"Am Anfang auch richtig irritiert"

Wolfgang Thierse im Gespräch mit Anne F. Weber · 02.10.2010
Auch die Christen aus West und Ost fanden vor 20 Jahren zusammen - mehr oder weniger. Bundestags-Vizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) ist ein Katholik aus dem Osten und weiß, was Kirche in der Diaspora bedeutet.
Anne F. Weber: Auf 20 Jahre deutsche Einheit blicken wir dieser Tage zurück. 20 Jahre, in denen viel zusammengewachsen ist, aber auch immer wieder die Mauer in den Köpfen zitiert wird. Umfragen zeigen weiterhin deutliche Einstellungsunterschiede zwischen Ost und West. Wie sieht es da eigentlich bei evangelischen und katholischen Christen aus? Die Rolle der Kirchen war in den beiden deutschen Staaten denkbar verschieden. In der Bundesrepublik waren sie gesellschaftliche Kraft, durchaus mit politischem Einfluss, in der DDR eine an den Rand gedrängte Minderheit, boten aber auch Schutzraum für oppositionelle Gruppen. Ich habe vor der Sendung mit Bundestags-Vizepräsident Wolfgang Thierse gesprochen und ihn zunächst gefragt, ob Christen in Ost und West heute noch ein unterschiedliches Kirchenverständnis haben.

Wolfgang Thierse: Also ich glaub, dass für Christen im Westen Deutschlands Kirche selbstverständlicher ist als im Osten. Wir erinnern uns daran, dass Kirche Minderheit war, Christen in der Minderheit waren, dass sie an den Rand gedrängt werden, dass sie gefährdet waren, dass die Kirche und die Christen angefeindet waren als ewig Gestrige, als Unmoderne - das wird schon noch eine Rolle spielen. Vielleicht haben Christen im Osten deswegen - wie soll ich das nennen - ein emotional kämpferischeres Verhältnis zu ihrer Kirche als Christen im Westen, für die ja lange Zeit Kirche noch Volkskirche war oder man jedenfalls es sich einbilden konnte, dass sie es noch gewesen ist.

Weber: Kardinal Lehmann schreibt: Die innere Einheit der Kirche gestaltete sich mühsamer und zäher, als anfangs vermutet. Sehen Sie das auch so, und woran muss man denn noch arbeiten, um eine Mauer in den Köpfen der Christen niederzureißen?

Thierse: Ach, ich glaube nicht, dass es eine Mauer in den Köpfen der Christen gibt, auch bei den meisten anderen Deutschen außerhalb der Kirchen gibt es keine Mauer in den Köpfen … einer kleinen Minderheit vielleicht noch, die ihre Vorurteile pflegen, ihre Ängste und den anderen Teil irgendwie nicht richtig wahrnehmen wollen. Für die Kirchen gab es ja ein paar Unterschiede. Die kleinere, angefochtenere Kirche, egal ob evangelisch oder katholisch, im Osten und die größere, reichere, vielgestaltigere Kirche im Westen. Ich erinnere mich, dass mich das am Anfang auch richtig irritiert hat: Was gehört alles zur katholischen Kirche im Westen? Die Fülle von Verbänden, Organisationen, Orden und hierarchischen Ausformungen. Mich hat auch lange Zeit der viel größere Reichtum der westlichen Kirche geradezu irritiert. Da mag es immer noch Unterschiede geben in dieser Hinsicht.

Die ostdeutsche Kirche war nicht nur die kleinere, sondern sie war auch die ärmere, die schlichtere, die Kirche in Nöten. Und das prägt ja auch - wie soll ich sagen - das selbstverständliche Verhalten von Christenmenschen. Die westlichen Kirchen konnten - ich übertreibe jetzt gewiss - ein bisschen aus dem Vollen schöpfen, und die ostdeutschen Kirchen waren immer auf die Hilfe aus dem Westen angewiesen, und beides ist weg. Auch die westlichen Kirchen können nicht mehr aus dem Vollen schöpfen, und die ostdeutschen Kirchen können sich nicht mehr auf die finanzielle Hilfe aus dem Westen verlassen. Und plötzlich - und das ist ein schmerzlicher Prozess der Annäherung - sind die Kirchen in beiden ehemaligen Teilen Deutschlands damit befasst, sparen, das heißt also kürzen, streichen zu müssen, Pfarreien zusammenlegen zu müssen, nicht mehr all das sich leisten zu können, was vorher so selbstverständlich war. Also wir müssen sparsam sein. Das ist ein Vorgang, der tut weh und der tut auf beiden Seiten gleichermaßen weh.

Weber: Können da aber vielleicht die ostdeutschen Christen mit ihrem Kirchenverständnis, eben eine ärmere Kirche, eine nicht so prunkvolle Kirche, ein Stück ein Vorbild sein oder Ideengeber sein?

