Am Grundgesetz vorbei

29.11.2012
Die Bundesrepublik zwischen 1949 und 1989 war ein Überwachungsstaat: Millionen von Postsendungen wurden geöffnet, Millionen von Telefonaten abgehört. Das zeigt das Buch des Freiburger Historikers Josef Foschepoth, der als erster bislang unter Verschluss gehaltene Akten der Bundesregierung ausgewertet hat.
Es begann mit einem Zufallsfund im Bundesarchiv Koblenz, eine Akte mit der Aufschrift "Postzensur" aus dem Jahre 1951. Der Historiker Josef Foschepoth ging dem nach und entdeckte, dass in der Bundesrepublik Deutschland von Anfang an Post abgefangen wurde und auch Telefone abgehört wurden. Die Forschung war schwierig, weil die Akten geheim waren. Nach einer konzertierten Aktion von Bundesarchiv, Historikerverband und einiger Medien gelang es, die Bundesregierung dazu zu bewegen, die sogenannte Verschlusssachen-Anweisung neu zu regeln. Bis 2025 sollen die Akten schrittweise freigegeben werden.

So lange hätte Foschepoth nicht warten können. Ihm gelang es, durch eine Sondergenehmigung freien Zugang zu den bislang geheimen Akten der Bundesregierung zu erhalten. Und das war ein Glücksfall. Denn so konnte er die ganze Brisanz der Überwachungsmethoden von Alliierten und Deutschen aufzeigen, die sich über Jahrzehnte hinzog, bis zum Fall der Mauer und auch noch danach. Es begann in der Adenauer-Ära, als noch Besatzungsrecht galt und die drei Westalliierten ein Interesse daran hatten, die junge Bundesrepublik zu einem verlässlichen Frontstaat des westlichen Bündnisses zu machen, mitten im Kalten Krieg.

Auf dem Buchdeckel ist ein Foto aus dieser Zeit zu sehen, eine Telefonzelle mit der Aufschrift " Fernsprecher", darin eine dunkle Gestalt. Die Szene ist diffus beleuchtet durch eine Straßenlaterne. Wer nun aber eine spannende Agentengeschichte erwartet, wird bitter enttäuscht. Foschepoth, der Historiker, liefert vielmehr eine akribische erste Auswertung der Aktenbestände. Dabei bringt er allerdings Erstaunliches ans Licht. Rechtliche Grundlage für die massive Post- und Telefonüberwachung war das Besatzungsrecht, zumindest bis zu den Pariser Verhandlungen 1954: Dann sollte die Bundesregierung die beschränkte Souveränität erlangen und die Überwachung für die Alliierten übernehmen. Aber das ging nur am Grundgesetz vorbei.

Die Alliierten behielten neben dem Vorbehaltsrecht der Truppenstationierung, was ja allgemein bekannt war, auch das Vorbehaltsrecht der Überwachung und des Geheimdienstes, was so erst aus den bislang geheimen Dokumenten hervorgeht. Zu dem entsprechenden Gesetz, das es auch den deutschen Geheimdiensten erlaubte, Post und Telefone zu kontrollieren, das G-10-Gesetz, kam es erst 1968. Eine geheime Zusatzvereinbarung blieb, die Überwachungswünsche der alliierten Nachrichtendienste wurden weiter erfüllt.

Josef Foschepoth hat vor allem eine Geschichte des Rechts geschrieben, der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte in der Bundesrepublik. Die (Überwachungs-) Geschichten, die darin stecken, erwähnt er nur, er erzählt sie nicht. Stattdessen wirft er viele neue Fragen auf. Wurde die beschränkte Souveränität durch die Umgehung des Grundgesetzes erkauft? Welche Rolle spielte die freiheitlichste Verfassung, die die Deutschen je hatten, im politischen Alltag? Wie war es möglich, das höchste Gut der Verfassung, die Grundfreiheiten und Grundrechte der Menschen dem Staatsschutz als höherwertigem Rechtsgut unterzuordnen? Gab es Widerstände, welche Rolle spielte das Bundesverfassungsgericht?

Foschepoth beantwortet die Fragen, aber leider nur teilweise. Denn immer noch liegt vieles im Dunkeln, weil die Nachrichtendienste, der Verfassungsschutz, der BND und der MAD ihre Archive geschlossen halten. Das Buch über die Überwachungspraktiken der alten Bundesrepublik begreift Foschepoth selbst als einen Anfang, als eine Art Impulsgeber für umfangreiche neue Forschungen. Die Geschichte der Bundesrepublik, so viel steht fest, ist noch nicht zu Ende geschrieben.

Besprochen von Annette Wilmes

Josef Foschepoth: Überwachtes Deutschland. Post- und Telefon-Überwachung in der alten Bundesrepublik
Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2012
378 Seiten, 34,99 Euro
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