Alfred Grosser über Günter Grass

Als moralisches Gewissen "fragwürdig"

Der Literaturnobelpreisträger Günter Grass liest am 21.11.2013 in Lübeck (Schleswig-Holstein) bei der Eröffnung der Sonderausstellung zum 50-jährigen Jubiläum seines Romans "Hundejahre" aus diesem Text.
Der Literaturnobelpreisträger Günter Grass bei einer Lesung in Lübeck bei der Eröffnung der Sonderausstellung zum 50-jährigen Jubiläum seines Romans "Hundejahre" © picture alliance / dpa / Markus Scholz
14.04.2015
Der deutsch-französische Publizist Alfred Grosser beurteilt den verstorbenen Autor Günter Grass zwiespältig. Positiv sei Grass' politisches Engagement gewesen, seine häufig erhobene kollektive Selbstanklage der Deutschen hält Grosser jedoch für übertrieben.
Der deutsch-französische Publizist Alfred Grosser kritisiert, dass Günter Grass mit Blick auf den Nationalsozialismus stets von einer Kollektivschuld der Deutschen gesprochen habe. Dabei seien "Tausende von Deutschen" auch in Konzentrationslagern gewesen: "Dieses Deutschland - von dem hat Grass nie gesprochen."
Dass der Autor zudem jahrzehntelang seine Mitgliedschaft bei der Waffen-SS verschwieg, habe er, Grosser, als "skandalös" empfunden - zumal Grass selbst Vorwürfe gegen andere erhoben habe. Die lange gepflegte Sicht auf Günter Grass als "moralisches Gewissen der Bundesrepublik" nennt Grosser "sehr fragwürdig".
"Die Blechtrommel" wird bleiben
Vom Werk des verstorbenen Schriftstellers wird nach Meinung Grossers vor allem "Die Blechtrommel" bleiben. Der Publizist würdigte Grass auch als vielbegabten Zeichner und Bildhauer. Zudem habe er "viel getan", um Willy Brandt zu unterstützen.
Der Publizist Alfred Grosser
Der Publizist Alfred Grosser© Deutschlandradio.de / Nils Heider
Auch Grass' kritische Haltung gegenüber der Politik Israels hob Grosser positiv hervor: "Ich gehöre auch zu denen, die wie Günter Grass des Antisemitismus beschuldigt werden, weil man Israels Politik hart kritisiert."

Das vollständige Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Kulturstaatsministerin Monika Grütters hat den gestern verstorbenen Schriftsteller Günter Grass als einzigartigen Redner, Essayisten und großen Geschichtenerzähler bezeichnet, aber auch als streitbaren, lauten und belehrenden Zeitgenossen, der manche Interpretation gefunden habe, die für seine Leser wie Kritiker nur schwer auszuhalten gewesen sei. Man merkt also selbst hier: Man muss Grass nicht unbedingt mögen, dazu ist man ja nicht verpflichtet in einer freien Gesellschaft, aber man kommt, wenn man auch nur Teile des 20. Jahrhunderts als bewusster Mensch in Europa erlebt hat, an dieser Figur nicht vorbei.
Das gilt sicherlich auch für den deutsch-französischen Publizisten, Soziologen und Politikwissenschaftler Alfred Grosser, der jetzt in Paris am Telefon ist. Guten Morgen, Herr Grosser!
Alfred Grosser: Guten Morgen!
Kassel: Als was bleibt Ihnen Günter Grass in Erinnerung - als großer Dichter, als politischer Intellektueller oder eher als durchaus ambivalente Figur der Zeitgeschichte?
Grosser: Na, zuerst einmal als Grafiker, Zeichner, Bildhauer. Das soll nicht vergessen werden: Er war nicht nur Schriftsteller, er war auch vielbegabt und seine Zeichnungen und Grafiken sind wunderbar. Das ist das Erste. Das Zweite ist: Mit seinen Romanen habe ich mich nie richtig durchgeschlagen, natürlich am Anfang mit der "Blechtrommel", aber den "Butt" oder "Die Rättin" habe ich nie zu Ende lesen können, das war zu lang.
Kassel: Zu lang, Herr Grosser, oder zu langweilig?
Grosser: Beides. Aber für mich war das Wichtige dabei dann mal, er sagte ja ständig, er sei nicht Schriftsteller in der Politik, er sei Bürger - und dann Verschiedenes: Zuerst einmal war es sehr schön, ich hatte die Ehre und die Freude, im Kanzlerbunker zu sein, als da 72 kam. Brandt und Rut, damals noch seine Frau, lagen sich mit Tränen in den Augen ... Und wirklich, Grass hatte viel getan, um Willy Brandt zu unterstützen. Das war das Positive.
Positiv war auch in meinen Augen Israel, und ich gehöre auch zu denen, wie Günter Grass, die des Antisemitismus beschuldigt werden, weil man Israels Politik hart kritisiert. Und das ist ihm auch schlecht geworden, es ist viel angegriffen worden und ich stand da sehr auf seiner Seite. Das ist das eine.
