Am Wahltag wird abgerechnet

Von Reinhard Spiegelhauer · 17.11.2011
Nach Griechenland und Italien könnte nun auch Spanien einen neuen Regierungschef bekommen: Am Sonntag sind vorgezogene Parlamentswahlen - und die Sozialisten unter Ministerpräsident Zapatero haben im Zuge der Wirtschaftskrise enorm an Popularität verloren.
Mit Mariano werden sie es wieder nicht schaffen, er ist einfach ein "segundon" - ein ewiger Verlierer. So oder so ähnlich dachten noch vor einem Jahr viele in Spanien - aber heute sieht das ganz anders aus. Es ist keine Übertreibung, zu sagen, dass der Spitzenkandidat der konservativen Volkspartei, Mariano Rajoy, schon vor dem Wahlabend als neuer Regierungschef feststeht.

Im dritten Anlauf zieht er also in den Moncloa-Palast ein, nachdem er zuvor zweimal am Noch-Ministerpräsidenten Zapatero gescheitert ist. Der im Gegenzug ist für die Spanier seit Monaten Geschichte: Die sozialen Errungenschaften unter seiner Regierung sind angesichts der brutalen Krise mit fünf Millionen Arbeitslosen praktisch aus dem kollektiven Bewusstsein ausgelöscht. Und obendrein musste Zapatero in den vergangenen eineinhalb Jahren wegen der Krise so manches wieder streichen, was er zuvor eingeführt hatte, zum Beispiel den "cheque-bebe" - eine Art Begrüßungsgeld für neugeborene Spanier in Höhe von 400 Euro.

Jetzt also Mariano Rajoy. Ahnungslose Deutsche könnten glauben, er habe einen Sprachfehler, dabei ist er nur Galicier. Und Gallego, die galicische Ausprägung des Spanischen, ist dem Portugiesischen verwandt. Darum das zischende "s", an dem man bald erkennen können wird, dass der Ministerpräsident Spaniens spricht:

"Wir werden aufrichtig und verantwortungsvoll regieren, mit Mut und Entschlossenheit. Und wie auch immer das Wahlergebnis sein wird, werden wir Verbündete suchen."

Rajoy ist bisher auch deswegen stets gescheitert, weil er - jedenfalls im Vergleich zu Zapatero - das Charisma eines Bügelbretts hat. Er ist steif, im Parlament liest er fast immer vom Blatt ab - und das war auch vor gut einer Woche beim Fernsehduell mit dem sozialistischen Spitzenkandidaten nicht anders:

"Ich weiß, dass es nicht leicht werden wird - mehr noch: Ich weiß, dass es schwierig sein wird. Denn ein Land, dass tausende Firmen und Millionen Arbeitsplätze hat verschwinden sehen, das einen großen Teil seines Vermögens für die Schuldentilgung aufwendet, bedarf gewaltiger Anstrengungen, an denen wir alle uns beteiligen müssen - mit dem festen Vorsatz, nicht nachzulassen, bis wir das Ziel erreicht haben. Niemand wird uns den Erfolg schenken. Niemand. Aber nichts und niemand wird uns aufhalten, wenn wir unsere Ressourcen nutzen. Jetzt haben Sie das Wort, Sie sind diejenigen, die entscheiden."

Auch wenn der sozialistische Spitzenkandidat, Alfredo Perez Rubalcaba, im Rededuell mehr Persönlichkeit rüberbringen konnte: Angesichts der dramatischen Lage im Land hatte er einen schweren Stand - besonders, weil er als Ex-Innenminister im Kabinett Zapatero bis vor kurzem an genau jenem politischen Kurs entscheidend beteiligt war, der den Spaniern zwar Opfer abverlangt, aber bisher keine spürbare Besserung gebracht hat.

Der konservative Rajoy hat also alle Trümpfe in der Hand - und da stört auch nicht, dass er mit seinem dichten braunen Haar, dem immer etwas zerzausten Vollbart und den oft aufgerissenen Augen gelegentlich Assoziationen an Fozzie Bär aus der Muppet-Show weckt - auch wenn Rajoy Witze nur im äußersten Notfall macht.

Unfreiwillig komisch war er allerdings als Minister unter José Maria Aznar. 1996 kam er als Bildungsminister ins Kabinett, fünf Jahre später wurde er Innenminister. Als 2002 nach dem Untergang der Prestige alle Welt im Fernsehen knietiefen Ölschlamm an großen Teilen der galicischen Küste sehen konnte, da erklärte Rajoy öffentlich, von einer Ölpest könne nun wirklich nicht die Rede sein:

"Nein, wir glauben nicht, dass man von einer Ölpest sprechen kann. Sie müssen bedenken, dass wir hier über einen Großteil der Küste der Provinz La Coruña sprechen, 400 Kilometer Küste, mit einigen sehr lokal begrenzten Ölflecken. Tatsächlich wird das Öl, das noch im Schiffsrumpf ist, bei einer Temperatur von minus zwei bis plus zwei Grad in 3500 Metern Tiefe, in festem Zustand bleiben."

