Anjel: Es gibt nichts zu feiern

Memo Anjel im Gespräch mit Gabi Wuttke · 17.03.2010
Der kolumbianische Schriftsteller Memo Anjel beklagt, dass es in seinem Land zu wenig Demokratie und Toleranz Andersdenkenden gegenüber gäbe. Er ist zu Gast auf der Leipziger Buchmesse.
Gabi Wuttke: Es ist wieder soweit, ab heute Abend wird – nicht nur in Leipzig, aber dort vor allem – gelesen. Mit dabei der kolumbianische Schriftsteller Memo Anjel. Am ersten Gemeinschaftsstand Lateinamerikas auf dieser Buchmesse wird der Professor mit sefardischen Wurzeln zu finden sein – im Jahr der 200-jährigen Unabhängigkeit. Ich hatte Gelegenheit, ihn zu interviewen und zu fragen, wie er dieses Jubiläum bewertet.

Memo Anjel: Nach 200 Jahren vermeintlicher Unabhängigkeit hat sich in Lateinamerika überhaupt nichts geändert. Es hat lediglich Regierungswechsel gegeben. Einen Bruch zwischen Lateinamerika und Spanien. Aber es läuft nach dem spanischen Modell: Die Weißen sind oben und die Indios und Schwarzen sind am unteren Ende der Gesellschaft – und von daher gibt es keine Unabhängigkeit.

Wuttke: Warum ist das immer noch so?

Anjel: In Lateinamerika muss man auf die Probleme, die 200 Jahre alt sind, reagieren. Mit einem weitsichtigeren Blick auch auf die moderne Welt. Wir aber sind immer noch rückständig, und so denken auch alle. Ich zum Beispiel schreibe jüdische Geschichten und werde deshalb nicht wirklich in der Gesellschaft anerkannt, weil sie Judentum immer nur mit Jesus verbinden, also mit alten Zeiten.

Wuttke: Das heißt, es gibt eigentlich für Sie gar nichts zu feiern?

Anjel: Nein, nichts gibt es zu feiern, nur den Bruch.

Wuttke: Carlos Fuentes aus Mexiko hat 1992, also 500 Jahre nach der Entdeckung Amerikas, gefragt: Warum sind unsere Künstler und Schriftsteller so fantasievoll und unsere Politiker nicht? Knapp 20 Jahre später an Sie die Frage: Hat er recht?

Anjel: Die Politiker träumen immer nur davon, viel Geld zu haben, und ja, sie haben immer die Fantasie, dass alles irgendwie in ihrer Tasche landen soll. In dieser Hinsicht ist die Fantasie der Politiker sehr viel größer als die der Schriftsteller.

Wuttke: Und das heißt, da unterscheiden sich die weißen Politiker nicht von den indigenen, die ja auch vielfach in Lateinamerika inzwischen Präsidenten geworden sind?

Anjel: In Lateinamerika benutzt man die Demokratie, um Präsident zu werden, und wenn man Präsident ist, wird man ein kleiner Diktator und man versucht sich mit allen Mitteln der Diktatur an der Macht zu halten, ob das Polizei oder Geheimdienst ist. Was uns betrifft, wir sind Demokraten, wenn wir einen Präsidenten wählen, und danach sind wir Bürger, die unter einer Diktatur leben, solange die Präsidentschaft dauert.

Wuttke: Wohin bewegt sich Lateinamerika, das ja eben dann auch immer weiter in den letzten Jahren nach links gerutscht ist und trotzdem ein System hat, das man nur sehr rudimentär als demokratisch bezeichnen kann?

Anjel: Ich glaube, die Demokratie in Lateinamerika ist sehr rudimentär. In Lateinamerika ist die Opposition der Feind. Keine Opposition, Feind. Die Länder polarisieren, die Parteien polarisieren, die Zeitungen polarisieren. Sie tendieren von einem Extrem zum anderen. Es ist schwierig, von Toleranz zu sprechen, es gibt keine Toleranz in Lateinamerika. Ausnahme: Argentinien oder Brasilien.

Wuttke: Können Sie Toleranz vermitteln oder können Sie nur appellieren zu mehr Toleranz?

Anjel: Toleranz ist der Respekt vor dem anderen, aber das Problem ist, die meisten Menschen sind fanatisch, und der Fanatiker versucht, den, der nicht mit ihm einverstanden ist, auszuschalten. In Lateinamerika ist es ganz normal, dass jemand will, dass du so denkst wie er, dass du keine andere Meinung hast.

Wuttke: Das heißt, wogegen schreiben Sie an?

Anjel: In den Büchern, die ich schreibe, versuche ich Toleranz zu vermitteln, um mit der Literatur ein Gegenbild zu erzeugen, von dem man lernen kann.
Meine Doktorarbeit habe ich über den großen Denker Spinoza geschrieben, um zu verstehen, warum macht ein Mensch, was er macht. Wie schon der deutsche Philosoph Gadamer gesagt hat: Es ist möglich, dass der andere recht hat. Es ist möglich, dass der andere recht hat, und das müssten wir in Lateinamerika praktizieren – aber das machen wir nicht.

Wuttke: In Europa liebt man Literatur aus Lateinamerika auch, weil sie in vielen berühmten Fällen – und Sie gehören ja auch dazu – noch den magischen Realismus schreibt. Im Blick auf das, was Sie über die Toleranz gesagt haben: Ist der magische Realismus ein Spiegel, um zu zeigen, was fehlt, oder ist der magische Realismus eine Flucht vor der Realität?

Anjel: In der Realität gibt es mehrere Realitäten. Es gibt einen chilenischen Philosophen namens Hugo Maturana, der sagt: In einem Zimmer gibt es viele Türen und hinter jeder Tür liegt eine Realität. Die meisten Schriftsteller bleiben bei einem Thema – sei es ein Krieg, sei es die Gewalt –, aber nie sprechen sie darüber, was es heißt zu töten oder was Korruption bedeutet. Stattdessen erwähnen sie es höchstens am Rande. Das ist eine Diskussion, die wir im Moment in Kolumbien haben. Bis wohin ist das, worüber sie schreiben, Kolumbien? Weil Kolumbien wirklich verschiedene Realitäten hat.

Wuttke: Im Interview der "Ortszeit" von Deutschlandradio Kultur: der kolumbianische Schriftsteller Memo Anjel, Gast auf der Leipziger Buchmesse, die heute Abend eröffnet wird. Ich danke Ihnen sehr für den Besuch hier im Studio. Danke schön!

Anjel: Danke schön!
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