Alltag

Behinderte werden zu Trainern

Von Philipp Artelt · 07.12.2013
Die UN-Behindertenrechtskonvention - ein schwer verständliches Machwerk. Im Projekt "Meine Rechte - Meine Stimme" haben Behinderte die komplizierten Richtlinien durchgearbeitet. Ihr Ziel: Sie wollen Mitarbeiter sozialer Einrichtungen für die Rechte Behinderter sensibilisieren. So werden Behinderte zu Trainern für nicht-behinderte Menschen.
- "Guten Tag, was hätten Sie denn gerne?"
- "Ich hätte gerne die Soljanka nach Omas Originalrezept."
- "…"
- "Ja sagen Sie mal, können Sie denn nicht aufpassen? Das ist ein sauteurer Anzug!"
- "Das kann doch mal passieren!"
- "Ich werde mich schriftlich bei Ihrem Chef beschweren. Sind Sie denn wirklich zu blöd dazu?"
- "Hier… hier arbeiten Menschen mit Behinderung…"
- "Das ist mir egal! Ich werde mich trotzdem beschweren!"
Eine Szene aus einem Restaurant, in dem Behinderte arbeiten. Eine Szene, gespielt von Behinderten in den Weißiger Werkstätten bei Dresden. An zusammengeschobenen Tischen sitzt das Publikum: Menschen, die in sozialen Einrichtungen arbeiten, Heilpädagogen, Betreuer. Das Besondere an diesem Lehrgang: Hier sind Behinderte die Dozenten. Spielerisch bringen sie den Nichtbehinderten die UN-Behindertenrechtskonvention nahe.
"…die zweite Situation war jetzt halt, dass auch mal einem Kellner mit Behinderung passieren kann, dass er 'was verschüttet und dass der Gast mit jemand' nicht so umspringen darf. Weil: Man muss alle gleich behandeln. Noch Fragen?"
Ebenfalls im Publikum sitzt ein junger Mann. Klein und stämmig, das freundliche Gesicht mit Vollbart auf die Hand gestützt. Heiko, 32 Jahre, ist lernbehindert. Manchen Dingen kann er nicht so gut folgen wie die meisten von uns, immer wieder braucht er Hilfe, sein Leben zu organisieren. Heiko schaut aufmerksam zu, wie seine Kollegen die Veranstaltung schmeißen. Er ist einer von zwölf Behinderten, die einen Trainer-Lehrgang besucht haben. Sie haben die UN-Behindertenrechtskonvention durchgearbeitet und sich auf die heutige Präsentation vorbereitet.
Heikos großer Moment
Heiko ist nervös, auch wenn er ganz ruhig wirkt. Aber immer, wenn er nervös ist, schnappt seine Hand auf und zu: Hand, Faust, Hand, Faust, Hand, Faust. Zusammen mit Marco soll Heiko die Feedback-Runde leiten. Er schaut noch einmal auf seine Notizen, dann stehen die beiden auf, zerren ein Flipchart heran und beginnen die Auswertung.
- "Hallo, ich bin der Marco"
- "…bin der Heiko…"
Die Seminarteilnehmer bewerten auf der Pinnwand die Veranstaltung. Dann Heikos großer Moment:
Also ich sehe: Den meisten hat es sehr gut gefallen. Und dann möchte ich eben wissen, was Ihnen besonders gut gefallen hat.
Teilnehmerin: "…dass ihr euch Gedanken darüber gemacht habt, was euch stört, was ihr schon erlebt habt. Das fand ich sehr gut."
Heiko: "Was könnte man verbessern?"
Ein paar Fragen, dann hat er es geschafft. Anschließend: Kaffee-Runde. Heiko holt sich ein Stück Kuchen, dann stellt er sich den Fragen der Teilnehmer:
Teilnehmer: "Und Sie sind aber beide hier, in der Werkstatt?"
Heiko: "Also ich bin hier in der Werkstatt, in der Verpackung, und dann eben…"
Die Werkstatt ist im Nachbargebäude. 300 Behinderte stellen hier technische Bauteile für große Firmen her. Auch Heiko arbeitet hier sonst. Er schraubt, schiebt, verpackt, Teile für Bohrmaschinen, für Schweißbrenner und für Autos. Und er engagiert sich im Werkstattrat, vertritt dort die Anliegen der Behinderten und er schlichtet Streit.
Nach dem Lehrgang macht sich Heiko auf den Heimweg. Er wohnt zusammen in mit einem anderen Behinderten in einem normalen Mietshaus, dort wurden ein paar Wohnungen für eine betreute Wohngruppe angemietet. Sein Zimmer: Sportposter an der Wand, Fernseher, Heimtrainer, an dem er seine 130 Kilo abarbeitet. Jetzt sitzt Heiko auf seinem Bett und lässt sich seinen Auftritt heute morgen noch einmal durch den Kopf gehen:
- "Also ich war heute positiv überrascht."
- "Warum?"
- "Na eben schon was denen auch gefallen hat, dass wir uns das zutrauen… Also das war wirklich… genial!"
In dem kleinen Regal neben seinem Fernseher stehen lauter Karl May Bücher. Die liest er gern, sagt er, weil sich am Ende immer alle vertragen.
"Durch das… Karl May… Karl May… am Jenseits… ach, das waren Märchen, und… Artistan und Dschingistan. Warte mal kurz, und das war: Durch Wüste und ..taren. Das habe ich von meinem Onkel gekriegt."
Und dann ist da noch ein blauer Briefkasten - ein Kummerkasten für die Mitglieder der Wohngruppe: Denn nebenbei ist Heiko auch noch Heimbeirat - selbst in seiner Freizeit engagiert er sich.
'Du, Heiko, ich hab ein Problem, können wir mal sprechen?'
Jeden Donnerstag treffen sich Bewohner und Betreuer. Heute moderiert Heiko das Treffen:
- "Wie geht es euch?"
- "…"
- "Was soll es zum Essen geben?"
- "Krokodil."
- "Das kannste dir nicht leisten."
- "Dann eben Schlange."
Die Bewohner der Wohngruppe am Tisch sind bunt zusammengewürfelt. Steve, der einen Internet-Radiosender betreibt, Robert, der Actionfilme mag, Rolf, der Ostberlin hinterhertrauert… Gerade planen sie einen gemeinsamen Ausflug. Heiko versucht, die Diskussion unter Kontrolle zu bringen.
"Kein Gestreite jetzt! Also das heißt: Frühstück vorverlegen…"
Solche Situationen überfordern Heiko leicht. Und trotzdem stellt er sich der Herausforderung immer wieder. Ob im Lehrgang über die Behindertenrechtskonvention, im Werkstattrat oder in der Wohngruppe: Heiko hat Spaß daran, sich für andere Menschen einzusetzen. Warum? Die Antwort darauf bleibt er lange schuldig. Aber dann antwortet er doch, mit einem langen, offenherzigen Satz.
"Also man freut sich, dass andere Vertrauen haben, weil: Sonst kommen sie ja auch nicht aus sich raus. Und da freut man sich, dass sie selber dann sagen, dass sie den Mut haben: 'Du, Heiko, ich hab ein Problem, können wir mal sprechen?'"
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