Am Rande der Legalität

Von Gesine Dornblüth · 27.06.2012
Ausgerechnet in der kulturellen Hauptstadt Russlands, in Sankt Petersburg, ist Ende Februar ein Gesetz in Kraft getreten, dessen homophobe Zielsetzung in Europa beispiellos ist. Die Moskauer Staatsduma überlegt, das Gesetz landesweit anzuwenden. Eine deutliche Mehrheit der Russen sind laut Umfrage dafür.
Ein kleiner Park im Zentrum Moskaus. Etwa 30 junge Leute haben sich versammelt. Eine Frau reißt bunte Klebstreifen ab und verteilt sie an die anderen: rot, orange, gelb, grün, blau, violett. Die Gruppe begeht den "Tag des Schweigens", einen stummen Protest Schwuler, Lesben, Trans- und Bisexueller gegen Diskriminierung und Gewalt. Njuta hebt beide Hände.

"Hört mir zu: Alle wissen, was der Tag des Schweigens ist? Okay. Alle müssen ihren Mund zukleben. Geht das klar? Okay. Wir gehen dann zu den Patriarchenteichen. Dort stehen wir ungefähr eine Viertelstunde als schöne bunte Menschenmenge. Danach gehen wir in kleinen Gruppen auseinander, mindestens drei Leute gemeinsam."

Eine Sicherheitsmaßnahme. Mehrfach schon wurden Homosexuelle in Russland bei Kundgebungen oder danach überfallen. Meist gehen Rechtsextreme auf Schwule und Lesben los. Und oft schaut die Polizei einfach zu. Aus Selbstschutz hätten sie den Ort ihrer kleinen Kundgebung dies Mal bis zuletzt geheim gehalten, erzählt Pavel Samburow, einer der Organisatoren.

"Ich hoffe, dies Mal wissen die Nazis nicht, wo wir die Aktion machen."

Pavel Samburow engagiert sich in der Organisation "Raduga", "Regenbogen". Von Zeit zu Zeit veranstaltet er Lyrikabende für Schwule und Lesben. Er macht das ehrenamtlich, seinen Lebensunterhalt verdient er als Verkäufer.

"Mit unseren Straßenaktionen haben wir erst vor einem Jahr im April begonnen, nachdem ein schwuler Aktivist in der Stadt Syktyvkar verprügelt worden war. Seitdem gehen wir regelmäßig auf die Straße. Und als dann im Dezember nach der Parlamentswahl die Proteste in der gesamten Gesellschaft begannen, haben wir uns ihnen angeschlossen. Wir sind bei allen großen Kundgebungen mitgelaufen, allerdings in einer eigenen Kolonne, mit Regenbogenfahnen und unseren Plakaten. Darauf stand zum Beispiel:'Schwule und Lesben für faire Wahlen'. Denn unsere Stimmen wurden ja auch gestohlen."

Der Vorteil: In der großen Menschenmenge fühlten sie sich geschützt, erzählt Samburow. Etwas abseits im Park steht eine junge Frau. Tanja studiert Sprachen. Sie schaut ein wenig abwartend, überlegt, ob sie ihren Mund zukleben und mitmachen soll.

"Ich habe Angst, dass ich gefilmt werde und meine Bekannten oder die Bekannten meiner Eltern mich im Fernsehen sehen. Meine Eltern wissen zwar über mich Bescheid, aber sie finden es nicht gut, dass ich mich engagiere. Sie glauben, dass sich die Gesellschaft sowieso nicht verändert und dass ich mir mit meinem Engagement nur schade. Und sie haben Angst, dass wir überfallen werden."

Tanja kommt aus Perm im Ural. Sie ist bereits als Schülerin bei ihren Eltern ausgezogen, nachdem sie ihren Eltern erzählt hatte, dass sie lesbisch ist. Sie hatte damals auf ihr Verständnis gehofft und war auf Ablehnung gestoßen. Das Verhältnis zu den Eltern besserte sich erst, als Tanja nach Moskau ging.

"Unsere Eltern haben keine gleichgeschlechtlichen Vorzeigefamilien vor Augen, die ein positives Beispiel geben könnten. Sie denken, wenn ihr Kind schwul oder lesbisch ist, ist es bis ins hohe Alter zu Einsamkeit verdammt und von der Gesellschaft ausgestoßen. In Europa wissen die Leute, dass es kein Weltuntergang ist, wenn sich jemand als schwul oder lesbisch entpuppt. In Russland wird das auch irgendwann so sein, aber das dauert noch."

Schließlich nimmt Tanja doch einen Klebstreifen, um sich den Mund zuzukleben. Ihre Sorge, gefilmt zu werden, ist verflogen. Wie so oft, ignorieren die Medien die Aktion der Homosexuellen. Njuta, die Organisatorin, holt einen Stapel mit Flugblättern aus der Tasche. Darauf der Aufruf, bei Gewalt und Unrecht gegen Homosexuelle nicht zu schweigen. Schließlich schneidet sie für sich selbst einen blauen Klebstreifen zurecht.

