Am Anfang war der Kredit

Rezensiert von Martin Hartwig · 03.06.2012
Der amerikanischer Anthropologe und Vordenker der Occupy-Bewegung David Graeber sieht die Geschichte der Menschheit als eine Geschichte von Schulden. So beschreibt er, wie lange vor Erfindung des "realen" Geldes eine florierende virtuelle Kreditwirtschaft entstand. Es ist ein Blick auf die Wurzeln der aktuellen Schuldenkrise.
Richard Nixon: "Good evening. I have addressed the Nation a number of times over the past two years on the problems of ending a war ..."

Am 15. August 1971 wandte sich der amerikanische Präsident Richard Nixon mit einer Fernsehansprache an die Öffentlichkeit und erschütterte das Fundament der Weltwirtschaft.

Richard Nixon: "Ich habe Finanzminister Connally angewiesen, die Konvertibilität des Dollar zeitweise auszusetzen und nur unter Bedingungen zu gestatten, die der Geldwertstabilität dienen und den Interessen der USA entsprechen."

Er löste per Dekret die Bindung des amerikanischen Dollar an das Gold und leitete eine neue Epoche der Währungsgeschichte ein, eine Phase in der quasi virtuelles, vor allem durch Vertrauen gedecktes, Geld das Wirtschaftsleben bestimmt. Das sei im Prinzip nichts Neues, meint der Anthropologe David Graeber, auch wenn es Folgen hatte, die sich uns als Novitäten darstellen.

David Graeber: "Kurz danach kann man eine ganze Reihe von Veränderungen beobachten. Wir bekamen die Kreditkarten, die kaum jemand vor 1971 benutzt hat. Innerhalb von ein bis zwei Generationen wurde das bargeldlose Bezahlen zur Norm. Wir bekamen die Finanzialisierung des Kapitals. Wir hatten die Spekulation mit den Altersrenten und den Hypothekenboom, all die Dinge, die 2008 platzen. Die Frage ist warum das alles so schief ging."

So Graeber bei einem öffentlichen Vortag im Google -Hauptquartier im Februar dieses Jahres. Um zu klären, warum alles so schief ging, schlägt der bekennende Anarchist in seinem Buch den ganz großen Bogen und erzählt die Geschichte der Schulden der Menschheit von Anfang an. Es ist die erste ihrer Art. Was erstaunlich ist, wenn man bedenkt, wie lange das Problem die Menschheit bereits beschäftigt.

"Seit vielen tausend Jahren wird der Kampf zwischen Reichen und Armen überwiegend in Form von Konflikten zwischen Gläubigern und Schuldnern ausgetragen - mit Argumenten über Recht und Unrecht von Zinszahlungen, von Schuldknechtschaft, Schuldenerlass, Enteignung, Rückgabe, der Konfiszierung von Schafen oder Weinbergen oder dem Verkauf von Kindern in die Sklaverei."

Diesen Kampf zeichnet er detailliert und materialreich nach, wobei sein Schwerpunkt deutlich auf der Frühgeschichte der Schulden liegt. Die jüngste Etappe, also die Jahre nach 1971, nimmt gerade mal ein Zehntel seiner Untersuchung ein. Viel Platz verwendet der Anthropologe hingegen auf die Widerlegung dessen, was er den Gründungsmythos der Volkswirtschaftslehre nennt.

"Es war einmal eine Zeit, da gab es Tauschhandel. Das war schwierig. Deshalb erfanden die Menschen das Geld. Und nach dem Geld kamen Banken und Kredite. Die Entwicklung ist ganz einfach und geradlinig. Sie bewegt sich auf immer mehr Raffinesse und Abstraktion zu und das führte die Menschheit logisch und unausweichlich von der Steinzeit, als man Mammutstoßzähne tauschte, zu Aktienmärkten, Hedgefonds und Derivaten."

Genüsslich seziert David Graeber, was er falsch an dieser Beschreibung findet.

"Die "Wissenschaft namens ‚Ökonomie’ ist eine Disziplin, die zuerst und vor allem davon handelt, wie Einzelne nach dem vorteilhaftesten Arrangement für den Tausch von Schuhen gegen Kartoffeln, von Kleidung gegen Speeren suchen; so muss man annehmen, dass der Austausch solcher Güter nichts mit Krieg, Leidenschaft, Abenteuer, Geheimnis, Sex und Tod zu tun hat."

Als Anthroploge weiß er, dass die Geschichte der Menschheit, dass alle Wirtschaftsbeziehungen von Macht und Leidenschaften durchdrungen waren und sind - auch wenn nüchterne Zahlen dies verschleiern. Schulden sind, das belegt die Studie überreich, immer ein Ausdruck von Herrschaft und Gewalt. Dabei ist das Verhältnis zu Schulden stets ambivalent.

"Die Menschheit vertrat fast immer zwei Auffassungen:
1. Es ist ein moralisches Gebot geliehenes Geld zurückzuzahlen, und
2. das regelmäßige Verleihen von Geld sei verwerflich."

