Altenpflege

Gefühlt 60 Jahre plus

Eine Messebesucherin versucht auf der Fachmesse "Altenpflege 2010" in Hannover in einem Alterssimulationsanzug eine Treppe herunter zu gehen. Der Anzug wurde von der TU Chemnitz im Auftrag von VW entwickelt und ist derzeit das technisch Beste auf diesem speziellen Simulationsmarkt. Mit dieser Technik-Hilfe kann die Wahrnehmungswelt älterer Menschen simuliert werden. So kann die Beweglichkeit von Beinen, Armen und Händen, das Sehen und Hören, die Körperkraft und das Tastgefühl stufenweise eingeschränkt werden.
Mit solch einem Anzug kann die Wahrnehmungswelt älterer Menschen simuliert werden. © picture alliance / dpa / Foto: Jochen Lübke
Von Astrid Mayerle  · 18.06.2014
Pflegebedürftige Menschen bewegen sich langsamer, sehen und hören oft schlechter. Um sich besser auf die Bedürfnisse der älteren Menschen einstellen zu können, werden Azubis immer öfter in Anzüge gestopft. Darin erleben sie, wie es ist, nicht mehr ganz jung zu sein.
"Schön die Füße heben, Herr Riehm. / Mach ich! / Schlurfen ist nicht erlaubt. / Schlurfen ist nicht erlaubt? / Nee!"
Auf dem Flur des Münchenstifts schleppt sich Herr Riem mühsam und unendlich langsam bis zu seiner Zimmertür. Die Beine des 81-Jährigen stecken in dunkelblauen Jogginghosen, er versucht sie ein wenig zu heben, weil ihn die Altenpflegerin dazu ermuntert.
"Jawoll, super! Durchnaufen! / Geschafft! / Und nen Schluck trinken."
Sieglinde Winterer, die Pflegerin, weiß genau, wie sich Herr Riem fühlt. Sie kennt die Einschränkungen alter Menschen aus eigener Anschauung, weil sie vor einiger Zeit einen Alterssimulationsanzug für das Münchenstift angeschafft hat. Sie ist Leiterin der Ausbildung und momentan für 24 Auszubildende zuständig. Die lässt sie alle regelmäßig in den Altersanzug schlüpfen. Heute ist Philipp Rösler dran, er ist im dritten Lehrjahr.
Winterer im Gespräch mit Riehm:
"Ne große Latzhose kriegt er jetzt an mit vielen Gewichten. Fassens mal an! / Da ist Blei drin. / Da sind Sandpäcken drin, damit es schwer ist."
Sieglinde Winterer zieht die einzelnen schweren Teile aus einem großen schwarzen Koffer am Boden: eine Jacke, eine schwarze Weste, Kniemanschetten, Handschuhe, einen Schaumstoffkragen um den Hals. Zuletzt setzt sie ihrem Azubi eine wuchtige Brille auf. Die Ränder der Kunststoffgläser sind mit schwarzen Streifen versehen, dazwischen schmale, transparente Flächen.
Sieglinde Winterer: "Da haben Sie ne ziemliche Gesichtsfeldeinschränkung. Sie sehen nur noch ins Zentrum nach vorne und das ununterbrochen. Und jetzt kriegen Sie noch einen Helm, damit Sie auch von der Seite eingeschränkt sind."
Abstehende Arme und schwere Schritte
Komplett verpackt versucht Philipp Rösler die ersten Schritte. Seine Haltung und Bewegungen, vor allem die etwas abstehenden Arme und die schweren Schritte erinnern an die unbeholfenen Gehversuche von Astronauten. Der Azubi ist kaum wiederzuerkennen, die Scherze seiner Kollegen im Gang kann er nicht hören.
Philipp Rösler im Gespräch mit Kollegen:
"Pass auf, dass keiner nen Herzinfarkt kriegt! / Ich hör schlecht. / Pass auf, dass keiner n Herzinfarkt bekommt. / Ok. / Dann gehen wir rauf. / Wieder nicht verstanden. / Du musst laut reden, er hört nichts."
Auf dem Rückweg taumelt Philipp Rösler beinahe gegen eine Wand. Halt findet er an einem der Handläufe, die in allen Gängen des Stifts angebracht sind.
Winterer im Gespräch mit Rösler:
"Wie war das jetzt für Sie, Philipp? / Schwer. Man fühlt sich nach unten gezogen, es zieht wirklich überall an einem. Ich bin ins Schwitzen gekommen, nur einmal den Flur entlanglaufen. / Sie haben sich ja mit Kollegen unterhalten. Wie war das für Sie, die zu verstehen? / Sehr irritierend, denn ich hab noch gesehen, dass sie sprechen, aber es war einfach nicht zu erkennen, was sie mir sagen wollten. / Hatten Sie das Gefühl, nicht dazuzugehören? / In dem Moment, wo sich zwei Leute unterhalten, man sieht sie nur noch unscharf, man hört sie aber, versteht nicht, was sie sagen, da fühlt man sich ausgegrenzt."
Der Alterssimulationsanzug erschwert sämtliche sinnlichen Erfahrungen: Sehen, Hören, Tasten. Ob der Handlauf aus Metall oder Holz ist, konnte Philipp Rösler nicht mehr erspüren. Auch seine Feinmotorik war stark eingeschränkt. Jetzt kann er besser nachvollziehen, welche genauen Hilfestellungen ältere Menschen brauchen, wenn Sie den Fernseher einstellen oder einfach nur Zähneputzen möchten.
Sieglinde Winterer ist überzeugt, dass der Alterssimulationsanzug Erfahrungen ermöglicht, die auf andere Weise nicht zu machen sind:
Winterer: "Es ist diese Schlüsselqualifikation Empathie. Man kann sehr viel erklären und man bleibt immer auf dieser Kopfebene. Was die Schüler dann mitkriegen, wenn sie diesen Anzug tragen, dann geht's auf die emotionale Ebene und dann kann man nachvollziehen, welche Hilfe braucht dieser Bewohner, von welcher Seite muss ich ihn begleiten, welche Hilfsmittel braucht er?"
Anzug öffnet die Auszubildenden auch emotional
Die einfachste und günstigste Ausführung eines Alterssimulationsanzugs kostet gut 1200 Euro, mit Zusatzelementen wie Tremorsimulator und Koffer kommt er auf 1700 Euro. An den meisten Schulen, die angehende Altenpfleger unterrichten, fehlt dafür das Budget. Anders in der praktischen Ausbildung in Pflegeheimen: Hier setzt sich der Alterssimulationsanzug allmählich durch.
Der Anzug öffnet die Auszubildenden auch emotional, glaubt Sieglinde Winterer. Sie blickt in das Zimmer von Herrn Riehm, der gerade mit Philipp Rösler - inzwischen wieder in der weißen Pflegeruniform - Fotos anguckt von seinen früheren Reisen.
Winterer: "Das sind nicht irgendwelche Bewohner hier, sondern das sind Menschen, die haben eine Geschichte. Und das ist spannend für die Azubis. Die sind 19 oder 20 Jahre alt und ich denke, um so spannender wird dieser Beruf, wenn ich wirklich den ganzen Menschen ergründen kann und dann wird's zu ner Partnerschaft und dann wird dieser Beruf auch schön und spannend auf Dauer. Wenn ich es nicht auf ein paar Tätigkeiten begrenze, dann ist diese Hilfestellung, die die Bewohner brauchen, auch mehr als nur Waschen oder Essen geben."
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