Ähnlich desorientiert ist Rajoy auch, wenn es um die Frage geht, wie er Spanien denn aus der Krise führen soll. Zumindest behaupten das seine Kritiker, übrigens auch in der eigenen Partei - angesichts der Chance, die Macht zurückzuerobern, im Moment allerdings nur durch fest zusammengebissene Zähne. Dabei hat der Oppositionsführer in den vergangenen Monaten eine Botschaft praktisch in jeder Debatte, jedem Interview wie ein Mantra wiederholt:

"Es ist wahr, dass man nicht alles durch einen politischen Wechsel lösen kann - aber wahr ist auch, dass man nichts lösen kann, ohne einen politischen Wechsel."

Man könne eine andere Politik machen, sagt Rajoy dann gerne noch. Und seit neuestem geht er sogar ins Detail - für seine Verhältnisse jedenfalls: Das wichtigste sei, Arbeit zu schaffen. Wie genau das gehen soll, verrät er zwar nicht - aber angesichts einer offensichtlich konzeptionslosen Wirtschaftspolitik der Regierung Zapatero und deren in weiten Teilen hilflos-improvisiert wirkendem Kampf gegen die Schuldenkrise, ist das für die meisten Spanier ein attraktives Versprechen. Auch für viele, die bisher die Sozialisten gewählt haben.

"Ich denke, sie müssten mehr daran arbeiten, Jobs zu schaffen, statt die Steuern zu erhöhen oder anderswo zu kürzen. Damit es besser wird, Arbeit gibt, die Krise vorbeigeht. Irgendeine Veränderung muss es geben, und ich glaube, es wird sie geben, die Leute haben das alles hier satt."

Die Unzufriedenheit mit der Regierung hat sich lange aufgestaut - auch, weil sich Ministerpräsident Zapatero den Realitäten nicht stellen wollte und immer wieder zu optimistische Botschaften verbreitete. Schon 2009, als die Krise mit dem Platzen der Immobilienblase auch in Spanien richtig einschlug - und auch noch, nachdem Ratingagenturen damit begannen, Spaniens Kreditwürdigkeit herabzustufen.

Binnen eines Jahres stieg die Arbeitslosigkeit von rund zehn auf mehr als 20 Prozent. Mit der Immobilienblase platzen nicht nur die Dividendenträume der Investoren - auch Baufirmen gingen reihenweise Pleite oder mussten zumindest entlassen. Die sozialistische Regierung hat bis heute kein überzeugendes Konzept entwickelt, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Konjunkturprogramme stützen die Bauwirtschaft zwar zumindest für ein paar Monate - aber sie waren auch mitverantwortlich für ein kräftiges Haushaltsdefizit. Auf Druck der EU musste die Regierung dann vor eineinhalb Jahren harte Sparpläne präsentieren, um den Haushalt wieder einigermaßen ins Lot zu bringen.

Zapatero: "Es ist nicht leicht für eine Regierung - für jede Regierung - sich mit solchen Worten an das Parlament und die Mitbürger zu richten. Und noch weniger für eine Regierung, die in guten Zeiten größte Kräfte daran gesetzt hat, die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern, besonders der Schwächsten. Die Situation ist schwierig, und es wäre zwecklos, das zu verheimlichen. Aber ich kann Ihnen allen versichern, dass die Regierung sicher ist, dass wir die wirtschaftliche Erholung, Stabilität und die Schaffung neuer Arbeitsplätze erreichen werden."

Die Regierung erhöhte die Mehrwertsteuer um zwei Prozentpunkte, kürzte die Gehälter im Öffentlichen Dienst, fror die Renten ein und schob das Renteneintrittsalter hinaus. Später kamen andere unpopuläre Maßnahmen dazu, zum Beispiel eine Arbeitsmarktreform, die Kündigungen erleichtert. Wobei die meisten Spanier bei allem Ärger, dass es ihnen an den Geldbeutel geht, von Anfang an eingesehen haben, dass Sparen angesagt ist.

"Die Staaten müssen die weltweite Krise berücksichtigen und Lösungen finden. Nicht einfach immer weiter Geld ausgeben, wie es ihnen beliebt. Wenn einer mehr ausgibt, als er einnimmt, wird er am Ende scheitern. Wenn ich mehr ausgebe, als ich verdiene, gehe ich in absehbarer Zeit unter."

Doch der Regierung fehlt eben ein wirksames Konzepte, um die Wirtschaft in Gang zu bringen oder gar einen Strukturwandel einzuleiten. Sie hat es nicht geschafft, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Besonders dramatisch ist die Jugendarbeitslosigkeit - fast jeder zweite unter 25 findet keinen Job. Und es trifft nicht nur diejenigen, die während des Booms die Schule abgebrochen haben, um auf dem Bau schnell gutes Geld zu verdienen - auch viele hoch qualifizierte Universitätsabgänger finden keinen Job.

Als sie vor einem halben Jahr, kurz vor den Regional- und Kommunalwahlen, zu zehn-, wenn nicht hunderttausenden demonstrierten, da wunderten sich viele Spanier, dass sich die Unzufriedenheit erst so spät auf der Straße zeigte. Und: Auch viele Ältere schlossen sich den friedlichen Protesten der Jungen an.