Thierse: Also ich habe jedenfalls einen Erfahrungsvorsprung darin, was das ist, eine Minderheitenkirche, eine Kirche in der Diaspora oder wie immer man das nennt. Ich bin daran gewohnt, damit ist man nicht schlauer automatisch, weil man ja dabei nicht gelernt hat, wie man aus einer größeren Kirche eine kleinere strukturell, finanziell, personell kleinere Kirche macht, das bleibt trotzdem ein ganz mühseliger Prozess. Aber ich habe manchmal den Eindruck, dass es für ostdeutsche Christen nicht ihre wirkliche Identität berührt, wenn zusammengekürzt und gestrichen wird. Ärgerlich bleibt es, aber es berührt nicht meine Identität, weil ich weiß, die Kirche wird nicht weniger glaubwürdig dadurch, dass sie zahlenmäßig kleiner ist. Sie wird weniger glaubwürdig dadurch, dass sie das Wort und Tat, Predigen und Handeln nicht übereinstimmen, dadurch wird man nicht glaubwürdig. Und wenn es übereinstimmt, dann hat man Glaubwürdigkeit.

Weber: Die EKD hat 1990 die Loccumer Erklärung verabschiedet, darin heißt es: Mit den während der Trennung gewachsenen Erfahrungen und Unterschieden wollen wir sorgsam umgehen. Aber wenn man sich jetzt anguckt, heute stammen fünf von sechs ostdeutschen evangelischen Landesbischöfen aus dem Westen. Läuft da etwas schief?

Thierse: Ich bin vorsichtig, ob da was schief läuft, denn die Bischöfe werden gewählt. Das ist eine ganze freie Entscheidung der ostdeutschen Kirchengremien, und die evangelische Kirche ist ja vergleichsweise demokratischer verfasst als die katholische. Also sie wissen, was sie tun. Und das ist schwer zu erklären, warum meistens dann doch im Wettbewerb erfahrene westdeutsche Pastoren oder Pastorinnen gewählt werden. Ob man den Eindruck hat, die seien stärker, cleverer oder überzeugendere Predigerinnen, ich kann das im Einzelnen nicht beurteilen. Es überrascht mich gelegentlich auch, weil ich ja auch aus dem Bereich der Politik die Klage höre und immer sage: In der Demokratie habt ihr Ostdeutschen die Chance, Leute euresgleichen frei zu wählen. Wenn ihr es nicht tut, solltet ihr es nicht anderen vorwerfen.

Weber: Und stimmt Sie das traurig, dass es so ist?

Thierse: Ach, irgendwann mal, 20 Jahre danach, kann einen das nicht mehr beschäftigen, da interessiert mich die konkrete Person … ist die überzeugend, ist das ein glaubwürdiger Bischof, einer, der die schwierigen Strukturveränderungen und das Pastorenamt irgendwie zusammenbringt.

Weber: Sie sind seit 1991 Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, wie sind denn Ihre eigenen Erfahrungen? Wurde da wahrgenommen, was Sie als ostdeutscher Christ an anderen Erfahrungen einzubringen haben?

Thierse: Also zunächst kann ich mich nicht beklagen. Mir wurde mit großem Respekt begegnet, schon weil ich mit einigen anderen ja irgendetwas Exotisches da mitbrachte. Da ist einer aus dem Osten, aus der DDR, und der ist auch noch katholisch, und dann ist er auch noch Sozialdemokrat, das geht doch alles gar nicht zusammen. Also die Kuriosität, die Thierse darstellt, hat mir auch eine gewisse Beachtung eingebracht, vielleicht auch, weil ich dann schon energisch auch auftreten kann.

Aber zunächst mal fand ich das Gremium ein bisschen befremdlich, weil es ja eigentlich eher schwarz eingefärbt ist, um es drastisch auszudrücken, also CDU-dominiert ist, was nicht immer gut ist, denn ein kirchliches Gremium soll keine parteipolitische Schlagseite haben. Man bemüht sich, will das anerkennen. Dann musste ich auch lernen, die im Zentralkomitee der deutschen Katholiken sich ja spiegelnde Vielfalt des deutschen Katholizismus nicht nur als Unübersichtlichkeit wahrzunehmen, sondern auch als einen Reichtum wahrzunehmen, und dieses Zentralkomitee ist ja ein Laiengremium und repräsentiert auch das Selbstbewusstsein der Laien in der katholischen Kirche in Deutschland. Das gibt es nicht in allen katholischen Kirchen der Welt, dass es eine so selbstbewusste und organisierte Laienschaft gibt, die sich auch zu Wort meldet und die auch konfliktbereit ist.

Weber: In der Politik haben Sie immer wieder die Reformunwilligkeit des Westens beklagt, haben Sie das auch in der Kirche zu beklagen?

Thierse: Ja, die Kirche ist ja … sowohl die katholische wie die evangelische sind ja uralte Institutionen, die sich auch langsam bewegen. Sie sind in einem freundlichen Sinne des Wortes konservativ, man muss gute Argumente haben. Es muss Konflikte geben, Krisen, Einbrüche, damit sich etwas ändert - das kann einen gelegentlich nervös machen. Aber andererseits ist das schätzenswert. Ich bleibe ja nicht in der Kirche, weil sie sich jeder zeitgenössischen Mode anpasst, nein, ich finde schon, die sollen wie aus einer anderen Zeit in die heutige Zeit hineinragen als erratischer Block.

