"An den Rändern von Europa wird's interessant, wenn's um Musik geht"

Von Hildburg Heider · 29.07.2007
Die finnische Kleinstadt Kuhmo am nordöstlichen Rand Europas wird jeden Sommer zwei Wochen lang zum Nabel der Kammermusik-Wel. An die 50.000 Musikliebhaber besuchen das Internationale Kammermusikfestival inmitten der Taiga, das in diesem Jahr von der britischen Zeitung "The Indipendent" unter die Top Ten der Sommerfestivals gewählt wurde.
Nicolai: "Wir kamen an und dann haben wir gefragt: wo ist denn das Zentrum? Und sie haben gesagt: hier ist das Zentrum! Also man sieht, das Zentrum ist mehr geistiger Art, und das ist großartig hier, weil die Leute verstehen alle wahnsinnig viel von der Musik."

Bratscher Helmut Nicolai und Cellistin Anja Lechner gastieren zum ersten Mal in Kuhmo.

Lechner: "Hier geht man nicht her, um seine Kleider auszuführen oder um gesehen zu werden, sondern um die Musik zu hören und in dieser Landschaft zu sein. Das spüren wir. An den Rändern von Europa wird's interessant, wenn's um Musik geht!"

Kammermusik von Franz Schubert - ein Schwerpunkt in diesem Jahr, neben Werken von Johannes Brahms und Mozart. Das Rosamunde-Quartett aus München spielt sämtiche Streichquartette von Schubert.

Bauch: "Ich finde es sehr schön, dass sie nicht so wahnsinnig romantisch spielen, sondern mit relativ kleinem Vibrato und dafür extrem sauber mit ganz schönen Akkorden, die mir einfach unheimlich Freude machen."

Hildebrand: "Es geht mir ähnlich, es gibt einige Kritik an dem Rosamunde-Quartett, es heißt, sie spielen zu deutsch. Das kann ich nicht so sehen."

Fachsimpelei unter Kennern in der Fischbraterei am See. Friedrich Bauch und Helga Hildebrand besuchen seit vielen Jahren das Kuhmo-Festival. Vom Morgenkonzert um elf bis Mitternacht gehen oder radeln Zuschauer und Musiker zwischen der Holzkirche, dem Kuhmo-Talo und der Kóntio-Schule hin und her, um täglich bis zu acht Konzerte zu absolvieren. 72 Konzerte in den zwei Wochen, und kein Programm wiederholt sich!

Karjalainen: "Es gibt so ganz schwere große Werke, schöne, tiefe, lange von Schubert und Brahms und andere. Und inzwischen gibt es kleine süße wunderbare Sachen, scherzhafte, und das finde ich gut. Da kann man etwas Wunderbares erleben und ein bisschen lachen oder weinen."

Geschäftsführerin Tuulikki Karjalainen verfügt nur über ein Budget von einer Million Euro. Da muss Intendant Vladimir Mendelssohn auf manchen Traum verzichten.

"Es gibt einen gnadenlosen Aspekt. Das Publikum ist so gut informiert. Man kann nicht zwei, drei junge Leute von der Straße mit dem Lasso ziehen und auf der Bühne sich äußern lassen. Man muss die Besten haben für leider nicht so viel Geld."

So konnte Mendelssohn in diesem Jahr den legendären schwedischen Eric-Ericsson Kammerchor für mehrere Auftritte gewinnen.

Der knapp 90-jährige Gründer des Chors zeigt sich tief beeindruckt von der Vielfalt der Musik und dem hohen Niveau des Festivals.

Vladimir Mendelssohn hat als dramaturgische Klammer auch im zweiten Jahr seiner Amtszeit ein allgemeines Thema gewählt. Es wird auf dem Festivalposter symbolisiert durch einen Geigenkasten, voll beklebt mit Kofferetiketten: Mannheim und Hollywood, Vatikan und Hölle. Matka - Die Reise.
"Es gibt eine Menge unterschiedliche Reisen. Die meist introverte Schubert 'Die Winterreise', die meist extroverte Südamerika mit die Tangos von Piazzolla und die verrückte und wunderschöne kleine Stücke von Mauricio Kagel. Es ist nicht, was man traditionell erwartet."

Mendelssohn ist selbst Musiker. Er spielt Bratsche. Bei seinem Auftritt trägt er das Festival-T-Shirt, während die anderen Musiker zum gediegenen Schwarz-Weiß neigen. Den Rahmen sprengt erwartungsgemäß der finnische Geiger Pekka Kuusisto, wenn er mit schillernd besticktem Ärmel den Bogen schwingt, dass die Roßhaare fliegen.

Kuusistos clowneske Auftritte sorgen für ausverkaufte Konzerte und locken auch jüngere Leute an. Sein entfesselter Stil führt nach Meinung einiger Kritiker zum Untergang des klassischen Repertoires. Dass Kuhmo auch solche Extreme wagt - bis hin zu elektronischen Improvisationen, ist eine der Stärken dieses Festivals.

Das Publikum ist dankbar für die Kontraste zwischen wildesten Experimenten und zartestem A Capella-Choral und schätzt gleichermaßen Ligetis Konzert für 100 Metronome und Haydns Spätwerk "Die Sieben letzten Worte des Erlösers am Kreuz". Von solchen Wechselbädern erholen sich die Musiker auf ihren Sauna-Parties. Hier lädt auch Pekka Kuusisto seine Batterien auf. 0‘43

"Das öffnet auch dem Musizieren eine neue Dimension."
Mit einem Dutzend Musikern fing damals alles an. Heute sind es 150 Profis, die täglich rund um die Uhr proben, unterrichten und konzertieren. Immer wieder ereignen sich Sternstunden der Kammermusik. Da sind kleine Patzer hier und da schnell vergessen. Das spannungsreiche Programm mit seiner hochkarätigen Besetzung, die liebenswerte Betreuung und die hinreißende Umgebung versetzen alle in Begeisterung: das Kuhmo-Festival ist die lange Reise wert!