"Ich habe die Aktion bereits letztes Jahr organisiert. Dieses Mal sind es mehr Teilnehmer. Ich bin überrascht. Das liegt an den neuen Gesetzen. Wir haben einfach die Nase voll."

Noch ein letzter Blick in die Runde, dann geht es los.

"Alles klar? Dann mir nach."

Die neuen Gesetze: Sie sorgen bei den Homosexuellen für Aufruhr. Vier russische Städte haben jüngst Gesetze eingeführt, die öffentliches Reden über Homosexualität unter Strafe stellen. Auch St. Petersburg ist darunter, die Touristenstadt an der Newa. Die Staatsduma erwägt, ein landesweites Gesetz gegen sogenannte "Schwulenpropaganda" zu verabschieden. Kritiker warnen vor den Folgen: Wenn über das Thema nicht mehr aufgeklärt wird, stürzt das tausende junge Homosexuelle in die Krise, einfach, weil es für sie noch schwerer wird, eine sexuelle Identität zu finden. Psychische Krankheiten nehmen zu, Drogenmissbrauch, Selbstmord, sagen Experten. Valentin Gefter vom Institut für Menschenrechte kritisiert das Gesetz noch aus einem ganz anderen Grund.

"Mir geht es gar nicht so sehr darum, diese Minderheit zu verteidigen. Es gibt genug Homosexuelle, die das tun. Ich will, dass Recht und Gesetz herrschen. Es ist empörend, Propaganda für etwas zu verbieten, das gar nicht strafbar ist. Unsere Verfassung schützt die Rechte sexueller Minderheiten. Das ist genau der Rechtsnihilismus, von dem unsere Staatsführung die ganze Zeit behauptet, dass sie ihn bekämpfen wolle."

Die neuen Gesetze verstoßen außerdem gegen diverse internationale Vereinbarungen, die Russland unterzeichnet hat. Zum Beispiel gegen die Europäische Konvention für Menschenrechte. Valentin Gefter meint, Russland müsse sich entscheiden.

"Einerseits heißt es, wir gehören zur europäischen Zivilisation und teilen europäische Werte. Homosexualität zu tolerieren, gehört zu diesen Grundwerten. Andererseits bewegen wir uns zurück zu einer patriarchalischen Gesellschaft, die diese Minderheiten nicht toleriert. Das geht nicht gut. Wir können nicht zwischen zwei Stühlen sitzen. Wir müssen lernen, die einen und die anderen Ansichten zu tolerieren. Es wird ja niemand gezwungen, schwul zu werden. Aber es darf auch niemand zum Gegenteil gezwungen werden."

Die Aktivisten mit Njuta an der Spitze haben die Patriarchenteiche erreicht. Schweigend verteilen sie ihre Flugblätter. Die Passanten glotzen. Ein paar Touristen sind dabei. Zwei junge Russen nehmen die Zettel, bleiben stehen, lesen. Ilja und Schenja sind Studenten.

"Ich bin für Homophobie. Russland ist ein homophobes Land. Wir sind orthodox, wir sind Christen, und das ist Sünde, wenn Männer etwas miteinander haben. Früher gab es einen Homosexuellenparagraphen. Ich finde, man sollte das wieder verbieten, denn das führt nur zu Perversion."

"Homophobie ist die einzige Lösung."

Die Gruppe kommt an einem Spielplatz vorbei. Die Rentnerin Galina Iwanowna passt dort auf ihren Enkel auf. Der Junge stochert mit einem Stock in einer Pfütze.

"Unsere Kinder sollen nicht zu solchen Praktiken verleitet werden. Auf keinen Fall. Nicht meine Kinder oder Enkel. Wir wollen sie doch zu bescheidenen und würdevollen Menschen erziehen. Ich bin gegen das alles. Gegen Lesben und Schwule. Intime Beziehungen sind eine Sache von Mann und Frau, von zwei Personen. Ich finde, das gehört auch nicht in die Öffentlichkeit, sondern das soll zuhause stattfinden, still und bescheiden. So wie früher, zu Sowjetzeiten. Da war das besser."

In der Sowjetunion war Homosexualität strafbar. Das entsprechende Gesetz wurde erst Anfang der 90er -Jahre abgeschafft.

Abends in einem Klub in einem Moskauer Hinterhof. Von außen ist er nicht als Homosexuellentreff zu erkennen. An den Wänden hängen Fotos sich küssender Frauen. Auf den Tischen stehen frische Rosen. Pavel Samburow, der Aktivist von "Raduga", liest Gedichte vor.

An der Bar sitzt Wladimir. Seine 70 Jahre sind ihm nicht anzusehen. Er kommt regelmäßig in den Klub.

"Viele meiner Freunde wurden in der Sowjetunion verhaftet. Ich kenne Dutzende, die wegen des Homosexuellenparagraphen gesessen haben. Ich war wohl vorsichtiger als die anderen. Ich habe damals nur mir selbst eingestanden, dass ich schwul bin. Und auch das erst sehr spät. Zunächst habe ich versucht, mich zu ändern, habe geheiratet - das übliche eben. Aber dann habe ich irgendwann akzeptiert, dass ich so bin und nicht anders sein will."

Wladimir versucht bis heute, nicht aufzufallen. Seine Frau toleriert seine Beziehungen mit Männern.

