"Am Anfang steht ein Begehren, anders leben zu wollen"

Özkan Ezli im Gespräch mit Susanne Führer · 29.06.2012
Integration habe eine fast 50-jährige Geschichte, man könne sie nicht für gescheitert erklären, sagt der Kulturwissenschaftler Özkan Ezli. Am Begriff "Migrationshintergrund" störe ihn, dass er eine Differenz in sich berge, den Unterschied betone.
Susanne Führer: "Fiktion Okzident" lautet der Titel einer Tagung, die heute in Berlin beginnt. Man will da der Frage nachgehen, wie unsere Gesellschaft aussehen kann, wenn der Einzelne nicht zuerst durch ethnische, religiöse oder kulturelle Zugehörigkeit definiert wird, sondern durch seinen Beitrag als Person und Staatsbürger, so heißt es in der Ankündigung. Ich habe das für mich mal übersetzt: Wenn jemand also nicht zuerst Migrant oder Muslim ist, sondern Schriftsteller oder Klempner. Einer der Referenten auf dieser Tagung ist der Kulturwissenschaftler Özkan Ezli von der Universität Konstanz. Er arbeitet dort im Exzellenzcluster "Kulturelle Grundlagen von Integration". Guten Tag, Herr Ezli!

Özkan Ezli: Guten Tag, Frau Führer!

Führer: Mit der Sprache beginnen ja schon die Schwierigkeiten. Früher hieß es Gastarbeiter oder auch schlicht Türken, dann Migrant - inzwischen sprechen wir etwas vornehmer vom Migrationshintergrund - den hat man übrigens laut Statistischem Bundesamt bis in die dritte Generation, habe ich gelernt, also selbst dann, wenn die Eltern und man selbst schon in Deutschland geboren wurde. Welche Begriffe wählen Sie, Herr Ezli?

Ezli: Ich finde der Begriff ist nicht mal so wichtig. Also, so wie er mittlerweile in Debatten, auf Tagungen oder auf Veranstaltungen benutzt wird, sozusagen mit Migrationshintergrund, das ist dann irgendwie eine unbestimmte Menge, wo man versucht, eine Definition zu finden, wo dann wirklich das ganz tief reicht bis in die dritte Generation, wie Sie es auch gerade genannt haben. Da werden irgendwie solche Reste versucht, aufzuspüren, die sozusagen Differenz in sich tragen. Dass sozusagen hier eine andere Kultur auch mit arbeitet ...

Führer: Das heißt, die Unterschiede werden betont.

Ezli: Genau. Also, mit Migrationshintergrund heißt, dass da irgendwas drin ist, das heißt, es sind Begriffe wie Gastarbeiter, das ist ja auch ein paradoxer Begriff, ein Gast sollte eigentlich nicht arbeiten, aber das ist ein Gastarbeiter, wo dann die Kurzzeitigkeit drin war. Da sind solche politischen Ordnungen oder Denkschemata mit drin, und bei Migrationshintergrund - also, was mich an dem Begriff stört, ist eigentlich, dass, ich denke, eine Differenz darin noch arbeitet, weil es diesen Begriff gibt, muss ich auch immer wieder über einen Hintergrund sprechen, über den sozusagen der Deutsch-Deutsche nicht sprechen muss.

Führer: Sie haben sich jetzt ein bisschen drum herum gemogelt, welche Begriffe Sie benutzen. Sie arbeiten ja zum Beispiel im Exzellenzcluster Kulturelle Grundlagen von Integration. Das ist ja ein Begriff, der sich in den letzten Jahren ja sehr in den Vordergrund geschoben hat, der ja aber auch wieder eine Wertung beinhaltet.

Ezli: Den Begriff der Integration, den pflegen wir nicht normativ. Also ganz einfache, basale Strukturen des sozialen Zusammenlebens können schon integrierend sein. Also zum Beispiel Parallelgesellschaften sind eigentlich, wenn man sie aus einer anderen Perspektive betrachtet, hoch integrativ. Weil, wenn man sich anschaut, wie diese Parallelgesellschaften, mögen sie in Kreuzberg sein, in Duisburg-Marxloh, die haben ja eine Verdichtung des Sozialen geschaffen. Da ist viel Infrastruktur entstanden. Viele Geschäfte, aber, natürlich mit einem randsozialen Bezug vor allem in die Türkei über ethnische Vereine.

Aber die haben sozusagen in sich eine Integration geschaffen. Was eher fehlt, und was jetzt eingeholt wird durch einen normativen Begriff der Integration, ist eine engere Bindung an den Staat, an den deutschen Staat. Wurde jetzt durch den Integrationsgipfel und Islamkonferenzen gewährleistet. Also kulturelle Grundlage für Integration ist hier eher, dass man versucht, den Begriff der Kultur nicht essenziell und substanziell zu fassen, sozusagen: es gibt Deutsch und es gibt Türkisch, sondern eher prozessorientiert. Und daher ist der Begriff Integration eher, wir halten ihn eher, in Anführungszeichen, flach, um zu schauen, welche unterschiedlichen sozialen Sammlungen finden statt. Also, es ist immer eine Frage der Perspektive, von wo aus man Integration und Desintegration spricht.

