Angela Krauß: "Eine Wiege"

Existenz statt Geschichte

Die Autorin Angela Krauß, aufgenommen am 20.2.2011 während einer Sendung des MDR in der Alten Handelsbörse Leipzig
Kleine Schwarz-Weiß-Fotografien, die ihr Vater vor Jahrzehnten machte, sind für Angela Krauß der Ausgangspunkt für "Die Wiege". © imago/STAR-MEDIA
Von Jörg Magenau · 20.05.2015
Leicht, flirrend, hochpoetisch: In "Eine Wiege" macht sich Angela Krauß auf den Weg zurück in ihre Kindheit. Die DDR spielt in ihrer lyrischen Prosa keine Rolle. Die Leipziger Schriftstellerin konzentriert sich auf existenzielle Fragen des Lebens.
Ausgangspunkt dieser Reise zurück in die eigene Kindheit waren für die Leipziger Dichterin Angela Krauß kleine Schwarz-Weiß-Fotografien, die der Vater in den 1950er-Jahren gemacht hat. Sie zeigen immer wieder eine Frau und mehrere kleine Kinder, einmal auch einen Mann von hinten, vielleicht derjenige, der die anderen Bilder gemacht hat. Vater, Mutter, Geschwister: Man kann nur vermuten, dass die Fotos genau dies zeigen, dass sie von der elementaren Zusammensetzung einer Familie erzählen. Damals, als sie entstanden, waren es Versuche, einen Augenblick festzuhalten. Jetzt sind es Abbilder von Szenen, die so fern gerückt sind, dass sie der Erinnerung kaum noch Zugang erlauben.
Textstücke wie Gedichte
Angela Krauß versucht diese Bilder mit der Sprache einzuholen. Was daraus entsteht, sind aber keine Bildbeschreibungen und auch keine Versuche, das Abgebildete in eine Geschichte einzubetten. Man könnte ihre Textstücke für Gedichte halten; Angela Krauß selbst nennt sie eine "Rede in Versen, die uns daran erinnert, wo wir inmitten rasanter Bewegungen zuhause sind". Das erste Bild zeigt ein kleines Mädchen mit einem Holz-Roller an einer Straßenecke. Vermutlich ist das die Autorin gewesen, die jetzt darüber schreibt wie über eine Fremde:
"Ich bin ein Kind, / aber nicht dieses. / Ich bin das andere, / das mich bewohnt."
Um diese Differenz zwischen der, die sie einmal gewesen ist und der, die sie in sich trägt, kreist dieses Buch. Es vollführt eine komplizierte Erinnerungsbewegung, die immer auch zugleich sich selbst in den Blick nimmt und über die naive Vorstellung hinausgelangt, das Vergangene wäre ein Ort, der sich betreten oder auch nur rekonstruieren ließe.
Wie sind wir die geworden, die wir heute sind? Wo kommen wir her? Bei Angela Krauß hört sich das so an:
"Ich stand auf der Straße / inmitten von etwas. / Es liebkost / ehe der Mensch anfängt / sich Gedanken zu machen."
So spürt sie dem lebenslangen Prozess nach, wie eine Person Konturen gewinnt im flirrenden Weltzusammenhang undurchschaubarer Sinneseindrücke und fragt nach dem, "was noch atmet, was widerspricht".
Von der DDR ist nichts zu sehen
Auffallend, dass auf keinem einzigen Foto – darunter viele Straßenszenen – Autos zu sehen sind. Man befindet sich offenkundig in einer Welt, die mit der heutigen nichts mehr zu tun hat und die geradezu idyllische Züge besitzt. Da geht es nicht um "Geschichte" und gesellschaftliche Einordnung; von der DDR, in der Angela Krauß – geboren 1950 in Chemnitz – aufgewachsen ist, ist nichts zu sehen. "Geschichte zernichtet", schreibt sie, und so gilt all ihre Konzentration dem existentiellen Raum, aus dem heraus wir leben. Es sind einfache Sätze, die sie dem Geschichtlichen entgegensetzt:
"Im Mai badete mich meine Mutter in Liebe wie ein Neugeborenes."
So etwa. Denn es erst so wird der Mensch zum Mensch. Aber auch schreckliche Momente brechen ein und gehören dazu, der Tod der Schildkröte etwa oder der Selbstmord des Vaters, mit dem Aktentasche, Brille und Börse zu herrenlosen Dingen werden.
"Eine Wiege" ist ein wunderbar leichtes, flirrendes, hochpoetisches Buch, mehr Lyrik als Prosa, mehr Erkundung des Menschseins als Autobiografie, mehr Sprachstrom als Erzählung. Und doch entsteht zusammen mit den Fotografien, die wie Glücksinseln darin schwimmen, das Bild einer ganz bestimmten Person, ihrer Herkunft und ihrer Zeit: Literatur vom allerschönsten.

Angela Krauß: Eine Wiege
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015
120 Seiten, 18,00 Euro

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