"Als würde der Baum aus solchen Wunden bluten"

Rolf Kehr im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 08.11.2012
Die Miniermotte war gestern – die neue Baum-Epidemie hört auf den Namen Pseudomonas syringae. Der Arboristik-Experte Rolf Kehr befürchtet den Tod von 50 Prozent der älteren deutschen Kastanien im nächsten Jahrzehnt.
Stephan Karkowsky: Die Natur hat sich angepasst, man sieht dieses Jahr deutlich weniger von der Miniermotte befallene Kastanien. Die berüchtigte Motte ist nämlich zur exotischen Lieblingsspeise heimischer Meisen geworden. Die und andere Vögel fressen sie einfach von den Blättern. Entwarnung für die Kastanien gibt es dennoch nicht, denn nun rückt ein tückisches Bakterium ihren Stämmen zu Leibe und lässt sie alleenweise absterben. Informieren soll uns über die tödliche Kastanienkrankheit ein Gehölzpathologe: Dr. Rolf Kehr lehrt am bundesweit einzigartigen Studiengang Arboristik in Göttingen Schutz und Pflege öffentlichen Grüns. Herr Kehr, guten Tag.

Rolf Kehr: Ja, guten Tag, grüße Sie.

Karkowsky: Sie haben diesen Eindringling vor fünf Jahren bereits in Deutschland nachgewiesen, und Ihnen überlasse ich auch gern die Nennung seines Namens. Also, wie heißt der Fiesling und wo kommt er her?

Kehr: Das Bakterium heißt Pseudomonas syringae. Und zwar ist es da ein ganz besonderer Pathovar, also gewissermaßen eine Erregerrasse namens Aesculi, die kommt also speziell nur auf der Rosskastanie vor.

Karkowsky: Und ist eingewandert von wo?

Kehr: Die ist vermutlich … Man weiß es nicht genau, aber der Erstnachweis dieses Bakteriums war in den 70er-Jahren in Indien auf Aesculus indica, also auf der Indischen Rosskastanie. Danach hat man nichts mehr gehört und dann begannen Krankheitsfälle so um das Jahr 2000, späte 90-er in Großbritannien, in Frankreich, Niederlande. Und wir haben in Deutschland so etwa seit dem Jahr 2005, 2006 wirklich Probleme damit und haben es nachgewiesen dann 2008.

Karkowsky: Und lässt sich das erklären – mal angenommen, die Spur stimmt, das kommt wirklich aus Indien –, wie es zu uns kommt?

Kehr: Bakterien allgemein dieser Gattung sind leicht verbreitbar mit Regen, Wind. Das kann man sich also sehr leicht erklären. Bei anderen Pflanzen gibt es das auch, dieses Bakterium, also Pseudomonas syringae ist eine ganz große Gruppe, gibt es auf Flieder, das steckt ja im Namen drin, Syringa. Also, insofern, die Verbreitung ist für so ein Bakterium noch viel einfacher als für Pilze.

Karkowsky: An welchen Symptomen kann man denn befallene Kastanien erkennen?

Kehr: Ja, die Bäume haben, gerade wenn es dünnringige, junge Bäume sind, haben die häufig sogenannte Schleimflussflecken. Das heißt, die Rinde fängt an abzusterben, und dann bildet sich da so eine dunkle Nassflüssigkeit. Das kann auch der normale Bürger erkennen. Es sieht aus wie, als würde der Baum aus solchen Wunden bluten. Und anschließend passiert Folgendes: Wenn die Rinde abgestorben ist in größeren Flächen, dann besiedeln eben holzzerstörende Pilze diese Flächen. Und das ist das eigentliche Problem zurzeit. Also, das Bakterium ist die eine Komponente, aber die zweite Komponente, die wir zurzeit sehen, ist, dass dann holzzerstörende Pilze da reingehen und eine Holzfäule in dem Holz machen. Und dann kann es eben passieren, dass solche Bäume auch brechen, dass Äste ausbrechen. Und das ist eben ein Verkehrssicherheitsproblem.

Karkowsky: Also gibt es Gefahren für Menschen, die einen kranken Baum vorm Haus haben oder im Garten.

Kehr: Mittelfristig dann ja, genau. Die Bakterien selber machen überhaupt keine Gefahr für den Baum, die töten ja erst mal nur die Rinde und das Kambium. Aber die Sekundärschädlinge, die dann danach kommen, die können tatsächlich dann irgendwann zum Bruch des Baumes führen. Das heißt, die Städte und Kommunen und auch die privaten Baumbesitzer sind natürlich aufgerufen, sehr sorgfältig ihre Rosskastanien auf die Symptomatik hin zu prüfen.

Karkowsky: Würden Sie denn hier schon von einer Epidemie sprechen?

