Alltag zwischen Terroranschlägen und Shopping

15.02.2007
Seit seiner Gründung im Jahr 1948 steht der Staat Israel im Dauerkonflikt mit seinen Nachbarn. Die gewalttätigen Auseinandersetzungen prägen zumeist das Bild, das wir uns von den Israelis machen. Seltener erfährt man etwas über die Entwicklung und Heterogenität der israelischen Zivilgesellschaft. Wer sind sie, die Israelis? Die amerikanische Reporterin Donna Rosenthal hat ein Buch geschrieben, in dem sie Land und Leute porträtiert.
Seit seiner Gründung im Jahr 1948 steht der Staat Israel in einem Dauerkonflikt mit seinen arabischen Nachbarn. Die gewalttätigen Auseinandersetzungen prägen zumeist das Bild, das wir uns von den Israelis machen. Auf der einen Seite nehmen wir sie wahr als anonyme Opfer von Terroranschlägen, auf der anderen als martialische Militärmacht. Seltener erfährt man etwas über die Entwicklung und Heterogenität der israelischen Zivilgesellschaft. Wer sind sie, die Israelis? Und gibt es überhaupt den typischen Israeli? Die amerikanische Reporterin Donna Rosenthal hat ein Buch geschrieben, in dem sie Land und Leute porträtiert bei C.H. Beck "Die Israelis", seit heute auf dem Buchmarkt.

1948 wurde der Staat Israel gegründet. Von Beginn an verstand er sich als Einwanderungsland für Juden aus aller Welt. Verschiedene Einwanderungswellen - hebräisch Aliyah, was wörtlich übersetzt "Aufstieg" bedeutet - brachten ein einzigartiges Gemisch von Ethnien und Kulturen hervor. Die israelische Gesellschaft, in ihren Anfängen deutlich osteuropäisch geprägt, ist heute ausgesprochen heterogen, multikulturell und in sich widersprüchlich. "Den" Israeli gibt es nicht.

Donna Rosenthal, amerikanische Reporterin und TV-Produzentin, hat lange Zeit selbst in Israel gelebt und gearbeitet. In ihrem Buch "Die Israelis - Leben in einem außergewöhnlichen Land" stellt sie Menschen vor, deren Lebensweise und Selbstverständnis mitunter so weit auseinander liegen, dass man als einzige Gemeinsamkeit zwischen ihnen nur den Besitz eines israelischen Passes ausmachen kann.

Rosenthal unterteilt ihr Buch in 15 Kapitel. In den ersten porträtiert sie die israelische Gegenwartsgesellschaft und stellt deren bizarre Normalität vor: Alltag zwischen Terroranschlägen und Shopping, Partnersuche, Business-Lunch und religiösen Vorschriften. Insbesondere geht sie auf die Bedeutung der Wehrpflicht ein. Der Militärdienst ist in Israel nach wie vor Reifeprüfung für das Leben, das Verhältnis zwischen Militär und Zivilgesellschaft wohl weltweit einzigartig. Männer wie Frauen leisten einen mehrjährigen Wehrdienst. Die Männer werden danach bis zu ihrem 40. Lebensjahr immer wieder zur Reserve einberufen, sind an Kampfeinsätzen beteiligt, kontrollieren Grenzen und Checkpoints in den von Israel besetzten Gebieten. "Jeder Bürger Israels ist ein Soldat auf elfmonatigem Urlaub pro Jahr." - So definierte der einstige Stabschef Yigal Yadin das Selbstverständnis der 400.000 israelischen Reservisten, die 140.000 Vollzeit-Soldaten unterstützen.

Erfahrungen der Militärzeit prägen auch zivile Strukturen der israelischen Demokratie. Emotionale Bindung an die Streitkräfte wird schon im frühesten Kindesalter verankert, Straßen und Plätze sind nach Kriegen und Kriegshelden benannt. In der Armee werden junge Menschen aus unterschiedlichsten Schichten und Herkunftsländern zur Gemeinschaft, zu verantwortlichem Handeln, Eigeninitiative und Professionalität erzogen. Nicht nur, dass Frauen hier selbstverständlich Männer ausbilden; sie haben sich vor Gericht sogar das Recht erstritten, auch als Kampfpilotinnen zugelassen zu werden. Wer beim Militär erfolgreich ist, hat gute Berufschancen. Die meisten israelischen Ministerpräsidenten waren ehemalige Generäle. Auch der High-Tech-Bereich, der "Kolben, der den Wirtschaftsmotor Israels antreibt", profitiert von Problemlösungen, die ursprünglich in militärischen Zusammenhängen erprobt wurden. Die meisten von denen, die heute an der Spitze der israelischen High-Tech-Branche stehen, dienten zuvor in Eliteeinheiten mit nachrichtendienstlicher Aufgabenstellung. Kreativität, die Verbindung von Gemeinschaftsgefühl und Eigensinn, die Fähigkeit, unkonventionell zu denken, sind "typische" Eigenschaften des "modernen" Israeli - der Computerchips erfindet, in den Mittelmeermetropolen Haifa oder Tel Aviv lebt, bei McDonalds isst und in Asien spirituelle Erleuchtung sucht.

Daneben finden sich zahlreiche Gruppen frommer Israelis, die sich über den Glauben definieren. Es gibt religiöse Israelis, orthodoxe, ultraorthodoxe. Und jede dieser Gruppen ist selbst noch einmal zersplittert, so dass sogar mitunter die Farbe und Größe der Kipa, der Kopfbedeckung, etwas aussagt über Art und Weise, wie ihr Träger die Religion praktiziert.

Donna Rosenthal unterscheidet die Hauptströmungen, macht deren Einfluss auf die israelische Politik deutlich. Und auch das Unbehagen, das Religiöse bei ihren säkularen Landsleuten auslösen. Denn die meisten Israelis wollen sich nicht vorschreiben lassen, welche Gebote sie zu halten haben oder ob sie am Samstag mit dem Auto fahren dürfen.

Wie eine Computertomographie liefert Donna Rosenthals Buch Querschnittsbilder der zahlreichen ethnischen, sozialen, kulturellen Schichten, die in ihrer Gesamtheit das Bild des Israeli ausmachen. Was in der Totalansicht verwirrend bunt, mitunter auch als unverträgliche Mischung erscheint, unterteilt sie fein säuberlich, erhellt historische und tagespolitische Hintergründe, ohne aber den einzelnen Menschen aus dem Blick zu verlieren. Sie gibt Einblicke in sein Seelenleben und in die Widersprüche der israelischen Gesellschaft. Sie erläutert Spannungen zwischen Neueinwanderern und Alteingesessenen, zwischen jüdischen und nichtjüdischen Israelis - allein 1,2 Millionen muslimische Bürger leben im jüdischen Staat Israel. Und durch die russische Einwanderung seit den 90er Jahren hat auch die Zahl derjenigen zugenommen, die lieber Weihnachten anstelle von Chanukka feiern.

Bei der Lektüre des verständlich und informativ geschriebenen Buches wundert man sich hin und wieder, dass bei solch hohem Maß an Disparatem auf engstem Raum der Staat als solcher überhaupt funktioniert. Deutlich wird, dass Israel das eigene Selbstverständnis immer wieder neu definieren muss - und somit Israelisein ein fortwährender Prozess der Veränderung ist.

Rezensiert von Carsten Hueck

Donna Rosenthal: Die Israelis. Leben in einem außergewöhnlichen Land
Aus dem Englischen von Karl-Heinz Siber
C.H. Beck Verlag, München 2007
409 Seiten, 24,90 Euro