"In all den Jahren haben die Aktivisten der Homosexuellenbewegung gewechselt, aber die Probleme sind immer die gleichen geblieben. Das ist wie eine Spirale. Unsere Gesellschaft ist und bleibt sehr homophob. Die neuen Gesetze machen mir Angst. Und ich weiß nicht, wie man dagegen kämpfen kann."

Wie viele Russen in seinem Alter, arbeitet auch Wladimir noch. Er ist technischer Dolmetscher. In seiner Firma weiß niemand, dass er schwul ist.
"In meinem Beruf würde mir das schaden. Wenn du Ingenieur bist, Arzt oder Priester, dann kannst du nicht sagen, dass du homosexuell bist. In anderen Berufen dagegen ist es geradezu in, schwul zu sein. Aber das ist wohl auf der ganzen Welt so. Wir haben jede Menge schwule Schauspieler und Popstars."

Auch in Russland ist das Showgeschäft relativ offen gegenüber Homosexuellen - ebenso wie die Kunst. Doch das droht sich zu ändern. Denn nach den neuen Gesetzen reicht schon die Andeutung eines Kontaktes zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern im Film oder auf der Bühne aus, um der Homosexuellenpropaganda verdächtigt zu werden.

Opernpremiere im renommierten Stanislawski-Theater in Moskau. Schon Stunden vor Beginn der Vorstellung drängen sich Fernsehteams in den prächtigen Räumen. Es gibt Shakespeares "Sommernachtstraum". Die Musik stammt von Benjamin Britten. Es ist eine britisch-russische Koproduktion. Der Regisseur Christopher Alden hat den Jahrhunderte alten Text in ein britisches Knabeninternat verlegt. Die Oper lief bereits mit großem Erfolg in London. In Moskau dagegen sorgte sie schon vorab für einen Skandal. In den Medien war ein Brief aufgetaucht, adressiert an die Orthodoxe Kirche. Angeblich stammte er von Eltern des Kinderchores der Oper. Sie beschuldigten den Regisseur der Oper, auf der Bühne Pädophilie und Homosexualität zu propagieren - vor den Augen ihrer Kinder. Die Premiere müsse verboten werden. Die Angelegenheit beschäftigte sogar den Kulturminister. Der Minister verwies jedoch an die Moskauer Kulturbehörde. Die schickte schließlich eine Expertenkommission zur Premiere.

Immer mehr Fernsehteams kommen. Vladimir Urin, der Direktor des Stanislawski-Theaters, gibt noch vor Beginn der Vorstellung eine Pressekonferenz. Der angebliche Brief der Eltern sei gefälscht, sagt er.

"Es gibt keine Verfasserin mit dem Namen. In unserem Kinderchor singt ein Mädchen mit dem Nachnamen, mit dem unterschrieben wurde. Die Namen stehen auf unserer Internetseite. Die Autoren des Briefes haben den Familiennamen herausgepickt. Aber der Vor- und Vatersname der Mutter, die den Brief geschrieben haben soll, stimmen nicht."

Die Vorstellung beginnt. Auf der Bühne ein düsteres Schulgebäude. In den Fenstern Knaben in Schuluniform. Es ist eine moderne Inszenierung mit wenigen erotischen Szenen und angedeuteter Brutalität. Ab und zu streichelt ein Erwachsener einem Jungen über den Kopf. In der Pause tritt die Expertenkommission vor die Kameras.

Dmitrij Bertman ist selbst Regisseur. Er blickt die Journalisten scharf an, dann gratuliert er dem Theater zur Premiere.

"Kunst hat nicht die Aufgabe zu moralisieren. Das Stück predigt keinen bestimmten Lebensstil. Es propagiert keine Pädophilie. Absolut nicht. Eher im Gegenteil."

Die Journalisten gucken düpiert. Bertmann legt nach, er spricht von überkommenen Moralvorstellungen, Verklemmtheit insgesamt, befördert von der russisch-orthodoxen Kirche und einer übereifrigen Presse. Selbst in der Sowjetunion habe mehr künstlerische Freiheit geherrscht.

"Was ist bloß in diesen Jahren der Freiheit passiert, dass so ein Stück so ein Interesse hervorruft? Das ist wirklich seltsam."

Wie geht es weiter mit der Homosexuellenbewegung in Russland? Njuta, die Aktivistin, die den "Tag des Schweigens" in Moskau organisiert, ist unentschieden.

"Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder wir bekommen den Homosexuellenparagrafen aus Sowjetzeiten zurück, oder wir haben in 15 Jahren eine normale Gesellschaft. Ich hoffe auf das Bessere, denke aber, das Schlechtere wird eintreten."

Tanja hingegen, die Studentin aus Perm, möchte an das Gute glauben.

"Als erstes müssen die homophoben Gesetze in den Regionen wieder abgeschafft werden. Zweitens brauchen wir vernünftige Sexualaufklärung in den Schulen. Die Kinder müssen erfahren, dass Homosexualität normal ist. Die homophoben Dogmatiker aus Sowjetzeiten ändern wir nicht mehr. Wir müssen in den Schulen anfangen."

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