Kehr: Ja, als Pathologe macht man prinzipiell nicht so gern Panikstimmung. Aber es ist so, es erfüllt letztendlich die Voraussetzung an eine Epidemie, die wir hier haben. Es ist etwas Neues, vermutlich etwas Neues, was wir vorher nicht hatten, es hat sich von Südwesten, sagen wir mal, oder von Westen Richtung Osten ausgebreitet und es macht mehr und mehr Schäden. Also, ich denke, man kann schon sagen Epidemie.

Karkowsky: Zur neuen Krankheit der Kastanien hören Sie den Göttinger Gehölzpathologen Rolf Kehr. Herr Kehr, was kann man dagegen tun? Kann man einen Impfstoff entwickeln?

Kehr: Nein, bei Bäumen ist das praktisch nicht möglich, zumindest nicht bei diesen Bakterien. Die verstecken sich auch sehr gut in der Rinde der Bäume. Große Teile der Rinde bei Bäumen sind ja auch tot, muss man wissen, und in diesem toten Gewebe werden zum Beispiel auch Abwehrsubstanzen, die man jetzt injizieren wollte, die werden da gar nicht transportiert. Also, die Bakterien sind letztendlich nicht erreichbar. Und Bäume haben auch kein echtes Immunsystem so wie Menschen, das heißt, wir können nicht eine Immunreaktion durch eine echte Impfung hervorrufen.

Karkowsky: Wenn sich nun dieses Bakterium durch Luft und Wasser verbreitet, wenn alle Kastanien davon befallen sein können, heißt es dann, dass wir bald keine mehr haben werden?

Kehr: Ja, ganz so schwarz sehe ich es nicht. Aber was wir anerkennen müssen im Moment, oder erkennen müssen, ist tatsächlich, dass … Zum Beispiel Großbritannien hat es Erhebungen gegeben, da hat man gefunden, dass je nach Provinz durchaus 30, 40, 50 Prozent aller Bäume immerhin befallen waren. Das heißt noch nicht, dass sie absterben, aber immerhin, sie waren befallen von dem Bakterium. Und ich sehe schon das Potenzial, dass in manchen Kommunen – gerade im Ruhrgebiet ist das derzeit der Fall –, dass wir da durchaus eine Todesrate auf Sicht von zehn Jahren von vielleicht 50 Prozent der älteren Kastanien haben werden. Das ist durchaus möglich.

Karkowsky: Nun sind Sie derjenige, der die Bäume untersucht. Als Gehölzpathologe können Sie auch sagen, welche Auswirkung das haben kann auf die Ökologie?

Kehr: Ja, die Ökologie spielt hier eigentlich, ich finde, zunächst einmal sekundär eine Rolle, denn die Rosskastanie ist ja eine, ist eine Stadtbaumart im Wesentlichen, sie ist im Wald ja überhaupt ohne Bedeutung in Deutschland. Und wir haben natürlich auch andere Baumarten, die in der Stadt funktionieren. Es ist nicht so, dass wir jetzt total abhängig sind von der Rosskastanie. Aber sie ist eben in der Vergangenheit sehr häufig angepflanzt worden, sie hat diesen schönen Frühjahrsaspekt und es ist sehr schade, wenn wir dann gerade unsere älteren, schönen Kastanien, wenn wir davon viele verlieren.

Karkowsky: Interessant scheint ja auch, dass ausgerechnet die rot blühende Kastanie schwerer betroffen sein soll von dem Bakterium. Hatte man die nicht extra vermehrt angepflanzt, weil sie der Miniermotte besser standhielt als die weiß blühende?

Kehr: Ja, das ist eine ganz interessante Entwicklung. Das ist tatsächlich so, dass die meisten rot blühenden Kastanien gegen die Miniermotte weitgehend resistent sind, und deshalb hat man die propagiert. Und nun sieht man, das Bakterium geht zumindest auf beide. Also, man kann nicht sagen, es geht mehr auf die roten. Es gibt Kommunen, wo das der Fall zu sein scheint, aber es gibt auch Kommunen, wo es dann überwiegend die weißen trifft. Jedenfalls, es steht fest, das Bakterium kann sowohl weiß blühende als auch rot blühende angreifen und somit ist dieses vermehrte Anpflanzen der roten im Prinzip nicht besonders sinnvoll.

Karkowsky: Man liest ja noch mehr vom schlechten Zustand der Straßenbäume in Europa. In Holland haben die Kastanien zuerst angefangen zu bluten, wir hatten hier die Miniermotte und haben sie auch immer noch, aus England wird vom Eschentriebsterben berichtet. Was ist los mit den Straßenbäumen?

