Alle sind vom Tod infiziert

Von Bernhard Doppler · 13.06.2012
Kein kleines sozialkritisches Kammerstück aus dem Lokalgericht, sondern ein großes Bühnenwerk ist "Glaube Liebe Hoffnung" - ein Totentanz, vielleicht sogar Horváths gewichtigstes Werk. Christoph Marthaler hat ihm in Wien eine solche Bedeutung wiedergegeben.
Zur für Januar 1933 vorgesehenen Uraufführung am Deutschen Theater Berlin ist es nicht mehr gekommen, nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten erschien dem Theater ein Stück Ödön von Horváths nicht mehr opportun. Mehrere Szenenentwürfe existierten freilich und 1936 fand dann doch noch, auf einer winzigen Bühne in Österreich allerdings, die Uraufführung statt: "Glaube Liebe Hoffnung" geht auf einen Gerichtsfall zurück, einer in die Fänge von Arbeitsbestimmungen, selbstmitleidiger Männer und schließlich der Justiz geratenen, arbeitslos gewordenen jungen Frau. Sie begeht Selbstmord. Der Münchner Lokalreporter, durch den Horváth auf den Fall aufmerksam gemacht wurde, wird ausdrücklich als Mitautor genannt: "gemeinsam mit Herrn Lukas Kristel verfasstes Volksstück".

Dennoch ist es kein kleines sozialkritisches Kammerstück aus dem Lokalgericht, sondern ein großes Bühnenwerk: ein "Totentanz", wie Horváth sein Stück auch genannt hatte, vielleicht sogar Horváths gewichtigstes Werk. Christoph Marthaler hat ihm jedenfalls eine solche Bedeutung wiedergegeben, wohl auch schon allein dadurch, dass die Aufführung sich auf vier Stunden ausweitet.

Die dramaturgischen Konzepte von Marthaler und Horváth sind ja verblüffend nahe: Beide sind Theatermusiker! Das Geschehen auf der Bühne mit Musik zu grundieren, in Chorgesang oder sentimentale Musik zu überführen, findet sich ja nicht nur in Marthalers Inszenierungen, sondern bestimmt auch die peniblen Regieanweisungen Horvaths, die Texte sind geradezu Partituren, Szenen etwa, die immer wieder durch die Anweisung "Stille" innezuhalten scheinen. In "Glaube Liebe Hoffnung" ist es bei Horváth vor allem Chopins "Trauermarsch" und das Lied "Ich hatte einen Kameraden", und Marthaler erweitertet dies durch Bach, Alban Berg und vor allem Lehars "Lachendes Glück". Ja, es gibt sogar ein Orchester - aus dem Jenseits gewissermaßen -, das zwar ein Dirigent leitet, doch auf den Stühlen sitzen keine Musiker, sondern darauf sind Lautsprecher montiert, aus denen verzerrt oder in Tonpartikeln die Musik kommt.

Wenn die Heldin des Stücks, Elisabeth, versucht, im Anatomischen Institut ihre zukünftige Leiche für die Wissenschaft zu verkaufen, um zu Geld und legaler Arbeit zu kommen, ist das Thema vorgegeben. Alle Personen sind vom Tod infiziert. Wie Anna in den "Sieben Todsünden" bei Brecht/Weill ist nun auch bei Marthaler Elisabeth verdoppelt, manche Szenen werden zwei Mal gespielt. Manchmal sieht die eine Elisabeth der anderen zu. Sie ist die einzige wohl, die ohne Sentimentalität ihre Lage, diagnostiziert, während alle anderen im Jargon und Selbstmitleid, falschem Pathos und Angst "bestialisch" handeln. Ihr Bildungsjargon, ihre Sentimentalität werden ausgestellt, aber nirgendwo denunziert, der Wunsch nach "lachendem Glück". Auch das eine der Gemeinsamkeiten von Marthaler und Horváth: "niemals Juxspiegelbilder", niemals "Parodistisches".

Hinter Vorhängen nur schemenhaft erkennbar drei Schaufensterpuppen in Unterwäsche, wohl den Leichen des Anatomischen Instituts vergleichbar, von dem "Glaube Liebe Hoffnung" seinen Ausgang nimmt: Im Bühnenaufbau von Anna Viebrock mit seinen hölzernen Wänden und Täfelungen, Bürotischen und ausziehbaren Betten, mit seinen Glastüren, wird die Geschichte nicht nachgespielt, sondern erzählt und immer wieder in Musik und Gesang, in Lachgeräusche oder in verzögerte, genau choreografierte Bewegungen aufgelöst.

Marthaler kann dabei auf sein bewährtes, auch schon alt gewordenes Ensemble zurückgreifen. Ueli Jäggi, der den 24-jährigen Polizisten Alfons spielt, dem dann doch seine Karriere wichtiger als die Liebe ist. Und vor allem das Ehepaar - Amtsgerichtsrat und Gattin, Josef Ostendorf und Irm Hermann. Den Tauben fütternden Präparator und später Oberpräparator gibt Jean-Pierre Cornu. Doch alle brechen sich an der klaren unsentimentalen Bestimmtheit der beiden Elisabeths - Olivia Grigolli und Sasha Rau. Kein Schrei, kein Flüstern oder Wegbrechen der Stimme, kein erstickendes Lachen, das nicht genau komponiert und choreografiert wäre. Und im Pianisten Clemens Sienknecht hat Marthaler eine aufregenden Begleiter. Auch wenn zu Glaube und Liebe auch noch einige Texte - ausschließlich von Horváth - hinzugefügt worden sind, hier scheint die in der Regel unsinnige Bezeichnung einer "werktreuen" Aufführung zuzutreffen. Viel Applaus!