Allgegenwärtige Fahndungsbilder

13.04.2011
Im Juli 1977 wurde der Bankier Jürgen Ponto auf der Terrasse seiner Villa in Oberursel von Terroristen der "Rote Armee Fraktion" erschossen. Seine Tochter Corinna und die Patentochter Julia Albrecht sprechen über ihren Schmerz und die Schuldgefühle.
Es klingt paradox, aber manche Bücher wecken Beschützerinstinkte. Dies ist so eins, ergreifend, manchmal atemberaubend waghalsig. Ein Buch wie ein rohes Ei: zerbrechlich, von der ersten Idee an vorsichtig angefasst und durch die Jahre seiner Entstehung gebracht von zwei Frauen, die selbst zutiefst verletzt sind. Und zwar durch dieselbe Tat.

Der Mord an Jürgen Ponto war ein Gewaltverbrechen von gespenstischer Nachhaltigkeit. Ein RAF-Mord, historisch bedeutend. Er hat aber auch individuelle Opfer produziert, so wie diese beiden Frauen. Bis zum 30. Juli 1977 sind ihre Familien eng befreundet, die Väter seit Schulzeiten. Ponto macht Karriere als Bankchef, Hans-Christian Albrecht als Rechtsanwalt. Jeder wird Pate einer Tochter des anderen. Es ist vielleicht die grausamste der Folgen dieses Mordes, dass er beide Familien der Chance beraubt, gemeinsam zu trauern und sich aus dem Trauma herauszuhelfen. Denn er basiert auf dem Verrat an eben jenem familiären Vertrauen. Nur damit konnte Susanne Albrecht sich und zwei Killern Zugang zum Haus der Familie Ponto verschaffen.

Das Verbrechen zwängt die eine, Corinna Ponto, in eine Opferrolle, die sie nicht will, die ihr die Sprache verschlägt. Sie flüchtet - weit weg und ins Verdrängen. Der anderen, Julia Albrecht, versperrt es den Blick für ihr Auch-Opfer-Sein, für sie gibt es nur eine Rolle auf der Täterseite: als "Schwester von". Sie nimmt sie an, mit kindlichem Trotz, Schuldgefühlen und Schmerz.

Erst 30 Jahre später springen beide über den dunklen Schatten und fangen an, miteinander zu reden. "Eine Geschichte - zwei Stimmen". Sie tasten sich zaghaft voran, schreiben sich, was die Tat mit ihnen gemacht hat, legen ihre Wunden offen. Julia Albrecht erzählt von ihrer absurden Hoffnung, Susanne sei zu der Tat "gezwungen" worden, vom unseligen Ethos, sie trotz allem "nie fallenzulassen", von der Einsamkeit zwischen lautem Schweigen und allgegenwärtigem Fahndungsbildern, der irren Freude, die geliebte Schwester wiederzusehen, als 1990 die RAF-Enklave in der DDR auffliegt, und dem Horror, als sie erkennt, dass ihre Schwester sie völlig vergessen hat. Noch ein Verrat. Haarklein legt sie ihre widersprüchlichen Haltungen dar, die Suche nach dem Warum.

Corinna Ponto erzählt vom liberalen, musischen Geist des Elternhauses, die Mutter stammt aus der Familie von Moltke, der Vater fördert Kunst. 1977 flüchtet sie in die USA, um wieder Luft zu kriegen, um nicht verrückt zu werden von Medien-Mythen, heuchelnden Politikern und unbefriedigenden Ermittlungen. In der Distanz hält sie jahrelang den Deckel über den schmerzhaften Details zu und zieht gleichzeitig die Perspektive auf, ordnet den deutschen Terrorismus ein in die Ost-West-Teilung, präpariert das Furchtbar-Deutsche an RAF & Co heraus. Ahnt, nach monatelangem Graben in Stasi-Akten, dass wir das meiste von diesem Stück Geschichte noch gar nicht wissen, riskiert, sich lächerlich zu machen mit öffentlichem Protest.

Es hat drei Jahre gebraucht, dieses Buch gemeinsam zu schreiben. Und unerhörten Mut. Aber es ist nicht nur so zerbrechlich wie das sprichwörtliche rohe Ei, sondern auch so nahrhaft - für den weiteren geistigen Stoffwechsel eines noch immer unverdauten Kapitels unserer jüngeren Geschichte.

Besprochen von Pieke Biermann

Julia Albrecht, Corinna Ponto: Patentöchter. Im Schatten der RAF - Ein Dialog
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011
216 Seiten, 18,95 Euro
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