Amnesty International: Politische Gefangene im Iran freilassen

Ruth Jüttner im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 23.07.2009
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International fordert die iranische Regierung auf, alle politischen Gefangenen freizulassen. Die Expertin für den Nahen Osten, Ruth Jüttner, sagte, die brutale Unterdrückung in dem Land müsse aufhören.
Liane von Billerbeck: Die iranische Menschenrechtsanwältin Shadi Sadr war das. Am vorigen Freitag wurde sie selbst verschleppt, auf offener Straße entführt. Ruth Jüttner von Amnesty International ist jetzt bei uns im Studio. Wie haben Sie von der Entführung Frau Sadrs erfahren?

Ruth Jüttner: Amnesty International ist schon seit Langem in engem Kontakt mit Frau Sadr, und wir haben über ihre Angehörigen und auch andere Aktivisten über diese Entführung erfahren. Sie wurde brutal zusammengeschlagen und in ein Auto gezerrt. Zunächst hatten wir die Befürchtung, dass sie verschwindet. Mittlerweile ist bekannt geworden, dass sie ihren Mann angerufen hat und gesagt hat, dass sie sich im Evin-Gefängnis befindet, und zwar in der Abteilung, die vom Geheimdienstministerium kontrolliert wird und wo besonders schlimme Haftbedingungen sind und wo die Gefahr der Folter und Misshandlung sehr hoch ist.

von Billerbeck: Wenn Sie so einen Fall erfahren, ist das ein Einzelfall, Frau Sadr, oder wie viele dieser verschwundenen entführten, auf offener Straße verschleppten Menschen gibt es inzwischen?

Ruth Jüttner: Das ist überhaupt gar kein Einzelfall. In den letzten Wochen, aber auch schon vorher wurden immer wieder Menschenrechtsaktivisten festgenommen. Es gibt viele Anwälte, die in der Zwischenzeit in Haft gekommen sind, zum Beispiel auch eine Mandantin von Frau Sadr, Frau Ahari, eine Menschenrechtsaktivistin, die wurde schon am 14. Juni festgenommen. Der bekannte Rechtsanwalt Abdolfattah Soltani wurde am 16. Juni in seiner Kanzlei festgenommen, und es gibt viele weitere Fälle. Diejenigen, die sich für die Rechte von politischen Gefangenen, von Regierungskritikern einsetzen, die sind besonders in Gefahr, in Haft genommen zu werden, misshandelt zu werden, gezwungen zu werden, Geständnisse abzulegen, mit denen sie sich selber Straftaten bezichtigen, und dann eben auch verurteilt zu werden.

von Billerbeck: Wie viele Personen geben denn die Behörden im Iran zu, die da entführt, verhaftet oder verschwunden sind?

Ruth Jüttner: Bislang haben die offiziellen Stellen, soweit wir das nachvollziehen konnten, etwa 2000 Festnahmen eingeräumt. Wir gehen aber davon aus, dass es sehr viel mehr sind. Aber die Situation ist extrem schwer zu recherchieren, weil es immer wieder zu neuen Festnahmen kommt. Ab und zu werden natürlich auch wieder Leute freigelassen. Also ein Bild davon zu zeichnen, ist extrem schwer, aber es ist davon auszugehen, dass viele Menschen festgenommen worden sind und dass die Gefängnisse mittlerweile sicherlich auch sehr überfüllt sind und die Haftbedingungen katastrophal sind.

von Billerbeck: Wie kommt denn Amnesty International an seine Informationen?

Ruth Jüttner: Wir haben Kontakt mit den Menschenrechtsanwälten, mit den Frauenrechtsaktivistinnen, mit Studentenvertretern, auch mit Journalisten, die uns regelmäßig Informationen geben. Aber wir müssen natürlich auch sagen, dass es mittlerweile viel schwieriger geworden ist, weil die Regierung und die Behörden die Informationsweitergabe blockieren, Internetdienste werden gesperrt, Handyverbindungen werden blockiert und, was man auch sagen muss, diejenigen, die Amnesty oder auch anderen Medien Informationen weitergeben, gehen ein großes Risiko ein, weil die Behörden nicht wollen, dass diese Informationen an die Öffentlichkeit kommen. Und wir haben oft gehört, dass Angehörige, die sich an Menschenrechtsorganisationen wenden, dann bedroht werden und man ihnen sagt: Wenn ihr diese Informationen weitergebt, dann werden wir euch auch inhaftieren.

von Billerbeck: Es ist also für Sie sehr schwer, auch alle Angaben zu verifizieren?

