Als die Deutschen in Marseille wüteten

Von Dirk Fuhrig · 22.01.2013
Wenigen ist bekannt, dass die Deutschen 1943 einen Teil des Hafenviertels von Marseille zerstörten. Juden und Widerstandskämpfer hielten sich in den engen Gassen versteckt. Weil auch viele Bewohner der Stadt wenig darüber wissen, wird im Rahmen des Programmes der Europäischen Kulturhauptstadt der deutschen "Operation Sultan" gedacht.
Anne Blanchet: "Die Aktion begann am 22. Januar 1943. Ein paar Tage zuvor hatten die Besatzungsbehörden und Vertreter der Präfektur sich geeinigt: Die Vereinbarung sah vor, dass die französischen Behörden selbst die Evakuierung der Bevölkerung vornehmen. Im Gegenzug wurde das betroffene Gebiet verkleinert. 40 Hektar Fläche wurden zerstört, die Deutschen hatten einen weitaus größeren Bereich vorgesehen."

Anne Blanchet ist Stadt-Historikerin. Die so genannte "Razzia von Marseille" lief nach einem exakt ausgearbeiteten Plan ab. Als Vorwand diente der Anschlag einer Widerstandkämpferin auf die deutschen Besatzer während einer Neujahrsfeier.

Das mittelalterliche Korbmacherviertel "Le Panier" wurde komplett eingeschlossen, danach Haus für Haus durchsucht. Am Schluss wurde das gesamte Quartier gesprengt.

Blanchet: "Es gab zwei Phasen. Zunächst die Evakuierungen, dann die Massenverhaftungen. 20.000 Menschen wurden nach Fréjus in der Nähe von Cannes gebracht. Und ungefähr 800 Menschen wurden verhaftet und deportiert. Zunächst nach Drancy bei Paris und von dort in das Vernichtungslager Sobibor. Insgesamt sind während des Zweiten Weltkriegs 2000 Menschen von Marseille aus deportiert worden. Überlebt haben drei oder vier."

Frankreich war von deutschen Truppen im Sommer 1940 überrannt worden. Der Norden wurde besetzt, der Süden, die so genannte "Freie Zone", von der Regierung des Marschalls Pétain verwaltet. Die Vichy-Regierung beschloss von sich aus eine Reihe antijüdischer Gesetze, unter anderem wurde das diskriminierende "Juif" in die Ausweispapiere der Juden gestempelt. Als die Alliierten von Nordafrika aus eine Gegenoffensive vorbereiteten, zogen deutsche Truppen im November 1942 auch in die "zone libre" – und somit auch nach Marseille - ein.

Laurent Védrine: "Während des Zweiten Weltkriegs hatten die Deutschen immer Angst, Marseille könnte ein Brückenkopf für eine Landung der Alliierten werden. In dem Viertel hielten sich viele Widerstandskämpfer gegen die deutsche Besatzung verborgen. Und deshalb übten die Deutschen starken Druck auf die französische Verwaltung aus, dieses Viertel "trockenzulegen". Eine "Säuberung" vorzunehmen - ja, ich glaube, dieser Ausdruck ist gerechtfertigt."

Laurent Védrine leitet das Stadtmuseum von Marseille.

Védrine: "Es war ein Viertel mit schlechtem Ruf. Hier wohnten immer schon viele Immigranten aus Italien und Korsika. Schmale Gassen, kleine Plätze, schlecht zu kontrollieren. Eine Gegend, die geprägt war vom Rotlichtmilieu."

Nach Marseille, lange Zeit der letzte große Hafen in der unbesetzten Zone, strömten Flüchtlinge aus Deutschland und ganz Europa. Anna Seghers hat in ihrem berühmten Roman "Transit" die grauenhaften Monate des Wartens auf rettende Visa für sichere Länder eindrücklich beschrieben. Sanary-sur-mer, der Exilort so vieler deutscher Intellektueller, liegt nur 50 Kilometer entfernt. Von Marseille aus gelang Lion Feuchtwanger die Flucht, Walter Benjamin brach nach Port-Bou auf, wo er sich aus Angst vor Verhaftung das Leben nahm.

Die Sprengung des Hafenviertels, obwohl mitten in der Altstadt gelegen, ist heute kein prägendes Ereignis im Gedächtnis der Marseiller, wie Jean-Pierre Carlon bei den Recherchen zu seinem Dokumentarfilm über die Razzia von Marseille festgestellt hat:

Jean-Pierre Carlon: "Ich habe gemerkt, dass viele Marseiller sich nicht daran erinnern. Es wird oft mit den Bombardierungen durch die Alliierten verwechselt. Selbst Leute, die damals in Marseille wohnten, haben mir gesagt, dass sie nicht wussten, was genau vorging."

Der Film zeigt auch, dass die "Operation Sultan" – so hieß die Säuberungsaktion bei der Gestapo – nicht auf allzu großen Widerstand der französischen Behörden stieß. Zu den wenigen Gebäuden, die von der Sprengung verschont geblieben waren, zählt das historische Rathaus. Und die Maison Diamantée. In diesem Stadtpalais residiert jetzt das Organisationskomitee der Kulturhauptstadt Marseille Provence mit seinem stellvertretenden Leiter Ulrich Fuchs:

Ulrich Fuchs: "Das tragische dieser Geschichte, dass das Maison Diamantée von den Nazis verschont worden ist, ist, dass die Vichy-Administration zum Schutz dieses Hauses der Auslieferung von Juden zugestimmt hat. In der Tat sitzt man da auf einem Boden, der zur Verantwortung nötigt."

Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wurden auf der zerstörten Fläche moderne Apartmenthäuser errichtet. Dokumentarfilmer Carlon:

Carlon: "In der kollektiven Erinnerung steckt die Idee für einen Plan der Vichy-Regierung, der den Abriss des Viertels zugunsten neuer Wohnungen vorsah."

Wie weit die Zerstörung des Panier-Viertels also auch den Interessen der Stadt Marseille und den Immobilien-Spekulanten entgegenkam, ist eine Frage, zu der sich die örtlichen Historiker nur etwas zögerlich äußern. Anne Blanchet:

Blanchet: "Seit den 30er Jahren gab es Pläne, die vorsahen, dieses Viertel neu zu organisieren. Der Historiker Robert Mencherini hier von der Universität Marseille betont jedoch, dass es einen direkten Befehl Hitlers gab, dieses alte Stadtviertel zu vernichten."

Das neue Haus für das Museum der Stadt Marseille, das im Zuge des Kulturhauptstadtjahrs eröffnet wird, widmet sich den Kollaborations-Aspekten jedenfalls nur am Rande. In der geplanten Dauerausstellung soll Marseille vor allem als Hauptstadt der Résistance, also des Widerstands gegen die deutsche Besatzung, gezeigt werden.

Mehr Informationen finden Sie bei dradio.de:

Phönix aus der Asche
Das Kulturhauptstadtjahr hat Marseille einen gewaltigen Innovationsschub verpasst
Euromediterraner Aufbruch
Marseille rüstet sich zur Kulturhauptstadt
Mehr zum Thema