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Roman
Vom Agnostiker zum Katholiken – und zurück

Der französische Schriftsteller Emmanuel Carrère glaubte nicht an Gott, bis ihn - wie er es nennt - vor 25 Jahren die Gnade berührte. Er wurde ein dogmatischer Christ. Doch auch das war keine Entscheidung fürs Leben. In seinem Roman "Das Reich Gottes" vermischt er die Geschichte seiner Bekehrungen zum Glauben und Nicht-Glauben mit der des Apostels Paulus. Das Buch war in Frankreich ein Bestseller, jetzt ist es in Deutschland erschienen.

Von Margit Hillmann | 10.05.2016
    Der französische Autor Emmanuel Carrère bei einer Preisverleihung in Paris im Jahr 2011.
    Als "Ausnahmebuch" wird Emmanuel Carrères Bestseller "Das Reich Gottes" in Frankreich gelobt. Nun ist es auf Deutsch erschienen (dpa / Maxppp / Thomas Padilla)
    Emmanuel Carrère ist nicht in Paris. Er ist im japanischen Kyoto, hat sich fürs Interview vor seinen Laptop-Bildschirm gesetzt. Der Endfünfziger mit dem angegrauten kurzen Haar und Denkfalten auf der Stirn schaut angestrengt in die Kamera.
    "Sie sehen mich, aber ich kann Sie nicht sehen. Wie bei einem Polizeiverhör, wenn die Person, mit der Sie sprechen, im Dunkeln sitzt!"
    Ironisch-humoriger Carrère-Ton. In seinem Buch "Das Reich Gottes" schlägt er ihn oft an. Warum hat er es eigentlich geschrieben?
    "Diese so seltsame Geschichte vom Ursprung des Christentums hatte mich schon über 20 Jahre interessiert. Auf welche Weise die Religion überhaupt entstehen konnte, deren Erfolg doch so unwahrscheinlich war. Ich finde es verblüffend, oder zumindest doch überraschend, dass 2000 Jahre später immerhin noch ein Viertel der Weltbevölkerung an diese sonderbare Geschichte glaubt! Und das meine ich überhaupt nicht abwertend, es ist nur eigenartig. Also habe ich über den Ursprung des Glaubens, die Anfänge des Christentums enorm viel gelesen und sehr viel darüber nachgedacht. Und irgendwann hatte ich wirklich Lust, darüber zu schreiben."
    "Das Reich Gottes" ist in Frankreich bereits 2014 erschienen, schnellte innerhalb weniger Wochen auf Platz eins der Bestsellerliste und wurde auch von der Kritik als Ausnahmebuch gelobt. Es ist eine gelungene Mischung aus historischem Roman und investigativer Story, philosophischem Essay und Autobiografie - durchzogen mit feinem ironischem Humor. Besonders im ersten autobiografischen Teil des Buches über Emmanuel Carrère vor 25 Jahren: ein depressiver Schriftsteller und Drehbuchautor, der unter einer Schreibblockade leidet und vom hippen Pariser Intellektuellen zum glühenden Katholiken mutiert. Eine wahre Geschichte, versichert der Autor.
    "Ich wollte ein ziemlich dogmatischer Christ sein"
    "Ich habe versucht, aufrichtig und exakt zu sein. Normalerweise hätte ich nicht darüber geschrieben. Es wäre kein Buch wert gewesen zu erzählen, wie ich vor 25 Jahren ein sehr gläubiger, sogar ein ziemlich dogmatischer Christ werden wollte. Aber als ich mich an die Arbeit für den Roman machte, schien es mir plötzlich interessant zu erzählen, dass auch ich in einer Phase meines Lebens wirklich geglaubt habe."
    "Im Herbst 1990 wurde ich von Gnade berührt", stimmt Carrère die Leser auf seine mystische Krise ein.
    "Heute ist es mir gelinde gesagt peinlich, die Dinge so zu nennen, aber damals nannte ich sie so. Der Eifer, der aus dieser 'Bekehrung' erwuchs, - am liebsten würde ich alles in Anführungszeichen setzen - hielt fast drei Jahre an."
    Carrère erzählt die Episode abwechselnd aus der Sicht des Agnostikers von heute und des fiebrigen Katholiken von damals. Der, wie er seiner Frau verschämt gesteht, Christus begegnet ist. Der täglich zur Messe geht, Verse aus dem Johannesevangelium studiert und kommentiert. Der sich zweimal die Woche auf die Couch der Freudianerin Madame C. legt und doch überzeugt ist, dass er sein Seelenheil nur findet, wenn er seinen widerspenstigen, kritischen Verstand besiegt und bedingungslos glaubt: an die Wiederauferstehung Jesus - an das Neue Testament als das Wort Gottes.
