Angst in der Schule abschaffen

Von Karl-Heinz Heinemann · 17.10.2008
Sein Vater traute ihm nicht einmal die höhere Schule zu, dennoch sollte Alexander Sutherland Neill selbst Gründer einer Schule werden. Die Summerhill-Schulen lösten in den 60er Jahren eine Freie-Schul-Bewegung in den USA aus und wurden in Deutschland zum Vorbild für antiautoritäre Kinderläden. Neill selbst sah sich weder als Pädagoge noch als Bildungspolitiker, sondern als einen psychoanalytisch inspirierten Erzieher.
Der Spottvers Neill, Neill, Birnenstiel, den die Kinder auf ihn sangen, hat Alexander Neill, dem Gründer und Leiter der Summerhill-Schule so gefallen, dass er ihn als Titel für seien Autobiografie wählte.

"Noch heute laufen mir kleine Kinder nach und skandieren Neill, Neill, Birnenstiel, meist reagiere ich wie folgt darauf: Wieder falsch! Bohnenstiel, nicht Birnenstiel."

Er hatte offensichtlich keine Angst, dass Kinder seine Autorität untergraben könnten. Aber war er deshalb der antiautoritäre Pädagoge schlechthin, zu dem er in Deutschland mit seinem Buch "Erziehung in Summerhill" wurde, das der Rowohlt-Verlag 1969 unter dem verkaufsträchtigen Titel "Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung" in Millionenauflage vermarktete? Neills Credo, das seine Schule ebenso bestimmte wie seine Bücher, hat er in wenigen Sätzen zusammengefasst:

"Keiner ist gut genug, einem Kind zu sagen, wie es leben soll. Nein, die Hauptsache ist, dass für uns Spielen an erster Stelle steht, Gefühle an erster Stelle stehen, und Freiheit. Wir glauben an das Kind und wir glauben, wenn es frei aufwächst, wirklich frei, dann entwickelt es sich auf seine Art in seinem Tempo."

Kinder, die selbst entscheiden, ob und wann sie zum Unterricht kommen, die Lehrer beschimpfen dürfen und auf der Schulversammlung das gleiche Stimmrecht haben wie ihre Lehrer oder der Schulleiter. Das war das attraktive Gegenbild zur Paukschule, das die Schul- und Erziehungskritiker der 68er-Generation von Neill und seiner Summerhill-Schule verwirklicht sahen.
Neills Beziehung zur Schule war von Anfang an gestört. Sein Vater war ein schottischer Schulmeister, der ihn drangsalierte, und der nicht an ihn glaubte. Neill schreibt in seiner Autobiografie:

"Es ist hoffnungslos mit dem Jungen, sagte mein Vater düster. Dann soll er Lehrer werden, schlug meine Mutter vor. Dafür könnte es genügen, sagte mein Vater grimmig und ohne zu lächeln."

Neill begann als Hilfslehrer und passte sich zunächst ins System ein. Wie sein Vater und alle anderen Lehrer schlug er ungehorsame Kinder, bis ihm eines Tages plötzlich die Brutalität dieser Strafe bewusst wurde:

""Was tue ich da? Dieser Junge ist klein, und ich bin groß. Warum schlage ich jemanden, der nicht meine Größe hat? Ich warf meinen Riemen ins Feuer und schlug nie wieder ein Kind."

Nach seinen ersten Kontakten mit der internationalen Erziehungsreformbewegung übernahm er 1921 den internationalen Zweig der Schule in Hellerau, der durch und durch lebensreformistischen Siedlung in einem Vorort von Dresden. Neill sieht das als die eigentliche Gründung von Summerhill an, obwohl er erst 1924 eine Schule dieses Namens in England eröffnet. Mit den deutschen Reformpädagogen vertrug Neill sich nur mäßig, die waren ihm zu ernst. Während abends unten in der deutschen Abteilung der Schule in Hellerau Goethe und Nietzsche vorgelesen wurden, zeigte er oben Charlie-Chaplin-Filme und tanzte mit den Schülern Foxtrott. Die Frage nach dem pädagogischen Gehalt von Charlie-Chaplin-Filmen fand er überflüssig. Sie machen Spaß, was sonst? Neill orientierte sich nicht an den Säulenheiligen der Pädagogik. Seine Vorbilder waren Psychoanalytiker, Sigmund Freud, Alfred Adler, und vor allem Wilhelm Reich, mit dem er lange Zeit befreundet war. Neill bekämpfte zwar die Deformation junger Menschen durch die Drillschule, aber er hielt dennoch Grenzen der Freiheit für notwendig:

"In Summerhill heißt Freiheit, tun und lassen, was man will, solange keiner gestört wird. Wenn ein Kind kein guter Rechner werden will, so ist es seine Sache, aber wenn es Trompete spielen möchte, während die anderen schlafen oder lernen, ist es nicht Freiheit, sondern Zügellosigkeit."

Nach Neills Tod am 23. September 1973 führten erst seine Witwe und dann seine Tochter die Schule weiter. Sie existiert bis heute. Ihre zahlreichen Gegner haben auch bei den staatlichen Inspektionen, vor denen Neill seinerzeit immer Angst hatte, keinen Grund gefunden, die Schule aufzulösen. Neill sah sich selbst nicht als pädagogischen Theoretiker, aber er hat in seiner Autobiografie eine schöne Botschaft hinterlassen:

"Wenn man sich überhaupt an mich erinnern wird, dann, so hoffe ich, deshalb, weil ich versucht habe, den Abgrund zwischen Jung und Alt zuzuschütten, die Angst in den Schulen abzuschaffen. Wie ich für meine kleinen Schüler Neill-Neill-Birnenstiel bin, so möchte ich es für alle Kinder der Welt sein. Einer, der Kindern vertraut, einer, der an die ursprüngliche Güte und Wärme glaubt, der in der Autorität nur die Macht sieht und - zu oft - auch Hass."