Alles frei erfunden?

Von Annegret Faber · 04.05.2013
Schon vor dem Kinostart sorgt der Tierfilm "Schimpansen" für reichlich Streit. Die Disney-Produktion zeige eine konstruierte Geschichte, heißt es in einem Bericht. Ganz egal, meint dagegen unsere Kritikerin: Denn dem Kinobesucher wird eine Welt offenbart, zu der er sonst niemals Zugang gefunden hätte.
Westafrika, der Taï-Nationalpark, unweit der Grenze zu Liberia, mitten im tropischen Regenwald. Das Camp der Max-Planck-Forscher. Seit mehr als 30 Jahren erforschen hier Wissenschaftler um den Schweizer Primatenforscher Christophe Boesch eine Schimpansengruppe von 35 Tieren. Über einen Zeitraum von zweieinhalb Jahren war immer wieder ein Kamerateam vor Ort, um das Leben der Menschenaffen zu filmen. Aus diesem Material wurde der jetzt anlaufende Disneyfilm "Schimpansen" gemacht.

Trailer: Disney zeigt die unglaubliche und wahre Geschichte eines Waisen und desjenigen, der es wie sein eigenes Kind annehmen wird. Einzigartige Bilder einer Beziehung, die ihr Herz berühren wird.

"Für mich als Feldforscher, der jahrelang diesen Tieren gefolgt ist im Wald, war es schon erstaunlich zu sehen, wie nah man an diese Tiere kommt, mit diesem Film, mit dieser Kamera, wie tief man in diese Augen schauen kann, und das ist schon etwas Besonderes, dass nur durch diesen Film möglich ist."

Christophe Boesch möchte mehr Aufmerksamkeit für wild lebende Schimpansen. Mit einer Disney-Produktion sollte das gelingen. Der Regisseur des Films ist ein alter Freund. Ihn unterstützte der Primatenforscher schon bei mehreren Dokumentarfilme für die BBC. Inhaltlich hatte er also keine Bedenken, und die Geschichte ergab sich aus den Bildern, die im Urwald gefilmt wurden.

"Was besonders während des Drehs war, war diese Adoption zwischen Freddy und Oskar, wo das Männchen unglaublich viel in dieses Kind investiert hat. Er hat ihn tagelang, stundenlang auf dem Rücken getragen. Das hatte ich vorher so nicht gesehen. Er hat auch nachts sein Nest mit dem Kleinen geteilt und das war in der Tat etwas Besonders."

Zeigt der Film das wahre Leben der Schimpansen?
Der Schimpansenjunge wurde Oskar genannt und zum Hauptdarsteller des Films. Die Geschichte bekam einen roten Faden. Wie und warum er seine Mutter verlor, wird, ohne dass die Zuschauer es mitbekommen, mit Bildern anderer Schimpansen erzählt. Ganz im Disneystil sehr ergreifend mit überwältigenden Bildern. Es stellt sich natürlich die Frage: Zeigt der Film das wahre Leben der Schimpansen?

"Es ist ein Disney-Ausschnitt von dieser Schimpansengruppe. Was gezeigt wird, ist wahr im Sinne, es ist repräsentiert. Es ist das, was wir kennen von diesen Schimpansen. Es gibt einige Aspekte, die für Disney nicht in so einen Film gepasst haben , die aber für Schimpansen sehr wichtig sind, zum Beispiel. In diesem Film gibt es keinen Sex."

Auch Gewalt bleibt außen vor. Der Tod der Mutter wird nur angedeutet. Ein Leopard schleicht durch den Urwald – im realen Leben dieser Schimpansengruppe sind Leoparden tatsächlich eine große Bedrohung.

"…und die Leoparden attackieren die Schimpansen und als Reaktion haben die Schimpansen eine sehr hohe Solidarität innerhalb der Gruppe entwickelt."

Das Sozialverhalten dieser Schimpansengruppe in Westafrika ist durch die Bedrohung durch die Leoparden besonders stark ausgeprägt. Das könnte eine Erklärung sein, warum Oskar von einem ranghohen, männlichen Tier adoptiert wurde, sagt Christoph Boesch. Also alles real?

Tobias Deschner ist Primatenforscher am Max Planck Institut in Leipzig. Seit 15 Jahren reist er regelmäßig in den Taï-Nationalpark, um dort die Tiere zu beobachten.

"Da ist ein Niveau erreicht wurden, das so bisher nicht erreicht worden ist. Nämlich alle Verhaltensweisen, die diese Tiere in dem Film zeigen, sind wirklich Verhaltensweisen, die wir bei wild lebenden Schimpansen sehen. Es wurde nicht in einer Szene versucht, Einfluss auf das Verhalten dieses Tieres zu nehmen, und so spiegelt der Film wirklich das reale Leben von wild lebenden Schimpansen wider."

Um die Tiere nicht zu beeinflussen und um Krankheiten zu vermeiden, dürfen die Wissenschaftler und auch die Kameramänner nicht näher als sieben Meter an sie heran. Doch das war offenbar für die Kamera nahe genug, um Details zu offenbaren, die es so noch nicht zu sehen gab.

"Da gab es eine Szene, die ist auch im Film zu sehen, wo sich einer dieser kleineren jüngeren Schimpansen beim Nussknacken auf den Zeh haut mit dem Hammer, und wir haben das gefilmt und sahen nur, wie dieser Schimpanse irgendwann frustriert den Stein wegwirft und wegläuft und konnten uns nicht vorstellen, was da passiert ist. Dann haben wir die Szene gleich vor Ort zurückgespult und in Zeitlupe noch mal angeschaut und konnten dann sehen, der haut sich ja tatsächlich auf den Zeh. Vorher hatte ich da noch nicht drauf geachtet, hatte auch nie damit gerechnet, dass die sich so oft auf einen Finger oder einen Zeh hauen."

"Wir wollten keinen wissenschaftlichen Film machen"
Der Vorwurf, der Film zeige eine konstruierte Geschichte, scheint unlogisch. Das Leben eines Schimpansenjungen bis zum fünften Jahr zu zeigen, würde jedes Kamerateam vor eine unlösbare Aufgabe stellen. Das wahre Leben der Tiere ist nicht planbar, sagt Tobias Deschner. Um eine Geschichte zu erzählen, sei es also zwangsläufig gewesen, Bilder zu konstruieren. Und daraus haben die Wissenschaftler nie ein Geheimnis gemacht.

"Es gibt ein Buch zum Film, da sind die meisten von diesen Sachen erklärt. Es gibt eine Webpage von der MPG, da steht auch alles drin. Jeder Journalist, der sich seit Langen informieren wollte, der konnte das schon lange machen. Das heißt, so eine Skandalgeschichte zu machen und zu sagen, wir machen eine Enthüllung, dass alles nicht so gelaufen ist, ist Quatsch. Dieser Journalist hat seine Arbeit nicht gemacht, sonst hätte er das gewusst."

Eine gestellte Geschichte ist also nicht verwunderlich. Allerdings wird der wissenschaftliche Pfad an einigen Stellen komplett verlassen. Schon im Kino-Trailer, wo es heißt, sie leben wie wir, sie lieben wie wir.

Bösch: "Wir wollten keinen wissenschaftlichen Film machen. Wir wollten einen Film machen, der dem Publikum zeigt, was wir durch diese 30 Jahre Forschung von die Schimpansen kennen - und da eben auch eine Geschichte erzählen."

So bleibt der Film ein Aufruf, sich mehr für wild lebende Schimpansen zu interessieren. Und dem Kinobesucher wird eine Welt offenbar, zu der er sonst niemals Zugang gefunden hätte.
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