Das andere ist aber was ganz anderes. Er sagte ständig, er sei ein Bürger - und da gibt es große Mängel. Der erste Mangel ist, glaube ich, der Schlimmste, es ist nicht seine persönliche Geschichte, sondern die Art, wie er sagt, die Deutschen, die Deutschen, und sie seien alle mitschuldig und das deutsche Volk hat mitgemacht. Ich habe auch mitgemacht - aber das war das deutsche Volk.
Ich war vor einigen Wochen in Buchenwald, jetzt ist Buchenwald gefeiert worden, die Befreiung. Abertausende von Deutschen waren ab 1937 im Konzentrationslager, Kurt Schumacher war ab 33 im Konzentrationslager - dieses Deutschland, von dem hat eigentlich Grass nie gesprochen. Und ich mache ihm das zum Vorwurf. Ständig waren es wir Deutschen, als seien alle Deutschen dieselben gewesen.
Kassel: Hat sich diese Bewertung von Grass' Haltung für Sie dann 2006 auch noch mal verändert, als er zugegeben hat, damals das erste Mal bei der Waffen-SS gewesen zu sein als junger Mann?
Grosser: Genau, und das ist also der größte Vorwurf. Wenn er immer geschwiegen hätte zu solchen Themen, wäre es nicht so schlimm gewesen. Aber er hat Kohl angegriffen wegen Bitburg. Ich darf erinnern: In Bitburg waren viele Militärgräber von allen Ländern. Kohl und Reagan waren dort. Da gab es auch Gräber von Waffen-SS, und da sah ich in Frankreich, sah ich in Deutschland ununterbrochen: Waffen-SS war nicht die SS. 900.000 junge Deutsche waren zwangsverpflichtet bei der Waffen-SS, übrigens waren es da Freiwillige.
Und er hätte sagen sollen, hier könnte ich auch ruhen in einem dieser Gräber, und hat gesagt: Es ist eine Schande, dass Kohl und Reagan da gewesen sind. Und dass dann rauskam, dass er selbst bei der Waffen-SS gewesen war, fand ich das skandalös und er sagte ja, bis jetzt habe ich das verheimlichen müssen, denn ich wurde mit mir selbst nicht fertig.
Kassel: Wie sehr entwertet das auch sein schriftstellerisches Werk? Andreas Platthaus, Feuilletonist bei der "FAZ", hat in diesem Zusammenhang jetzt wieder, nach seinem Tod, gesagt, dass auch das schriftstellerische Werk von Günter Grass deutlich relativiert werden muss aufgrund dessen, was er 2006 erstmals zugegeben hat. Bleiben wir wirklich in diesem schriftstellerischen Werk.
Bei Grass ist sein Waffen-SS-Dabeisein nicht mit seinen Büchern verbunden
Grosser: Nein, also das würde ich nicht sagen. Also ich würde sagen, bei Heidegger ist ein Antisemitismus auch mit seiner Philosophie verbunden, bei Grass ist sein Waffen-SS-Dabeisein nicht verbunden mit seinen Büchern.
Kassel: Aber als das - er hat sich selber nie so bezeichnet, aber er ist so bezeichnet worden -, als das moralische Gewissen der Bundesrepublik ist er natürlich dadurch fragwürdig.
Grosser: Sehr fragwürdig, und ich würde sagen, das ist auch nie so gewesen, denn es war immer die kollektive Selbstanklage. Und am Anfang war die wunderbare Definition von Theodor Heuss, keine Kollektivschuld, sondern Kollektivscham. Er sprach ungefähr, als gäbe es eine kollektive Verantwortung, die noch nicht mal in Nürnberg, also beim Prozess, festgestellt wurde. Und meine ganze Arbeit auf deutsch-französischem Gebiet war immer, zu sagen: Es gibt keine Kollektivschuld - und vor allem, wenn ich daran denke, wie viele meiner Freunde zusammen waren im KZ Buchenwald zum Beispiel, zusammen mit Deutschen, die ab 37 dort waren.
Kassel: Günter Grass hat sich natürlich auch so selbst nie gesehen, sogar ausdrücklich gesagt, er möchte so nicht genannt werden, aber er ist für viele so etwas wie der deutsche Nationalschriftsteller des 20. Jahrhunderts. Können Sie mit so einem Begriff was anfangen, Herr Grosser?
Günter Grass (M) am 25.04.1969 während einer Diskussion auf der Mitgliederversammlung des deutschen PEN-Zentrums in Mannheim.
Günter Grass (M) am 25.04.1969 während einer Diskussion auf der Mitgliederversammlung des deutschen PEN-Zentrums in Mannheim. © dpa / picture alliance / Roland Witschel
Grosser: Nein, ich glaube nicht, dass es so Nationalschriftsteller gibt. Ich fand es auch furchtbar bei Thomas Mann. Und Günter Grass war weniger eitel als Thomas Mann. Aber es gibt keine Nationalschriftsteller, und das sollte es auch nicht geben, und auch bei Goethe könnte man sehr viele Mängel entdecken. Ich vergleiche ihn nicht mit Goethe, aber dass Goethe Mängel hatte, das wird auch nicht genügend gesagt.
