Alte Geschichte neu erzählt

06.04.2011
"Der Schiffsjunge" ist ein spannender Abenteuer-Roman mit allem, was dazu gehört: gewaltige Stürme, dramatische Konflikte, lustvolle Tage auf Tahiti und grausame Entbehrungen.
Wenn ein Schriftsteller eine "wahre Geschichte" verspricht, dann sollte der Leser auf der Hut sein. Auch wenn es sich um einen authentischen Stoff handelt, der durch Berichte Betroffener, Filme und Romane bereits Furore gemacht hat. John Boyne legt mit "Der Schiffsjunge" eine neue Sicht auf die dramatische Geschichte von der jahrelangen Fahrt und der Meuterei auf der "Bounty" Ende der 1780er-Jahre vor. Geschrieben ist sie aus der Perspektive des Schiffsjungen John Turnstile.

Nur durch Zufall gerät der 14-jährige John auf die "Bounty", den Segler, der Brotfruchtbäume von Tahiti nach Westindien bringen soll. Als persönlicher Diener von Kapitän Bligh wird er von diesem gut behandelt und erlebt interne Konflikte unter den Offizieren aus nächster Nähe. Ausführlich und wortgewaltig erzählt der inzwischen alt gewordene Turnstile von dem vergeblichen Versuch, Kap Hoorn zu umschiffen und von der zehnmonatigen Fahrt nach Tahiti, vom Aufenthalt auf der Insel und der Meuterei, dann von der strapaziösen Fahrt im engen Beiboot bis zur Insel Timor. So weit, so bekannt. Neu an Boynes Roman ist unter anderem das aus Sicht des Jungen positive Bild des Kapitäns. Die Meuterei erscheint nicht als Tyrannensturz, sondern als eine Aktion von Aussteigern, die zurück ins Paradies Tahiti wollen. Eine Revolte, die ein wenig konstruiert wirkt.

"Der Schiffsjunge" ist ein spannender Abenteuer-Roman mit allem, was dazu gehört: gewaltige Stürme, dramatische Konflikte, lustvolle Tage auf Tahiti und grausame Entbehrungen. Doch er ist auch ein Schelmen- und Entwicklungsroman, denn er erzählt lebendig und glaubhaft von dem Erwachsenwerden eines Underdogs, der an den Erlebnissen und Prüfungen, den menschlichen Erfahrungen und sexuellen Abenteuern auf der mehr als zweijährigen Reise reift.

Selbstbewusst im Ton, manchmal etwas altklug, oft deftig und frech und immer mit Humor erzählt der alte Turnstile von seiner Reise, wobei er bisweilen unbegründet zwischen Rückblick und Jungenperspektive hin und her springt. Witzige Dialoge und pralle Bilder würzen das Geschehen, Langeweile kommt über die 640 Seiten nicht auf. Von der leisen Eindringlichkeit und der genialen Einfachheit des "Jungen im gestreiften Pyjama" ist "Der Schiffsjunge" allerdings eine Seemeile entfernt. Was nicht nur mit dem Thema zusammenhängt, sondern auch mit der unentschiedenen Erzählhaltung.

Sind Johns Erinnerungen an seine bitterarme Kindheit und die sexuelle Ausbeutung im Etablissement des Mr. Lewis auch melodramatisch aufgebauscht, so entlarvt Boyne doch gesellschaftliche Missstände wie die Rücksichtslosigkeit der Engländer gegenüber den Wilden oder die Arroganz der Offiziere gegenüber den Matrosen. Wie er überhaupt deutlich macht, dass soziale Systeme in Krisenzeiten nur funktionieren, wenn Autorität und Solidarität zugleich herrschen - sonst hätte keiner der Ausgesetzten überlebt. Seine "wahre Geschichte der Meuterei auf der Bounty" hält sich an die bekannten Dokumente und füllt die offen bleibenden "Zwischen-Räume" mit einer bunten Geschichte. Jugendliche werden sie mit Vergnügen und Interesse lesen.

Rezensiert von Sylvia Schwab

John Boyne: Der Schiffsjunge - Die wahre Geschichte der Meuterei auf der Bounty
Aus dem Englischen von Andreas Heckmann
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011
640 Seiten, 18,95 Euro