Anarchie im Dreivierteltakt

Die missverstandene Seligkeit des Walzers

Walzer beim Wiener Opernball
Walzer beim Wiener Opernball © picture alliance/dpa/Foto: Votava
Von Laf Überland · 15.02.2017
Der Walzer gilt vielen als Prototyp bürgerlicher Spießigkeit. Dabei steht er für das Gegenteil: Der Walzer durchbrach alle Regeln! Zum ersten Mal standen sich Mann und Frau eng gegenüber, umfassten einander gar und drehten sich im ununterbrochenen Wirbel in eine gemeinsame Trance.
"Solche Legenden entstehen immer, wenn sich das Gedächtnis selber anlügt", schrieb der scharfsichtige Kaffeehaus-Essayist Anton Kuh zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
In seinen Anfangszeiten war der verrückte, schnelle Walzer nämlich, wie man heute sagen würde: der musikalische Mittelfinger gegen die strenge Ordnung der ehrbaren Stände, die seit Ludwig XIV beim Tanzen dem Menuett frönten mit seinen komplizierten und zierlichen Figuren und den gemessenen Schrittfolgen auf exakten geometrischen Linien und wo der Herr und die Dame sich meist nicht mal berührten – und wenn, dann nur an der Hand.

Walzer gegen die Obrigkeit

Der Walzer aber durchbrach alle Regeln! Zum ersten Mal standen sich Mann und Frau eng gegenüber, umfassten einander gar und drehten sich im ununterbrochenen Wirbel in eine gemeinsame Trance, mit Hüpfschritt und häufig recht unbeherrscht im Körpergefühl: Naja, schließlich bestrafte die Wiener Obrigkeit ja auch nur das Hochwerfen und Umstossen der Partnerin.
Der Walzer war – oh Gott! - sexuelle Revolution!
Und nicht nur das: Denn wer in welcher Reihenfolge zum Tanz schritt, hing bis dahin streng geregelt von seinem sozialen Status ab. Im Walzer aber wurde die hierarchische Gesellschaftsordnung demoliert. Denn während Fürst von Metternich die Wiederherstellung der Verhältnisse vor der französischen Revolution und den Erhalt der Fürstenherrschaft betrieb und alle liberalen Tendenzen mit Spitzeln und Verboten bekämpfte, tanzte das Volk, wenn es schon nicht herrschen durfte, seine kleine französische Revolution nach Wiener Art: Freiheit und Gleichheit auf dem Tanzboden!
Im erotisierenden Rausch der Drehungen-Drehungen-Drehungen warfen sich die Hochwohlgeborenen plötzlich hemmungslos über die Standesschranken in die Arme von Bürgern und Wäscherinnen, auf den Hängeböden und auf Hausdächern, wo die Wäsche getrocknet wurde, oder bei den Tanzabenden in den Gasthöfen der Vorstadt, wo sich die feine Gesellschaft lust-voll unters Publikum mischte und zur Musik von kleinen Besetzungen walzerte.

Die Love Parade von damals

Und es entstanden auch riesige Tanzsäle: Der prächtigste und größte war das Odeon. Das bot Platz für 8000 Menschen und wurde von Johann Strauß mit seinem 80-köpfigen Orchester bespielt. Manchmal dirigierten auch mehrere Strauß-Familienmitglieder ihre eigenen Orchester im Laufe einer Nacht hintereinander und spielten Massen von frei sich drehenden Individuen durch ununterbrochenes Rotieren umeinander in eine Tanzekstase hinein. Der Sog der nie gehörten Auf und Abs im Tempo, dieses ständige Wechseln zwischen laut und leise waren die gleichen Ingredienzien, wie sie die Love Parade zur Auflösung im kollektiven Tanzrausch benutzte; und getanzt wurde der Walzer damals mit mindestens 180 beats per minute.
Und es wollte nicht aufhören! Besonders die Familien Lanner und Strauß lieferten pausenlos neue Musikstücke: Die Straußdynastie stellte die wie am Fließband her. Der jeweilige Komponist notierte eine Idee, und seine Arrangeure stellten die Stücke dann fertig - genau so, wie hundert Jahren später in der New Yorker Tin Pan Alley amerikanische Popsongs geschrieben wurden. Und trotzdem war der Straußwalzer frech, sinnlich und spottfroh – besonders bei Johann Strauß Sohn, dem Walzerkönig.
Entgegen seinem heutigen Image als Vertoner von seidenweicher Wiener Spießigkeit war dieser Musik&Tanz-Businessman nämlich gelegentlichen Spitzen gegen die Obrigkeit und die Zustände an sich nicht abgeneigt; für eineinhalb Jahrzehnte war er bei Hof sogar in Ungnade gefallen, weil er für die Revolutionäre von ´48 Stücke komponiert hatte.

Strauß als Revoluzzer

Wieder als Hofballkapellmeister in guter Position istalliert, löste Strauß 1867 dann beim Wiener Männergesangsverein ein Versprechen ein und schickte ihm für dessen Faschingsauftritt seinen neuen Donauwalzer. Der Gesangsverein nun setzte seinen Textdichter, einen Polizeikommissar, daran einen lustigen Text dafür zu schreiben: eine Satire auf überforderte und scheinheilige Politiker, die alles schönredeten, während in Wien Not und Armut durch Choleraepidemie und einen verlorenen Krieg gegen die Preussen grassierten.
"Wiener seid froh! Oho! Wieso?"
Schlußendlich hat sich der Mainstream den Walzer einverleibt, als sich die Restauration dann doch über die anarchische Emphase hinwegsetzte: Die Walzer wurden verlangsamt - vom "Außer-sich-Geraten" in rasendem Wirbel - zu einem gediegenen "Entschweben in eine bessere Welt", und gerade der satirische Donauwalzer wurde zum patriotischen Ruf umgedeutet: "zum Kriegslied gegen die neue Zeit", wie Anton Kuh später notierte. Und alles hatte wieder seine Ordnung – wie man sie bis heute mit Wien und seiner Walzerkultur verbindet.