Die Entwicklung dieser moralischen Vorstellungen bildet einen zweiten Schwerpunkt seiner Studie. Material dazu ist reichlich vorhanden, schließlich sind viele der ältesten Dokumente der Menschheit religiöse Texte oder Listen von Außenständen. Sie zeigen, dass Menschen von Anfang an schuldig waren und Schulden machten. Dies wurde allerdings nur höchst selten in Geldbeträgen gemessen, selbst dort wo man bereits Geld kannte.

David Graeber: "Zum Beispiel im mittelalterlichen England. Jemand hat mal errechnet, das bis zum Jahre 1700 97 Prozent aller Transaktionen Kredite waren. Zum einen weil nicht viel Geld zirkulierte. Zum anderen, weil die Leute es nicht gerne im Zusammenhang mit Nachbarn verwendeten."

Er beschreibt "humane Ökonomien", die er von "kommerziellen" unterscheidet. In "humanen Ökonomien", bildeten Schuld und Schulden ganz elementar den Kitt der Gemeinschaft. Also etwa: Du gibst mir jetzt ein Schwein, damit schulde ich Dir etwas und wenn Du später irgendetwas brauchst, darfst Du was von mir fordern - ein Kredit, in Graebers Diktion: virtuelles Geld.

David Graeber: "Das virtuelle Geld war zuerst da. Was sehr lustig ist, denn die meisten beschreiben das virtuelle Geld als ein neues Phänomen, das wir hier in der "schönen neuen Welt" erfunden haben. Dabei ist es eigentlich die Urform des Geldes. Münzen kommen später."

Das Geld, wie wir es kennen, ist ohnehin - so eine der schärferen Thesen des Autors - kein Produkt der Rationalisierung der Wirtschaft, sondern eines der Gewalt. Regierungen erfanden es, um Soldaten auf ihren Feldzügen zu bezahlen. Es wurde für Menschen geschaffen, die kein Interesse an langfristigen und guten Beziehungen zu ihrem aktuellen Umfeld hatten.

David Graeber: "Physisches Geld ist eng verbunden mit Krieg und Gewalt, mit Soldaten und mit Kriminellen, also Menschen mit denen man eigentlich nicht seine Zeit verbringen möchte. Nette Leute handeln auf der Basis von Kredit und Vertrauen."

Die Vorstellung von Geld im modernen Sinn, also die Idee eines exakten und moralisch neutralen Wertmaßstabes für fast alles, kam im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts auf. Die neue Welt wurde entdeckt. Länder und Handelsgesellschaften expandierten und tonnenweise strömten Gold und Silber auf den alten Kontinent.

Zugleich machten sich die Pioniere der neuen Nationalökonomie daran, die Wirtschaftsverhältnisse neu zu begründen. Sie stellten das Eigeninteresse in den Mittelpunkt des Handelns und banden den Wert des Geldes an das Gold. Damit verabschiedete man sich für lange Zeit von der Idee das Geld seinem Wesen nach eine gesellschaftliche Übereinkunft ist. Ausdrücklich kritisiert Graeber …

"… die Fähigkeit des Geldes, Moral in eine Sache unpersönlicher Arithmetik zu verwandeln - und dabei Dinge zu rechtfertigen, die ansonsten empörend oder obszön erscheinen würden."

Diese Empörung spürt der Autor sehr wohl. Sie treibt ihn durch die verschuldeten Jahrtausende. Bei manchen Passagen beschleicht einen dann auch der Verdacht, dass er die Quellen etwas selektiv auswählt und widerspenstige Überlieferungen zu schnell zu Randphänomenen erklärt.

Interessant und unbedingt lesenswert ist seine Geschichte der Schulden allemal. Sie zeigt uns, dass historisch gesehen eine neuen neue Phase der Währungsgeschichte begonnen hat, denn spätestens seit Abkopplung des Dollars vom Gold ist klar, dass Geld und Schulden keine objektiven, quasi naturgesetzlichen Tatsachen sind, sondern ein Ergebnis spezifischer gesellschaftlicher Vereinbarungen.

Die sind, so David Graeber, allerdings nach wie vor von den mechanistischen und scheinobjektiven Regeln des "Zeitalters der "kapitalistischen Imperien" geprägt. Um das Regelwerk anzupassen, empfiehlt er den Blick in die Geschichte.

David Graeber: "Wenn wir das in historischer Perspektive betrachten, lernen wir, wenn Leute annehmen, dass Geld keine Sache ist, sondern ein Versprechen, ein soziales Arrangement, so wie im alten Mesopotamien oder im Mittelalter, dann muss man einen Mechanismus haben, dass Dinge nicht aus dem Ruder laufen.

Normalerweise heißt das einen Mechanismus einzurichten, der die Schuldner schützt. Man kann periodische Schuldenschnitte machen. Man kann Zinsen verbieten und stattdessen Gewinne teilen. Man kann Vieles tun."

David Graeber: Schulden. Die ersten 5000 Jahre
Aus dem Englischen von Ursel Schäfer, Hans Freundl und Stephan Gebauer,
Verlag Klett-Cotta Stuttgart, 600 Seiten, 26,95 Euro