Amrei Wittwer/Gerd Folkers: "Schmerz"

Herr D. und sein schmerzvoller Tag

Akupunktur
Akupunktur: Eine Form der Schmerztherapie © picture alliance/dpa/Foto: Gambarini Federico
Von Susanne Billig · 10.08.2016
Protagonist Herr D. stolpert in "Schmerz" durch einen Tag qualvoller Episoden: Er reißt sich Nasenhaare aus und verliert Zähne. Schmerzentstehung und Schmerztherapie sind humorvoll verpackt - das wirke aber gewollt und schade dem Sachbuch, meint unsere Kritikerin.
Schmerzentstehung, Schmerzverarbeitung, Schmerztherapie – das sind keine neuen Themen und doch gelingt Amrei Wittwer und Gerd Folkers in ihrem Buch "Schmerz" ein überaus frischer und interessanter Zugang – und das, obwohl eine der Hauptideen des Buches nicht funktioniert: In den "Innenansichten eines Patienten", die der Buchumschlag freudig ankündigt, stolpert ein Protagonist namens D., im Layout deutlich abgesetzt, durch einen Tag schmerzhafter Episoden. Er reißt sich die Nasenhaare aus, verliert Zähne, bekommt Streit mit einem Hund und debattiert über Descartes und die Zirbeldrüse. Humor mag Geschmacksache sein – gewollte Humorigkeit nervt und schadet dem Buch.

Schmerzempfinden bei Mann und Frau

Denn die Auswahl der Sachthemen ist spannend und umfasst ein erstaunlich breites Spektrum klassischer Inhalte: die physiologischen Grundlagen der Schmerzentstehung, die Verarbeitung des Schmerzes im Gehirn, die verschiedenen Ansätze der Schmerztherapie, eine gründliche Einführung in Schmerzmittel und ihre Wirkung. Ein Großteil des Buches jedoch widmen Autorin und Autor den überraschenden Seitenaspekten ihres Themas, etwa einem ganzen Kapitel über das unterschiedliche Schmerzempfinden bei Mann und Frau, in dem man, neben aktueller Forschung über den Geburtsschmerz oder die Wechselwirkungen von Geschlechtshormonen mit Schmerzrezeptoren, solch interessante Dinge erfährt wie den Umstand, dass rothaarige Frauen besonders schwierig zu anästhetisieren sind, weil sie auf Chromosom 16 eine Genmutation tragen, die ihnen nicht nur helle Haut und rotes Haar, sondern auch eine erhöhte Schmerzempfindlichkeit beschert.

Scharfes Essen und Sex-Pein

Ein anderes Kapitel beschäftigt sich ausführlich mit der emotionalen Seite des Schmerzes. Die Autoren erläutern, auf welch komplexe Weise körperlicher und seelischer Schmerz miteinander verwoben sind. Diese Zusammenhänge sind evolutionär uralt und darum auch bei Tieren zu finden, ein weiteres ungewöhnliches Thema, das in dem Buch immer wieder zur Sprache kommt. Das Autorenduo plädiert nachdrücklich für einen umfassenderen Tierschutz, denn nach heutigem Kenntnisstand ist auch ein großer Teil der Nicht-Wirbeltiere einem intensiven Schmerzempfinden unterworfen. In ihrem Buch finden die beiden sogar Platz für ein Kapitel zum Thema "Lust und Schmerz", in dem sie von den Räuschen der körpereigenen Opioide erzählen, die bei scharfem Essen oder rauem Sex-Pein in Glückseligkeit umschlagen lassen können.
Amrei Wittwer und Gerd Folkers haben ein gut recherchiertes Schmerzbuch auf wohlinformiertem medizinischen Niveau geschrieben, randvoll gepackt mit neuer Schmerzforschung und ergänzt durch eine ausführliche Literaturliste und ein detailliertes Register am Ende des Buches. Alles gut also. Und Protagonist D.? Der hätte von einem guten Lektor gestrichen werden müssen.

Amrei Wittwer/Gerd Folkers: Schmerz – Innenansichten eines Patienten und was die Wissenschaft dazu sagt
Hirzel Verlag, Stuttgart 2016
216 Seiten, 34 Euro

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