    "Alle Mystiker sind sich darin einig, dass das, was von uns verlangt wird, das ist, was wir am wenigsten hergeben wollen. Wir müssen nach dem in uns suchen, das zu opfern uns am meisten schmerzen würde, darum geht es. Für Abraham ist es sein Sohn Isaak. Für mich ist es mein Werk, der Ruhm, die Gewissheit der anderen, meinen Namen schon einmal gehört zu haben. Dafür hätte ich meine Seele gern dem Teufel verkauft, aber der Teufel wollte sie nicht, und nun bleibt mir nichts anderes übrig, als sie dem Herrn gratis darzubieten."
    Der autobiographische Teil endet mit dem Ausklingen der mystischen Krise und den Worten des Agnostikers, der Carrère geworden ist: "Herr ich gebe dich auf; gib du mich nicht auf." Dann geht es ins Griechenland des ersten Jahrhunderts, zum Apostel Paulus und seinem Begleiter Lukas, dem Evangelist und Verfasser der Apostelgeschichte. Carrère stellt sich vor, wie Lukas Paulus zum ersten Mal begegnet. In einer Synagoge im Hafen vom Troas - "ein einfacher, fast kahler Raum".
    Paulus und Lukas: "fehlbar, streitsüchtig, eifersüchtig"
    "Ein Mann steht auf und tritt in die Mitte des Raums. Er stellt sich vor: Paulus, ein Rabbi aus der Stadt Tarsus. Er sieht nicht gerade vertrauenerweckend aus: Er ist arm gekleidet, klein, gedrungen und kahl, die schwarzen Augenbrauen sind über der Nasenwurzel zusammengewachsen. Er schaut die Leute um sich herum an wie ein Gladiator das Publikum vor einem Kampf. Seine Stimme ist tief, anfangs spricht er langsam, doch je mehr er sich ereifert, desto öfter überschlägt sich seine Rede und wird ungestüm und abgehackt."
    Der Autor macht Paulus und Lukas zu den Protagonisten seines Buches über die Anfänge des Christentums. Mitglieder einer kleinen Sekte, die umherziehen und den Leuten eine unglaubliche Geschichte auftischen: von einem Juden, der ans Kreuz genagelt wurde und dann von den Toten auferstanden sein soll. Emmanuel Carrère, der auch in diesem Teil des Buches als Ich-Erzähler omnipräsent ist, schaut den beiden Urchristen nicht nur über die Schulter, er nimmt sie unter die Lupe, rekonstruiert ihr Leben und ihre Umgebung. Eine antike Welt, in der Carrère viele Parallelen zur der von heute ausmacht."
    "Ich hatte Lust, ein realistisches Bild von Paulus und Lukas zu zeichnen. Von den Männern, die sie waren, bevor sie ihren Heiligenschein bekamen: fehlbar, streitsüchtig, eifersüchtig. Ich habe versucht, ihre Geschichten so präzise wie möglich zu erzählen. Aber es gibt natürlich einen beachtlichen Teil Fiktion und Erfindung. Aus einem ganz einfachen Grund: Vieles ist schlicht unbekannt. Die klassischen Texte, die jeder benutzt - Paulusbriefe, das Evangelium und die Apostelgeschichte - geben nur lückenhaft Auskunft. Ich musste also ständig blinde Stellen füllen. Ich habe mich aber bemüht, dem Leser klar zu sagen, wann etwas als historisch gesichert gilt, und wann es sich um rein persönliche Hypothesen meinerseits handelt."
    Dennoch werfen einige Kritiker Carrère vor, er habe sich beim Umgang mit den Texten des Neuen Testaments gelegentlich erstaunliche Freiheiten herausgenommen; häufig gewinne der Romancier und Drehbuchautor die Oberhand über den vermeintlichen Ermittler historischer Wahrheiten. Französische Historiker wie Régis Burnet, ausgewiesener Spezialist des Christentums, haben dem Autor des Bestellers dagegen ein feines Gespür und respektable Recherchearbeit attestiert. Emmanuel Carrère reagiert auf derlei Debatten eher gelassen:
    "Ich glaube nicht an die Objektivität. Und ich glaube auch nicht, dass meine Version vom Ursprung des Christentums die absolute Wahrheit ist. Es bleibt meine Sicht der Dinge, mit meinen Vorurteilen, meinen sehr begrenzten Sichtweisen. Das ist auch ein Grund dafür, weshalb ich mich als Erzähler in Szene setze. Damit sage ich dem Leser: Es ist keine absolute Wahrheit, nur das, was ich Ihnen erzähle."
    Ihm sei vor allem eines wichtig gewesen, sagt Carrère:
    "Was ich wirklich unbedingt erreichen wollte - und ich habe alles dafür getan, und das war sehr schwierig: Einen Roman übers Christentum zu schreiben, der für Atheisten genauso lesenswert ist wie für Gläubige. Und das war wirklich sehr schwierig."
    Der Wunsch eines Agnostikers, der, wie er selbst sagt, mit dem Christentum "sympathisiert". Und der - so scheint es - Glauben und Nicht-Glauben noch immer unter einen Hut bekommen will.
    Emmanuel Carrère : Das Reich Gottes. Übersetzung: Claudia Hamm. Matthes&Seitz, Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2016
    524 Seiten, 24,90 Euro.