Kassel: Na, wenn Sie selber sagen, ich vergleiche ihn nicht mit Goethe - Monika Grütter, die Kulturstaatsministerin, hat das indirekt getan, indem sie sagte: Er wird in der Geschichte neben Goethe stehen. Das ist also übertrieben?
Grosser: Oh Gott. Warum, weil Goethe Antisemit war?
Kassel: Ich glaube, sie meinte dann doch eher die schriftstellerischen Werke da in ihrer Qualität.
Grosser: Ja, ich glaube auch, ja, obwohl die armen Kinder, die jahrelang haben Goethes "Hermann und Dorothea" haben lernen müssen. Goethe konnte auch furchtbar langweilig sein, und das konnte Grass auch.
Kassel: Da ist der Vergleich wieder da. Warten wir ab, ob man in 100 Jahren noch den "Butt" in der Schule lesen muss. Aber Herr Grosser, eine Frage geht mir durch den Kopf bei der Figur Günter Grass, das haben wir ja auch beide besprochen, Schriftsteller, Bildhauer, Grafiker, aber eben auch politischer Intellektueller in Deutschland, in Europa: Mit dem Tod von Günter Grass - haben Sie den Eindruck, diese Figur des politischen Intellektuellen, politischen Künstlers, zumindest in Deutschland, stirbt aus?
Grosser: Ja, also bei uns gibt es den leider immer noch, denn manche maßen sich da an und sind besonders furchtbar, ich erinnere an Bernard-Henri Lévy, der eine furchtbare Figur ist, und in Deutschland hat sich das etwas zu sehr beruhigt. Das heißt, in der ganzen deutschen Diskussion sehe ich wirklich wenige große Intellektuelle, die, sagen wir mal, wegweisend sind auf dem Gebiet der Politik.
Kassel: Liegt das an den Intellektuellen, an den Künstlern, oder auch an der Gesellschaft, die Künstler nicht mehr so wichtig nimmt?
Grosser: Ich glaube, es liegt auch weitgehend an der Gesellschaft. Man will ruhig bleiben, man will ruhige Politik haben, und wenn es nicht ruhig ist, dann wird man eben brutal, und man will auch keine Intellektuellen haben, die einem das Gegenteil sagen von dem, was man rausposaunt.
Kassel: Lassen wir mal unsere Phantasie spielen, Herr Grosser, stellen wir uns vor, wir könnten in 100 Jahren noch mal miteinander reden: Was wird dann noch von Günter Grass geblieben sein?
Grosser: Also ich bin Politologe, das ist jemand, der nachher erklärt, wieso man hätte voraussehen können.
Kassel: Kein Wissenschaftler will ja in die Zukunft gucken, also außer den Zukunftswissenschaftlern.
Kaum Leute, die "Butt" oder "Rättin" zu Ende gelesen haben
Grosser: Ich weiß nicht. Also ich habe bis jetzt noch kaum Leute getroffen, die "Butt" oder "Rättin" zu Ende gelesen haben. Und ich glaube, es bleibt "Die Blechtrommel". Gestern Abend gab es bei ARD ein sehr, sehr schönes Interview von Volker Schlöndorf über den Film und über seine Freundschaft mit Grass, das war ein großer Moment, "Die Blechtrommel", allerdings auch wieder mit "die Deutschen". Und wenn man "Die Blechtrommel" noch mal liest oder sieht, ist das auch wirklich eine kollektive Selbstanklage, die übertrieben ist.
Kassel: Wo Sie bei einigen Büchern das schon zugegeben haben, gebe ich jetzt zu, dass das Grass-Buch, an dem ich völlig gescheitert bin, das Buch "Ein weites Feld" war. Haben Sie es damit überhaupt noch versucht, Mitte der 90er?
Grosser: Moment, ich habe die Frage nicht gehört.
Kassel: Das Buch von Grass "Ein weites Feld", darüber wurde damals viel diskutiert, Mitte der 90er erschienen - das ist das Buch, bei dem ich dann spätestens gescheitert bin, das habe ich nicht zu Ende gelesen. Haben Sie es mit dem Roman überhaupt noch versucht?
Grosser: Ja, doch, ich habe versucht, also "Die Blechtrommel" habe ich nicht zu Ende gelesen, aber das war 1961, das ist lange her. Einer meiner Träume ist, dass ich auch mal ein dickes Buch schreibe, das niemand lesen braucht, aber das alle kaufen.
Kassel: Das lassen wir doch mal als Schlusswort so stehen. Alfred Grosser war das, deutsch-französischer Publizist, über Günter Grass und seine Rolle in Deutschland und Europa. Herr Grosser, ich danke Ihnen und wünsche Ihnen einen wunderschönen Tag!
Grosser: Vielen Dank, auf Wiederhören!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema