Ansichten über Afghanistan

Rezensiert von Stefan Berkholz · 28.03.2010
Marc Lindemann gibt in "Unter Beschuss" eine Bestandsaufnahme über den Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan. Marc Thörner zeigt in "Afghanistan-Code", wie vielschichtig die Situation am Hindukusch ist. Es sind zwei Bücher mit zwei Ansichten.
Marc Lindemann war im vergangenen Jahr in Kundus stationiert. Seine Bestandsaufnahme ist aus der Empörung eines Soldaten gespeist, der sich von der Politik und der öffentlichen Meinung im Stich gelassen fühlt.

"Es kann nicht mehr darum gehen, aus Afghanistan jetzt im Jahre 2010 eine blühende, funktionierende Demokratie zu formen. Es geht zunächst einmal darum, Stabilität zu erreichen. Und den Kampf gegen die Aufständischen zu gewinnen, wenn möglich."

Im zweiten Buch zweifelt der Journalist Marc Thörner an all dem, was offizielle Stellen ihm vor Ort vorsetzten. Und er behauptet, dass die Verkündungen des Westens doppelzüngig und heuchlerisch seien. Auch Thörner war, wie Lindemann, mehrmals in Afghanistan, manches Mal "eingebettet" in Soldatenverbände, in der Regel aber auf eigene Faust recherchierend. Fragend und kombinierend gelangt der Journalist zu beunruhigenden Einsichten.

"Der Zusammenhang zwischen dem islamischen Fundamentalismus und der Aufstandsbekämpfung: Es war – wie sollte man es anders nennen – ein antidemokratisches Element, das sich klammheimlich in die deutsche Politik einschlich oder schon eingeschlichen hatte, etwas, das Aufklärung, Parlamentarismus und Demokratie entgegenstand, ein Aspekt der Antimoderne."

Es herrscht Krieg in Afghanistan, daran zweifelt mittlerweile kaum noch jemand. Bloß wie da halbwegs heil wieder herauskommen, das ist die Frage; und eine weitere, ob es tatsächlich überhaupt noch, wie vorgegeben, um den Aufbau demokratischer Strukturen am Hindukusch geht.

Der ehemalige Nachrichtenoffizier für die Bundeswehr, Marc Lindemann, setzt auf militärische Strategien, auf Aufrüstung, um die Region irgendwann einmal vielleicht zu befrieden. Er klagt die Politik an, schreibt in weiten Teilen einen patriotisch-militärischen Kommentar und singt das hohe Lied auf Kameradschaft, Mut und Entschlossenheit des Soldaten.

Der Journalist Marc Thörner hingegen hat in Afghanistan vor allem Propaganda, also Irreführung und Vertuschung aus offiziellen Kreisen zu hören bekommen - und Wut und Ohnmacht von den Einheimischen. Ist Afghanistan mittlerweile eher als Kolonialkrieg zu begreifen, fragt Marc Thörner? Ist der Kampf gegen den Terrorismus womöglich nur vorgeschoben? Für den Soldaten Marc Lindemann ist das abwegig:

"Ich bin fest davon überzeugt, dass die Stabilität, die wir in Afghanistan erreichen können, auch unserer eigenen Sicherheit hier zuhause genügt. Denn es war eindeutig, dass von Afghanistan aus die Terroranschläge auf die Vereinigten Staaten 2001 ausgegangen sind. Dort war der Hort, wo Terroristen Unterschlupf gefunden haben."

Marc Lindemann schreibt und denkt in militärischen Kategorien. Aus "Abenteuerlust" sei er nach Afghanistan gegangen, gesteht er, an den Einheimischen ist er nicht wirklich interessiert, an Haudrauf-Methoden umso mehr. Lindemann spricht von "Stellschrauben", von "Schlagkraft" und von "eisernen Besen", die kehren sollten, schließlich vom "Hort des internationalen Terrorismus", der, so der Autor, "dauerhaft und verlässlich ausgetrocknet werden" müsse.

Der Journalist Marc Thörner hingegen versucht zu verstehen. Er enthüllt kopflose militärische Planspiele vor Ort und sorgt sich um das zarte Pflänzlein Völkerverständigung. In Schriften von aufgeklärten Gelehrten findet er kühne Vorschläge:

"Wenn ihr euere Vergangenheit vergangen sein lasst, ungeachtet dessen, welcher Gemeinschaft ihr bis dahin zugehört habt, wenn jeder mit dem anderen zusammenarbeitet, egal, wodurch in der Vergangenheit euer Verhältnis bestimmt wurde, wenn jeder, ungeachtet seiner Hautfarbe, seiner Kaste, oder seines Glaubens, an erster, zweiter und letzter Stelle Bürger dieses Staats sein wird mit gleichen Rechten, Privilegien und Verpflichtungen, wird es kein Ende geben für den Fortschritt, den ihr machen werdet; dann werdet ihr erleben, dass Hindus aufhören, Hindus und Muslime aufhören, Muslime zu sein. Nicht im religiösen Sinne selbstverständlich – das ist privater Glaube jedes Einzelnen – aber im staatsbürgerlichen Sinn."

Solch milde Töne galten einmal als Manifest eines zukünftigen Muslimstaates. An solchen Schriften ist Marc Lindemann, der ehemalige Nachrichtenoffizier der Bundeswehr, nicht interessiert. Er plädiert für die Kooperation mit sogenannten ehemaligen Warlords, in der Hoffnung, mit ihnen zusammen Ruhe ins Land zu bringen.

Marc Thörner bezeichnet diese Strategie als das, was sie wohl ist: Kolonialismus, und eben nicht der versprochene Aufbau von Demokratie und die Achtung von Menschenrechten. Der Westen will mithilfe gewalttätiger einheimischer Herrscher Macht ausüben. Das ist die Quadratur des Kreises.

Aus gefügig gemachten Einheimischen werden aufgerüstete Machthaber, die sich zu Feinden entwickeln, siehe Osama bin Laden, siehe Saddam Hussein. Der ehemalige Soldat Marc Lindemann glaubt unbeirrt weiter an diese Strategie, die darauf vertraut, den Geist in der Flasche halten zu können:

"Auf die Frage, ob man das moralisch vertreten kann, sage ich: Ja. Denn wie sieht's denn in anderen Ländern aus? In sogenannten Partnerländern der westlichen Welt? Von Ägypten angefangen über den Jemen, über viele andere arabische und muslimische Staaten, wo sich Präsidenten wie beispielsweise in Ägypten regelmäßig mit 97 Prozent der Stimmen wieder wählen lassen. Das ist auch keine einwandfreie Demokratie. Das kann nun keiner behaupten. Und trotzdem habe ich ein relativ stabiles Umfeld, habe einen relativ großen Einfluss auf diese Machthaber."

Zwei Bücher, zwei Weltsichten. Zwei Autoren, zwei Ansichten. Marc Thörner verdeutlicht im Buch seinen Lernprozess, Marc Lindemann hingegen versteht sich als Besatzer. Er will das gewöhnliche westliche Heil bringen. Liest man Lindemanns Buch zu Ende, fallen einem Strategien ein, die immer wieder nur in die Sackgasse führten. In einer ohnehin aufgeputschten Region werden militärische Strategien in der Katastrophe enden. Das haben die letzten 200 Jahre Geschichte am Hindukusch längst bewiesen.

Marc Lindemann: Unter Beschuss. Warum Deutschland in Afghanistan scheitert
Econ Verlag, Berlin 2010, 288 Seiten, 18,95 Euro

Marc Thörner: Afghanistan-Code. Eine Reportage über Krieg, Fundamentalismus und Demokratie
Edition Nautilus, Hamburg 2010, 156 Seiten, 16 Euro
Cover: "Marc Thörner: Afghanistan-Code"
Cover: "Marc Thörner: Afghanistan-Code"© Edition Nautilus
Cover: "Marc Lindemann: Unter Beschuss"
Cover: "Marc Lindemann: Unter Beschuss"© Econ Verlag