An den Grenzen der Medizin

17.09.2013
Es sind keine Heldengeschichten, die Albrecht Bernhard hier erzählt. Deutlich werden vielmehr die unbarmherzigen Realitäten im Medizinerberuf: Ein geretteter Selbstmörder, der eine neue Luftröhre bekommt, bringt sich später trotzdem um. Ein Frühchen, das erfolgreich am Leben gehalten wird, stirbt an einem Darmkeim.
Blütenweißes Cover, schlichte schwarze Schrift, darunter ein Arzt mit wehendem weißen Umhang. "Patient meines Lebens - Von Ärzten, die alles wagen" heißt das Buch. Autor des Ganzen ein Arzt. Unbehaglich wirkt das, wie eine Bestätigung des Klischees Der Götter in Weiß.

Und tatsächlich werden hier Ärzte - und es sind bis auf eine Ausnahme nur Männer - für ihren beruflichen Erfolg gefeiert. Ihre Verbissenheit wird geschildert, ihr Scharfsinn gelobt, ihr Durchhaltewillen zelebriert. Fast so als wären allein sie es, die alles riskieren würden, um Leben zu retten. Sind sie aber nicht! Und deshalb werden hier glücklicherweise auch die Geschichten der Frauen und Männer, der Patientinnen und Patienten, erzählt.

Autor Bernhard Albrecht ist nicht nur Mediziner, sondern auch Journalist. Mittlerweile arbeitet er beim "Stern", und er versteht sein Handwerk: Keine der hier geschilderten neun Fallgeschichten lässt einen kalt. Da ist der Inder Pavninder Singh, der nach einem Selbstmordversuch mit Backofenreiniger, als erster Mensch weltweit eine künstliche Luftröhre erhielt - und damit wieder normal essen und reden konnte. Entwickelt wurde diese Röhre von Heike Mertsching und Thorsten Walles. In jahrelanger Forschungsarbeit war es der Biologin und dem Mediziner gelungen, ein künstliches Organ inklusive Blutadern zu züchten.

Da ist die Geschichte von Kilian und Frieda Halter. Beide kamen in der 22. Schwangerschaftswoche zur Welt. Ihr Geburtsgewicht lag bei knapp 500 Gramm, gerade so viel wie zwei Päckchen Butter wiegen. Ihre Überlebenschancen waren gering, die Fachgesellschaften warnten. Doch der Kinderarzt Reinald Repp behandelte sie trotzdem – entgegen aller Warnungen. Und da ist Tim Brown, der erste Mensch, der von HIV geheilt wurde. Nachdem Brown 2006 auch noch an Blutkrebs erkrankte, erkannte sein behandelnder Arzt Gero Hütter eine Chance auf Heilung – und zwar beider Krankheiten: Man müsse eine Stammzellenspender finden, der immun gegen Aids ist. Und Hütter fand ihn.

All das wird fachkundig beschrieben, kein medizinisches Detail bleibt außen vor, mehr noch: Diagnose, Behandlung und Biografie werden in jeder Fallgeschichte zu einem großen Ganzen verwebt. Mediziner und Patienten stehen gleichberechtigt nebeneinander.

Anders als der erste Eindruck vermuten lässt, ist dies hier kein Lobgesang auf einen Berufszweig, der in den letzten Jahren Ansehen einbüßen musste. Bernhard Albrecht geht weiter – weiter auch als die behandelnden Ärzte. Er begleitet die Patientinnen und Patienten, schaut, wie sie nach der Therapie weiter leben und muss plötzlich erkennen, oft braucht es mehr als eine gelungene Behandlung. Pavninder Singh etwa tötete sich schließlich doch noch selbst. Der frühgeborene Kilian starb nach wenigen Wochen an einer Darminfektion, und es war seine Mutter, die darum bat, die lebenserhaltenden Maschinen abzustellen. Tim Brown erkrankte an einer Hirnhautentzündung mit schweren Folgeschäden.

Insofern ist dieses Buch ein Glücksgriff: Denn es zeigt nicht nur, dass viele Ärzte für ihren Beruf brennen und Unglaubliches wagen, sondern dass ärztliches Heilen immer dann an seine Grenzen stößt, wenn es den behandelten Menschen aus dem Blick verliert. Oder wie einer der im Buch beschriebenen Ärzte es auf den Punkt bringt: Er sei für das Gelingen der Operation zuständig, nicht für das, was danach mit dem Leben der Patienten passiert. Auch deshalb gehen in diesem Buch nicht alle Geschichten gut aus. Ein Heldenepos sieht anders aus. Und so erzählt Bernhard Albrecht hier beste Medizingeschichte.

Besprochen von Kim Kindermann

Bernhard Albrecht: Patient meines Lebens - Von Ärzten, die alles wagen
Droemer & Knaur, München 2013
272 Seiten, 19,99 Euro