verschleiern, indem er eine Garantie auf Tugendhaftigkeit vorgaukelt. Er ist in sich unaufrichtig.

Zudem: "Anstand" ist eine kontaminierte Vokabel. Denn der Massenmord durch die Nationalsozialisten geschah nicht trotz, sondern wegen dieses probaten Begriffes. Mit ihm wurde treffend eine Gesinnung bezeichnet, die Unrecht legitimiert. Und so funktionierte der Begriff auch. Warum sollte er inzwischen diese Funktionalität verloren haben?


Knut Berner, geboren 1964 in Wuppertal, studierte evangelische Theologie in Bonn und Heidelberg. Anschließend wurde er in Wuppertal zum Pfarrer ausgebildet, promovierte und habilitierte sich an der Ruhr-Universität Bochum. Knut Berner ist stellvertretender Leiter des Evangelischen Studienwerks Villigst. Außerdem lehrt er als Professor Systematische Theologie an der Ruhr-Universität Bochum.
Knut Berner, Professor für Systematische Theologie an der Ruhr-Universität Bochum
Knut Berner© privat