Als die grauen Busse kamen

Von Kirsten Serup-Bilfeldt · 06.03.2010
Der Historiker Daniel Siemens nimmt in seinem aktuellen Buch die Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel unter die Lupe. Während des Dritten Reichs soll die Anstaltsleitung Sympathien für die Nazis gehabt haben - die auch nach dem Krieg anhielten.
Der massive, rund 20 Tonnen schwere Sandsteinblock wird unter dem Jubel der Zuschauer auf die Bergkuppe gehievt. Eingerahmt wird er von einer Anzahl kleinerer Steine, sodass die Gesamtanlage einer germanischen Thingstätte ähnelt. Unter einem eingemeißelten Hakenkreuz glänzt die Inschrift:

"Horst Wessel, geboren in Bielefeld."

"Interessant ist, dass dieser Stein, der im September 1933 eingeweiht wird - bei einer sehr großen Veranstaltung: also ungefähr 20.000 Leute, die dort mitten auf dem Höhenkamm des Teutoburger Waldes aufmarschieren - dass der von Bethel gespendet sein soll. Ich sage das sehr vorsichtig, weil ich das auch nur aus den Tageszeitungen der damaligen Zeit weiß. Im Archiv selbst in Bethel ließen sich da keine Unterlagen finden. Da kann man auch spekulieren, warum das so ist. Aber es ist wahrscheinlich richtig, und auch da sieht man wieder die enge Verbindung. Da hatte das in Bielefeld diesen starken lokalpatriotischen Einschlag, dass eben die Geburtsstadt von Horst Wessel versuchte, aus diesem reichsweiten Kult Kapital zu schlagen."

… berichtet der Bielefelder Historiker Dr. Daniel Siemens.

In seinem jetzt erschienenen Buch über den Bielefelder Pfarrerssohn und SA-Schläger Horst Wessel, Märtyrer und Lichtgestalt der frühen nationalsozialistischen Bewegung, stellt Siemens eindeutige Anzeichen für einen Horst-Wessel-Kult in den Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel fest. Eines dieser Anzeichen sieht er in der Aufstellung des von Bethel gestifteten Horst-Wessel-Steins, der 1945 gesprengt wurde und seitdem aus dem kollektiven Gedächtnis der Bielefelder Bevölkerung getilgt ist.

Die Arbeit an dem Buch über Horst Wessel war für Siemens Anlass, die Rolle der Bethels - eine der größten Behinderteneinrichtungen der evangelischen Kirche - und auch die ihres Leiters Friedrichs von Bodelschwingh genauer unter die Lupe zu nehmen. Das war auch deshalb eine Herausforderung, weil Bodelschwingh nach dem Krieg viele Jahre lang als Widerstandskämpfer gegen die braune Barbarei gefeiert worden war. Eine Einschätzung, die nicht gänzlich falsch, aber beileibe auch nicht richtig ist, wie Siemens feststellt:

"Die Rolle Friedrich von Bodelschwinghs ist zumindest sehr ambivalent. Das resultierte einerseits aus einer milieubedingten Prägung, aber dann eben auch aus der schwierigen Rolle, eine so große Anstalt wie Bethel durch das Dritte Reich zu bekommen. Und da hat er eben auch einige Kompromisse gemacht, vielleicht auch machen müssen. Eine protestantische Lichtgestalt würde ich aus ihm keinesfalls machen."

Ob Bodelschwingh die Aussage "Der Idiot beleidigt das Ebenbild des Schöpfers und muss deshalb diesem zurückgegeben werden" wirklich getan hat, ist denn auch bis heute strittig. Unstrittig dagegen sind die Kompromisse, die er machte, machen musste?

Einer dieser Kompromisse sah so aus, dass er sich zwar gegen gezielte Tötungsaktionen seiner behinderten Schutzbefohlenen wandte, gegen deren Zwangssterilisierung jedoch nichts einzuwenden hatte:

"Da weiß man zum Beispiel, dass es mindestens 1000 Leute gegeben hat innerhalb der von Bodelschwinghschen Anstalten, die von Zwangssterilisationen betroffen waren. Das ist aber nur die gesicherte Zahl. Es können wesentlich mehr gewesen sein."