Allerdings wünsche ich mir schon, dass das Gespräch zwischen Laien und Priestern, vor allem Bischöfen, in der katholischen Kirche deutlich verbessert wird. Wir sind in einer krisenhaften Situation, die müssen wir durchbuchstabieren, und wenn … Wir müssen daraus auch Konsequenzen ziehen. Es gibt vieles zu ändern in der katholischen Kirche, und da ärgert mich die Beharrlichkeit. Also die Rolle der Frauen ist so was von problematisch in der katholischen Kirche, sozusagen das Sonderbewusstsein des Klerus, das sich immer weiter tradiert. Das müsste doch jetzt endgültig erschüttert sein, so dass man zu anderen Verhältnissen kommt und sich endlich wieder neu erinnert an dieses wunderbare Geschenk des Zweiten Vatikanums und seines Kirchenbilds, die Kirche als das wandernde Volk Gottes, in dem Menschen unterschiedlicher Charismen, also unterschiedlicher Begabungen, Funktionen, Aufgaben zusammenwirken, aber sie sind gleich vor Gott.

Weber: Kirche war für Sie und andere in der DDR ein Übungsraum für Demokratie - muss vielleicht Kirche heute selbst erst mal Demokratie üben?

Thierse: Gewiss mehr als bisher, aber wir sollten von der Kirche, zumal auch von der katholischen Kirche nicht verlangen, dass sie so wird wie Parteien oder wie Parlamente. Das wäre eine falsche Erwartung. Und der Dienst der Kirchen an unserer heutigen freien, offenen Konkurrenzgesellschaft ist ja nicht, dass sie genauso wird wie diese Gesellschaft, sondern dass sie an den Maßstäben arbeitet, nach denen sich vernünftigerweise und um des Menschen willen Politik richten sollte.

Und ich will dafür nur ein Beispiel nennen: Wir erleben doch und erleiden eine immer dramatischere Ökonomisierung unseres ganzen Leben, das betriebswirtschaftliche Denken ist dominant. Da müssen die Kirchen Mahner sein, dass der Mensch nicht nur gemessen werden darf daran, was er als Arbeitskraft leistet und was er als Konsument sich leistet, sondern das Menschsein viel, viel mehr bedeutet und dass Menschenwürde nicht nur dem Erfolgreichen, Schönen, Cleveren zukommt, sondern dem Kranken, dem leidenden Behinderten, dem Arbeitslosen. Diese Maßstäbe immer störrisch wachzuhalten und Einspruch zu erheben gegen die Verkürzung des Menschen auf die beiden Rollen, die der Markt kennt, nämlich Arbeitskraft zu sein und Konsument, das ist der richtige Dienst der Kirchen an der Gesellschaft, die durch den Markt beherrscht ist.

Weber: Kardinal Lehmann hat in einem Interview gesagt, der jahrzehntelang staatlich verordnete Atheismus in der DDR habe Geist und Sinn der Menschen auf lange Zeit geprägt. Wieso gibt es dann so Menschen wie Sie, die sich da nicht haben anstecken lassen?

Thierse: Zunächst mal ist das eine nüchterne Feststellung. Die SED, das SED-Regime war nirgendwo so erfolgreich wie bei der konsequenten Entkirchlichung der Menschen. Man sagt, die Ex-DDR und Tschechien sind die beiden Länder mit dem größten Anteil an Atheisten oder sagen wir mal an Kirchenlosen. Das ist auch ein Kulturabbruch. Das Unwissen über Theologie und Kirche und Religion ist riesig, entsprechend die Vorurteile. Das ist so eine Mischung aus Unkenntnis, Aversion, kämpferischem Atheismus, Desinteresse. Ich glaube, dass die meisten - ich sag das ohne Vorwurf - auch nicht das Gefühl haben, dass ihnen irgendetwas fehle. Und das ist eine riesige Herausforderung für die Kirchen und für Christenmenschen.

Das habe ich schon in der DDR erlebt und habe immer gewusst oder mühselig gelernt, dass ich mein Christsein in dieser Minderheitssituation nicht nur vor mir selbst und meinem Verstand und meinem Intellekt rechtfertigen musste, sondern es auch übersetzen musste in die Sprache und in die Unkenntnis der anderen. Und das ist eine verdammt schwierige Aufgabe, die Christen und Kirchen jetzt auch haben, insgesamt in Deutschland, weil wir ja sehen, dass diese Tendenz zur Säkularisierung, zur Kirchenferne zunimmt, was noch nicht heißt zur Religionslosigkeit, sondern andere Götter treten gelegentlich an die Stelle des christlichen Gottes.

Weber: Ich sprach mit dem langjährigen Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, dem SPD-Politiker Wolfgang Thierse, über Kirchen und Christen im vereinten Deutschland.
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