Ruth Jüttner: Das ist sicherlich so, dass es schwer ist, ganz eindeutig festzustellen, was konkret passiert ist, aber bei vielen Einzelfällen sind wir uns sehr sicher, dass die Informationen stimmen. Und diese Fälle veröffentlichen wir auch und wir versuchen, Druck auf die iranischen Behörden auszuüben, damit diese Festnahmen aufhören. Und wir fordern, dass die gewaltlosen politischen Gefangenen unverzüglich freigelassen werden.

von Billerbeck: Kann Amnesty International beziehungsweise die Mitarbeiter von Amnesty International denn in den Iran reisen, um die Angaben der Behörden zu überprüfen, wer da verschleppt wurde, wer da entführt wurde?

Ruth Jüttner: Nein, leider hat Amnesty International keinen Zugang zum Iran, und das schon seit fast 30 Jahren. Wir bemühen uns immer wieder, bei den Behörden eine Einreisegenehmigung zu bekommen, und wir haben das eben in den letzten drei Jahrzehnten nicht erhalten, und deswegen sind wir darauf angewiesen, auf anderen Wegen Informationen zu bekommen, eben durch den Kontakt mit den Menschenrechtsaktivisten.

von Billerbeck: Deutschlandradio Kultur. Auf offener Straße entführt – Ruth Jüttner von Amnesty International informiert uns, was mit Menschenrechtsaktivistinnen im Iran geschieht. Frau Jüttner, wie und wann erfahren denn die Familien, was ihren Angehörigen widerfahren ist?

Ruth Jüttner: Die Familien sind in einer extrem schwierigen Situation, weil sie keine Informationen von den Behörden bekommen. Es gab einen dramatischen Fall, den auch Amnesty dokumentiert hat, von einem jungen iranischen Studenten, der bei einer Demonstration am 15. Juni verschwunden ist, er wurde von seiner Mutter getrennt, die selber eine Friedensaktivistin ist. Und die Familie hat drei Wochen lang jeden Tag versucht, bei den Behörden Informationen über das Schicksal ihres Sohnes zu erfahren, sie haben keine Auskunft erhalten. Und erst drei Wochen später wurde die Mutter zum Revolutionsgericht bestellt, man hat ihr etwa 50 Fotos von getöteten Personen gezeigt, und dann ist der Albtraum wahr geworden, sie hat ihren eigenen Sohn unter den Toten erkannt. Und es kam dann heraus, dass er schon am 19. Juni, also vier Tage nach seinem Verschwinden, durch eine Schusswunde im Herzen gestorben ist. Und die Behörden haben bislang überhaupt nicht aufgeklärt, was mit ihrem Sohn Sohab Arabi passiert ist.

von Billerbeck: Shadi Sadr, die Anwältin und Frauenrechtlerin, wurde am 17. Juli entführt, am vorigen Freitag, wie auch einige ihrer Kollegen. Sie haben schon gesagt, sie ist im Evin-Gefängnis, wo die Bedingungen besonders schlecht sind. Was befürchten Sie, was ihr geschehen könnte?

Ruth Jüttner: Wir befürchten, dass sie, weil sie ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft ist, Opfer von psychologischem Druck wird, dass sie möglicherweise auch gefoltert und misshandelt wird und dass man sie zwingen wird, ein Geständnis abzulegen, was dann die Grundlage sein wird für eine Verurteilung, was natürlich ein unfaires Verfahren darstellt.

von Billerbeck: Was unternimmt Amnesty, um das zu verhindern oder um Druck auf das iranische Regime auszuüben?

Ruth Jüttner: Wir machen das auf vielfältige Weise. Als internationale Organisation machen alle Amnesty-Sektionen Druck auf die iranischen Vertreter in ihren Ländern. Wir setzen uns für die Inhaftierten bei der iranischen Regierung ein und fordern ihre Freilassung, wir fordern Untersuchungen derjenigen, die getötet worden sind. Und wir mobilisieren auch, also wir machen Aktionen. Es gibt am Samstag, dem 25. Juli, einen internationalen Tag zur Solidarität mit den Menschen im Iran, und wir machen hier in Berlin eine Kundgebung am Potsdamer Platz von 1:00 Uhr bis 15:00 Uhr, und wir fordern alle Menschen auf in Berlin, aber auch in anderen Städten in Deutschland, zu diesen Kundgebungen zu kommen und somit zu zeigen, dass diese brutale Unterdrückung nicht stillschweigend hingenommen wird und dass den iranischen Regierungsvertretern klar ist, dass diese Form der Unterdrückung aufhören muss.

von Billerbeck: Sie können sich also an dieser Demonstration beteiligen oder auch bei Amnesty International auf der Internetseite nachsehen, wo Adressen stehen, wohin man Briefe, Protestschreiben schicken kann, um diesen Verschwundenen zu helfen. Menschenrechtsaktivisten im Iran, verschwunden, verhaftet, ermordet. Danke an Ruth Jüttner von Amnesty International, die hier bei uns zu Gast war.

Ruth Jüttner: Danke Ihnen!