In einer protokollierte Aussage von Bodelschwinghs heißt es dazu:

"Deshalb würde es mich ängstlich stimmen, wenn die Sterilisierung nur aus einer Notlage heraus anerkannt würde. Ich möchte es als Pflicht und mit dem Willen Jesu konform ansehen. Ich würde den Mut haben, vorausgesetzt, dass alle Bedingungen gegeben und Schranken gezogen sind, hier im Gehorsam gegen Gott die Eliminierung an anderen Leibern zu vollziehen, wenn ich für diesen Leib verantwortlich bin."

"Um das zu verstehen - die Rolle, die führende Ärzte und auch die Anstaltsleitung von Bethel in den 30er-Jahren gespielt haben, ist es vielleicht hilfreich, sich deutlich zu machen, in welch weitem Maße rassehygienische und erbbiologische Vorstellungen in der Medizin, aber auch in der Theologie Anklang gefunden haben. Und da ist eben Friedrich von Bodelschwingh auch jemand, der im Prinzip dem Grundgedanken von positiver Eugenik wohlwollend gegenübersteht und der nur gegen ganz bestimmte Auswüchse, gegen klare Mordaktionen sein Veto einlegt - später."

Wie es geschehen konnte, dass gerade in Bethel - etwa unter männlichen Pflegekräften und Diakonen - eine überaus starke Sympathie für die Nationalsozialisten auszumachen war, erklärt Daniel Siemens mit dem damals vorherrschenden Männlichkeitsideal:

"Es war offensichtlich so, dass der Beruf des Diakons einer neuen Legitimation bedurfte in einer Zeit, als das Ideal für junge Männer mehr und mehr von einem militärisch-maskulinem Habitus geprägt war. Die Diakone laufen dann offensichtlich auch in Scharen und treten der SA bei, um sozusagen dem verbreiteten Vorwurf, sie würden da 'Weiberarbeit' machen oder irgendwie nicht an der großen nationalen Sache mittun - um dem zuvorzukommen. Und insofern ist die Figur des Horst Wessel auch ganz gut geeignet, um als Bindeglied zwischen protestantischer Kirche und nationalsozialistischer Weltanschauung zu stehen. Und das Lied wird ja dann auch von den Kirchen - ja, man kann nicht sagen adaptiert - aber es wird eben auch in den Kirchen gesungen. Und das ist doch die Parteihymne der NSDAP."

Nach dem Krieg herrschte in Bethel, wie andernorts auch, jahrzehntelanges Schweigen über das, was damals geschehen war. Dieses Schweigen wurde erst durch die gezielte Vergangenheits-Aufarbeitung in den 1980er-Jahren gebrochen. Nun gab es ernsthafte Versuche, hier Licht ins Dunkel zu bringen. Mit einer Ausnahme: Zwar wurde die NS-Zeit erforscht und durchleuchtet; doch weiterhin im Dunkel blieb dagegen die Nachkriegsgeschichte Bethels - nämlich die stille Hilfe für braune Kameraden:

"Was mir immer noch nicht hinreichend erforscht erscheint, ist die Rolle, die Bethel nach 1945 gespielt hat bei der Unterbringung von Kriegsverbrechern und deren Angehörigen, beziehungsweise bei der Evakuierung hochgradig belasteter Nationalsozialisten überwiegend nach Südamerika. Da soll Bethel mitgemacht haben. Ich sag das ganz vorsichtig. Was ich weiß - gesichert - dass zum Beispiel die Ehefrau von Heinrich Himmler samt ihrer Tochter und auch andere Nationalsozialisten dort untergebracht wurden und zwar jahrelang in den Einrichtungen von Bethel."

Die Liste ließe sich verlängern: etwa um die Witwe des Reichssportministers Hans von Tschammer und Osten oder um Ernst Gerke, den Gestapochef von Prag, der es sogar bis zum Justitiar der Bodelschwinghschen Anstalten brachte:

"Und das wurde dann begründet als Asylgewährung, die jedermann bekommen müsse, ganz gleich, welche politische Einstellung er habe. Und das finde ich natürlich aus heutiger Sicht sehr problematisch und ich glaube, dass da noch einige Fragen sind, die man durchaus aufarbeiten könnte."

Service:

Das Buch "Horst Wessel - Tod und Verklärung eines Nationalsozialisten" von dem Bielefelder Historiker Dr. Daniel Siemens ist im Siedler-Verlag München erschienen und kostet 19,95 Euro.