"Ich finde, das hier ist das Beste, was uns im 21. Jahrhundert passieren konnte - denn es ist ein wirklich wichtiger Ausdruck demokratischer Reife des spanischen Volkes."

Der 15. Mai war die Geburtsstunde einer ganzen Protestbewegung, die wochenlang und medienwirksam öffentliche Plätze besetzt hielt - zum Beispiel an der Puerta del Sol im Herzen von Madrid. Zwei Monate lang stand dort ein bunt zusammengewürfeltes Zeltlager, in dem junge und ältere Menschen debattierten.

In Arbeitsgruppen und Plenen erarbeiteten und verabschiedeten sie Ideen, Vorschläge, Forderungen - für eine andere Sozial- und Wirtschaftspolitik. Friedlich und fröhlich, auch gegen die eigene Verzweiflung ankämpfend. Die Politiker können uns nicht mundtot machen, so das Motto.

"Wir sind hier, um gegen den Machtmissbrauch gegenüber der Bevölkerung zu protestieren; wegen der fünf Millionen Arbeitslosen, wegen der Rentenreform. Ganz allgemein: weil die Verfassung und die Menschenrechte systematisch missachtet werden, von Politik, Unternehmensführern und den Verantwortlichen in der Finanzbranche."

Hunderttausende waren es zeitweise, die auf die Straße gingen und gegen die Politik der beiden großen Parteien demonstrierten, gegen die Vormachtstellung von Sozialisten und Volkspartei. Auch in diesen Tagen sind auf den Straßen wieder Sprechchöre zu hören.

Im Laufe der vergangenen Monate hat der Schwung aber etwas nachgelassen - nur noch ein paar Tausend gingen zuletzt auf die Straße, auch um gegen die Vormacht der beiden großen Parteien zu demonstrieren und zum Wahlboykott aufzurufen. Für die Sozialisten ist aber weniger die Protestbewegung das Problem - Spitzenkandidat Rubalcaba versucht bei seinen Wahlkampfauftritten vor allem, den vielen enttäuschten Stammwähler ins Gewissen zu reden, damit sie doch an die Urnen gehen:

"Man muss den Leuten erklären, dass es ihre Stimme ist, die Schulen und Krankenhäuser baut, dass die Stimmen Sozialhilfe und Arbeitsplätze bringen - und dass die Gleichgültigkeit nie irgendetwas hervorbringt, dass man nichts erreicht, wenn man zuhause bleibt, dass man wählen muss, Genossinnen und Genossen - das ist die Antwort."

Trotz des flammenden Apelles: Im Grunde kann Rubalcaba wenig anbieten. Schließlich hat er jahrelang die erfolglose Politik der Regierung Zapatero mitgestaltet. Der Spagat, einerseits die bisherige Politik zu verteidigen und andererseits zu einem neuen Aufbruch zu motivieren, will nicht gelingen. Die Menschen nehmen Rubalcaba nicht ab, dass er jetzt plötzlich die richtigen Rezepte gefunden hat - nur weil er der Spitzenkandidat der Sozialisten ist.

Nicht einmal sein völlig aussichtsloses Versprechen, er werde bei der EU-Kommission einen zweijährigen Aufschub für die Sparziele beantragen, können da helfen. Die Spanier wollen in der Mehrheit ganz einfach den Wechsel - das ist kurz vor der Wahl bei praktisch jedem Gespräch auf der Straße spürbar.

"Wenn eine Partei acht Jahre an der Macht war, dann kommt der Moment, an dem neue Ideen gefragt sind. Schon unter normalen Umständen wäre ein Wechsel fällig - aber in einer kritischen Situation wie dieser, wo die Partei über vier Jahre kaum etwas lösen konnte, ist der Wechsel noch viel wichtiger."

Jon ist 35 und alles andere als ein Stammwähler der Volkspartei - trotzdem ist er überzeugt, dass die Regierung wechseln wird. Zu lange hätten die Sozialisten hilflos zugesehen, wie ein Problem auf das andere folgte. Und das wichtigste sei, schnell die Wirtschaftsprobleme in den Griff zu kriegen - damit die Situation nicht noch schlimmer wird:

"Es gibt einen Dominoeffekt. Was ist das Schlimme am Problem der Baubranche? Es hat bei der Beschäftigung eingeschlagen, es hat die Wirtschaft geschwächt. Das hat noch mehr Arbeitslose produziert, und die haben kein Geld mehr, um zu bauen. Für mich ist das alles ein Teufelskreis. Die Wirtschaft und alles, was daran hängt. Kürzungen im Gesundheitswesen, im Bildungssystem - der Sozialstaat wird leiden, die Qualität in der Bildung und in der medizinischen Versorgung wird leiden, wir werden noch weniger Geld haben und die Lage immer heikler."

Der Informatiker, der für eine Bank arbeitet, hatte selbst Angst um seinen Arbeitsplatz: Zehn Prozent seiner Kollegen mussten gehen. Er selbst hatte Glück - er wurde nur versetzt.