Führer: Ja. Der Kulturwissenschaftler Özkan Ezli im Deutschlandradio Kultur. Wo Sie die Perspektive ansprechen, das finde ich ja interessant. Sie als Kulturwissenschaftler beugen sich ja jetzt nicht so sehr über die Quoten der Schulabschlüsse oder der Berufsausbildung, anders als das meinetwegen Soziologen täten, sonder Sie untersuchen eben die Kultur, das heißt, die Literatur, Film, Theater - wie ändert sich denn dadurch die Perspektive auf diese Geschichte?

Ezli: Also ich teile diese deutsche Literatur- und Kulturgeschichte in drei Phasen ein. Und so in der ersten Phase ist es vor allem in den 70er-Jahren, da hat sich für mich so ein Leitsatz heraus kristallisiert anhand einiger Texte. Also warum man eben nach Deutschland gekommen ist, warum man migriert ist. Und da gab es einen sehr schönen Satz, wir wollten alle Amerikaner werden. Das heißt, am Anfang steht eigentlich irgendwie so ein Begehren, anders leben zu wollen. Und das ist natürlich so ein Blick auf das Soziale, das ein Wunsch ist, den man realisieren will, aber man ist in Berlin gelandet.

Dann kommt, so in den 80er-Jahren, eine ganz andere Form, oder Ende der 70er fängt es an, dass diese literarischen Texte, aber auch in der Forschung, da kommen auch die ersten Debatten zum Türkenproblem auf, 1979, also da wird dann wirklich klar gesagt, Türken sind auch Menschen wie wir, aber haben eine andere Kultur. Also da kommt zum ersten Mal so der Begriff als etwas Trennendes, als etwas Separierendes von der Mehrheitsgesellschaft. Und erst da beginnt es eigentlich, dass in den Texten die Unterscheidung Deutsch-Türkisch eine Rolle spielt. Und da wird so eine Heimatlosigkeit generiert bis in die 80er hinein.

Und das wandelt sich dann wiederum interessanterweise und dann haben wir so eine Trennung der Kulturen, die es vorher nicht gibt, weil der Bezug zu Amerika bindet sehr viele, schafft ein anderes soziales Gefüge. Und in den 90er-Jahren sind auch eben noch die "Kanaken" ein Begriff, also mit Zaimoglus "Kanak Sprak", da geht es eher darum, wie lebt es sich in deiner Haut. Da hat man mehr so einen Bezug auf das Körperliche und die Kanaken haben sich sehr körperlich definiert. Die haben auch dieses deutsch-türkische eigentlich dann abgeworfen, mehr oder weniger. Das wäre zum Beispiel ein Beispiel von prozessorientiertem Kulturbegriff.

Wenn die ersten Gastarbeiter gedacht haben, wir werden zurückkehren und man hatte diese Mantra-artige Formel - ich kenne sie auch noch aus meiner Biografie - nächstes Jahr werden wir zurückkehren. Und in Deutschland hieß es dann aber von vielen Deutschen, Deutschland ist kein Einwanderungsland, das war das Diktum auf der anderen Seite. Es gab 1983 das Rückkehrförderungsgesetz. Das hat kein Deutsch-Türke vergessen. Also auch meine Mutter kann sich noch dran erinnern, dass Kohl damals das Rückkehrförderungsgesetz eingeführt hat. Das heißt, ihr seid seit 15 Jahren da, gehört aber nicht hierher.

Und wenn dann aber auch die Türkei dann keine Rückkehroption mehr darstellt, und das war für die zweite Generation und für viele, dann entsteht so eine Ortlosigkeit, eine Referenzlosigkeit, und schon verschiebt sich alles, was man sozusagen mit der eigenen Sprache, man mischt die türkische Sprache mit der deutschen, dann kommt eine Sprachmischung in den 90er-Jahren, und dadurch kommt ein ganz anderes soziales Gefüge heraus.

Führer: Wenn ich das jetzt richtig verstanden habe, dann haben Sie in der Literatur von - ich sag jetzt mal weiträumig, Menschen mit türkischen Wurzeln, wie weit auch immer die zurückreichen - untersucht, den Einfluss der gesellschaftlichen Veränderungen auch, die Veränderung, die diese Autoren auch mit- und durchgemacht haben. Die Frage wäre ja auch mal wieder umgekehrt interessant: Wie weit hat sich das dann wieder auf die deutsche Mehrheitsgesellschaft, auf die Kultur ausgewirkt?