Kehr: Nun ja, das ist … Man muss jede Krankheit für sich nehmen und jedes Problem für sich, glaube ich, betrachten. Das mit der Esche übrigens, das war bei uns früher als es in England war, denn das ist wiederum eine Erkrankung, die von Ost nach West wiederum voranschreitet. Das hat im Baltikum, in Polen begonnen etwa. Also, Sie dürfen nicht alles über einen Kamm scheren. Manche dieser Erkrankungen haben auch eine klimatische Komponente, sodass man sagt, der Klimawandel fördert die …

Karkowsky: Nämlich, in welcher Form?

Kehr: Ja, Klimawandel, wenn wir heiß-trockene Sommer haben, gerade für Stadtbäume, die ohnehin vielfältige Probleme haben mit Wasserversorgung, mit Hitze, dann fördert das sogenannte Schwächeparasiten. Also, da gibt es auch eine ganze Reihe von Beispielen. Bei diesen Bakterien hier würde ich sagen, da ist keine wesentliche klimatische Komponente, die brauchen nicht den Klimawandel, um sich auszubreiten, und das Gleiche gilt auch für das Eschentriebsterben. Das ist nicht primär ein Problem des Klimawandels.

Karkowsky: Zur Kastanie sagen Sie, das ist nicht so sehr ein ökologisches Problem, vor allen Dingen ein ästhetisches. Wir werden sie vermissen, die Kastanien, wenn ihre Blüten nicht mehr in den Bierkrug fallen im Biergarten. Was kann man denn stattdessen pflanzen, was jetzt noch als robuster gilt?

Kehr: Dafür gibt es ja schlaue Leute, die sich damit beschäftigen, es gibt auch einen entsprechenden Arbeitskreis beim Deutschen Städtetag. Man muss auf Vielfalt setzen, wir haben ja eine ganze Reihe heimischer Bäume, die funktionieren. Allerdings immer nur bezogen auf den einzelnen Standort. Ich empfehle, dass wir eben zusätzlich noch andere Baumarten pflanzen aus anderen Ländern, wir haben eine ganze Reihe von Baumarten, die sehr trockenheitstolerant sind und die gleichzeitig auch die gelegentlichen harten Winter bei uns vertragen. Denken Sie an den letzten Winter, auch im Klimawandel haben wir immer wieder sehr, sehr kalte Phasen. Und da gibt es eine ganze Menge, die man pflanzen kann. Die Hopfenbuche wäre so ein Beispiel, oder es gibt im Mittleren Westen der USA und im Kaukasusbereich eine ganze Menge Gattungen, die gehen.

Karkowsky: Und ganz praktisch gefragt, wenn ich feststelle, dass die Kastanie bei mir vorm Haus oder im Garten an zu bluten fängt, wen rufe ich an?

Kehr: Tja, wenn man vor Ort … In den meisten Städten ist ja organisiert etwas, das Grünflächenamt heißt oder Umweltamt. Also, es ist schon sinnvoll, dass die Stadtverwaltung sich das anschaut, es gibt Leute, die für die Bäume zuständig sind. Man kann natürlich auch versuchen, wenn man ein Pflanzenschutzamt vor Ort hat, das Pflanzenschutzamt zu Rate zu ziehen, die Kollegen sind natürlich dann aber auch häufig überlastet. Also, ich würde empfehlen, zunächst die Stadtverwaltung zu informieren.

Karkowsky: Wenn ich dann das Amt anrufe, Herr Kehr, dann wird es wahrscheinlich kommen und sich überlegen, wie sicher ist der Baum, und ihn dann im Zweifel lieber fällen. Kann ich als Anwohner gar nichts tun, um den Baum zu retten?

Kehr: Nun, es ist zunächst einmal das Wichtigste, die Vitalität zu erhalten bei den Bäumen. Also, was man tun kann auf jeden Fall, ist, dafür sorgen, dass der Baum eine gute Wasserversorgung hat. Denn viele unserer Stadtbäume haben ja einen sehr eingeengten Wurzelraum und haben große Probleme, gerade während Trockenphasen an Wasser zu kommen. Also, wenn das möglich ist … Ich weiß, in vielen Fällen ist das technisch nicht möglich, aber wenn das möglich ist, kann man versuchen, den Baum gut zu versorgen und auch im Baumumfeld … Dem Baum tut also nicht gut, wenn da Verdichtungen sind, wenn da Autos parken, sondern wenn die sogenannte Baumscheibe, der unmittelbare Bereich um den Stamm, wenn der frei ist und wenn da vielleicht auch ein bisschen Laub liegen bleiben darf, das hilft auf jeden Fall den Bäumen, weil sie dann so etwas wie waldähnliche Verhältnisse vorfinden.

Karkowsky: Nach der Miniermotte hat die Kastanie schon wieder Besuch von einem Schädling, diesmal aber von einem tödlichen. Informiert hat uns darüber Dr. Rolf Kehr, er lehrt am bundesweit einzigartigen Studiengang Arboristik in Göttingen. Herr Kehr, besten Dank.

Kehr: Danke Ihnen.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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