Ezli: Positiv, zum großen Teil auch bereichernd. Also, bei den Kanaken, das war so ein Zwischending. Mit den Kanaken wollten eigentlich die alteingesessenen Deutschen nicht viel zu tun haben, weil es dann doch eine martialische Art irgendwie hatte, diese Kanak Sprak. Aber dann zum Beispiel, also ich kann mich gut erinnern, wie auch in Kabarettsendungen beispielsweise Hagen Rether dann sagt, (unverständlich) dann gehen Sie in einen Fatih Akin-Film.

Also das hat dann schon so einen repräsentativen Status gewonnen, dass man einen Einblick bekommt und auch anfängt, anders über Deutsch-Türken zu sprechen. Aber man muss auch dazu sagen, dass beispielsweise, für wen diese Filme letztlich sind, auch unklar ist. Also ob sie jetzt für die Mehrheitsgesellschaft gemacht sind, ob sie für die Minderheitsgesellschaft gemacht sind, kommen immer wieder Fragen auf. Aber insgesamt würde ich sagen, dass auf beiden Teilen, in denen die Filme rezipiert wurden - "Gegen die Wand" war für viele Deutsch-Türken, die dann eher konservativ sind, ein Problem, dieser Film. Die anderen, die fanden ihn klasse, und was man allein an diesen Reaktionen ablesen kann, dass eine unglaubliche Heterogenität sich entwickelt hat in dieser Geschichte.

Führer: Fatih Akin würde wahrscheinlich sagen, die Filme sind gemacht für Menschen, die gerne Filme sehen. Mich würde mal interessieren, ob denn diese Filme, Sie haben jetzt Fatih Akin genannt, oder auch eben die Bücher von Feridun Zaimoglu, wirken die denn wiederum auch zurück auf die kulturelle Landschaft in der Türkei? Wie ändert das die Perspektive auf die Migration, auf die Integration, auf die Migranten und so weiter, wie wir es jetzt auch nennen. Wenn ich jetzt die Kultur untersuche, habe ich dann nicht einfach schon von vornherein einen anderen Blick? Sehe ich es nicht mehr unter dem Gesichtspunkt, wo liegen die Probleme?

Ezli: Auf jeden Fall. Genau. Eigentlich ist mein Job, mehr oder weniger diesen Mehrwert, der durch diese Filme oder durch diese Texte oder durch andere soziologische qualitative Studien, diesen Mehrwert so zu übersetzen, dass man auch wirklich Kultur als Prozess versteht. Also, wir erzählen ja uns auch selbst unseren Alltag. Oder man hat vor zehn, 20 Jahren anders über Deutschland geredet als heute. Das hat ja mit vielen Faktoren zu tun. Dazu gehört eine Transnationalmannschaft, dazu gehören viele andere Faktoren. Aber insgesamt hat sich auf jeden Fall durch Fatih Akins Filme und Zaimoglu die Perspektive geändert. Nur muss man aber auch sagen, dass die Texte und die Filme auch nicht alles beleuchten.

Nur mein Punkt ist eigentlich, dass die Integrationsdebatten, wie sie seit 2005 im positiven wie im negativen geführt werden, eigentlich zwei Diktionen haben: Einmal ein Einwanderungsland, das ist seit 2005 dann richtig als Gesetz klar, mit Zuwanderungsgesetz, und auf der anderen Seite: Jetzt ist Schluss mit Mulitkulti in Anführungszeichen, gibt es auch die Stimme, also ganz extrem jetzt, wenn wir die Sarrazin-Fraktion nehmen, aber auch Frau Merkel hat eben gesagt, Multikulti ist gescheitert. Jetzt drückt man auf Neustart, ja, jetzt muss sozusagen Integration gemessen werden, es wird kulturelle Anpassung erwartet, und dabei wird vergessen, dass es eigentlich schon eine 30-, 40-jährige oder jetzt eben 50-jährige Geschichte von sozialen Veränderungen, von sozialen Gefügen gibt, die nicht mehr bedacht werden.

Und das erzeugt dann Spannungen, die man erst dann wieder einholen kann, wenn man sozusagen auch andere Sprechweisen entwickelt. Nehmen Sie die Geschichte des Zwischenraums, um die geht es mir eigentlich zu schreiben, und da reicht es nicht allein, soziologische Beobachtungen hineinzunehmen oder politikwissenschaftliche oder die Debatten einfach mit reinzunehmen oder eine Debattengeschichte zu schreiben, sondern es gibt sozusagen Kanäle, wo sich auch sehr viel artikuliert, und das ist sozusagen Literatur und Film. Es verschiebt die Perspektive und man fängt dann auch an, anders darüber zu sprechen.

Führer: Sagt der Kulturwissenschaftler Özkan Ezli von der Universität Konstanz. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Ezli.

Ezli: Ich danke Ihnen, Frau Führer.

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